Kapitel 1
Er ist verzweifelt,
glaubt alles verloren
Auf dem Weinblütenfest, auf dem Weinblütenfest,
dem Weinblütenfest von Baleh
Die schöne Tarlil
wird ihn nicht erhören
Auf dem Weinblütenfest von Baleh.
Er nimmt ihre Hand,
da fühlt sie seine Not
Auf dem Weinblütenfest, auf dem Weinblütenfest,
dem Weinblütenfest von Baleh
Oh glaubt mir doch,
es geht um Leben und Tod
Auf dem Weinblütenfest von Baleh
(aus: Die Weinjungfrau, von Arkina von Baleh, Jahr 391 nach der Landung) ‚Ich aber sage euch, fürchtet die Jenseitigen nicht. Ihr möget gleichsam die Berge fürchten oder die weite See. Sie haben keinen Teil an eurem Leben, so wie ihr keinen Teil an ihrem Dasein habt. Und so ihr sie bekämpfen wollt, kämpft ihr nur gegen euch selbst…’ (aus: Nakurs Abschiedsrede vor der Versammlung der Clans und Ältestenräte am dritten Neumondstag von Bals Jahrviertel, im Jahr 3 nach der Landung) Kapitel 1
Im Jahr 399 nach der Landung, am Neumondstag des dritten Monds in Anns Jahrviertel Wenn man auf den Antritt einer Strafmaßnahme wartet, die darin besteht, fünf Stunden an einen Pfahl gekettet zu stehen, sollte man die Zeit am besten sitzend oder liegend verbringen. Das hatte ich mir auch so vorgenommen, aber nicht damit gerechnet, dass es so lange dauern würde, bis ich an die Reihe kam. Nach vier Stunden hielt ich es nicht mehr aus und begann im Vorraum des Wachhauses auf und ab zu gehen, soweit der Raum es zuließ. Er maß etwa fünfundzwanzig Schritte in der Länge und zwölf in der Breite und war mit ein paar Bänken für Wartende und einem Tisch in einer Ecke leider äußerst kahl gehalten. Nur an der Wand gegenüber der Eingangstür war wie in jedem öffentlichen Gebäude von Baleh ein großes Fresko angebracht, das unser Inselland mit allen sechzehn Clanreichen des Nohkran darstellte, ansonsten gab es keine Bilder oder andere Verzierungen. Irgendwann konnte ich dem Fresko mit den Symbolen der vier Gottheiten Bal, Ann, Yl und Wyr in den Ecken und den rundherum angeordneten Clanwappen – das von Baleh natürlich oben in der Mitte hervorgehoben – nichts mehr abgewinnen. Die Fenster waren mit Tüchern vor der Hitze und den Blicken der Passanten zugehängt. Es gab niemanden, mit dem ich mich unterhalten konnte, der letzte Prangersträfling außer mir, der noch auf seinen Strafantritt wartete, schnarchte friedlich auf einer der Bänke, nachdem er seinen Leidensgenossen am Morgen mit stundenlangen Nörgeln und Jammern das Warten versauert hatte.
Schließlich wurde mir so langweilig, dass ich am halboffenen Fenster zum Markt stehen blieb, um wenigstens etwas von den Gesprächen der Passanten aufzuschnappen. Und auch prompt meinen Namen hörte. Die beiden Frauen standen nicht weit vom Gebäude entfernt, vermutlich im kühlen Schatten der Platane vor der Eingangstreppe des Wachhauses.
„… unbedingt hier bleiben? Mir ist so heiß, ich will jetzt nach Hause.“
„Nur noch ein bisschen. Bis sie sie raus bringen. Ich will das sehen.“
„Ich glaube es sowieso nicht. Das machen die doch nie. Und wenn, dann wäre sie doch schon längst drangekommen, oder?“
„Dass sie als Letzte dran kommt, war doch klar. Damit dann nicht mehr so viele auf sie warten. Wenn du mich fragst, haben die das bei der Verlosung absichtlich so eingerichtet.“
(Zu diesem Schluss war ich mittlerweile auch gekommen)
„Aber ich glaube einfach nicht, dass sie es wirklich macht. Oder dass die Königin das zulässt.“
„Ich schon. Sie kommt jetzt, wenn die nächste Stunde anfängt. Du wirst schon sehen.“
„Aber das kann doch nicht sein, eine Tarlil auf dem Pranger! Das geht doch nicht. Das hat es doch noch nie gegeben. Die lassen das doch nicht zu.“
„Warum denn nicht? Das Gesetz gilt für alle, auch für die Tarlenel. Wer eine Prüfung nicht besteht, ist selbst schuld. Warum sollte die Königin es verbieten? Was ist denn auch dabei? So ein bisschen stehen -“
„Aber ... schadet das nicht dem Königshaus, oder was? Seinem Ansehen?“
„Schaden? Dem Königshaus nicht. Tarlil Barys wird es schaden, wenn sie versucht, sich um die Strafe zu drücken. Das kann sie nicht. Sie soll ja ein bisschen verrückt sein -“
(Oh Bal, glaubten die das denn immer noch?)
„- ich meine, wirklich, sie ist jetzt was, dreißig? Na gut, neunundzwanzig, und immer noch nicht verheiratet, und keine Kinder. Das ist doch keine Art für eine Tarlil. Und jetzt dieses Traummagiestudium – typisch, das ist eben nichts für Tarlenel. Sie will sich nur wichtig machen, das ist es nämlich. Das sollte die Königin verbieten. Kein Wunder, dass sie versagt hat. Vielleicht bringt der Pranger sie ja zur Besinnung. Schön wär’s ja.“
„Aber Kerlil Mona selbst war einmal bei den Traummagiern in Nakuren. Meine Großtante hat mir das erzählt.“
„Aber sie ist nicht da geblieben! Sie wollten sie ja dabehalten, aber sie hätte das nicht gemacht, auch wenn sie nicht gewählt worden wäre. Niemand, der eine Clangabe besitzt, sollte Traummagie betreiben, sie wusste, dass das viel zu gefährlich ist.“
Ich ertappte mich bei dem Versuch mir vorzustellen, wie die beiden unter dem Fenster aussehen mochten. Die erste Sprecherin klang noch sehr jung und etwas atemlos, als könne sie kaum mit dem Leben mithalten. Die Zweite musste entschieden älter sein, sie hörte sich selbstbewusst und ziemlich engstirnig an, und so eingebildet, dass ich ernsthaft versucht war, den Fensterladen aufzureißen und ihr gehörig die Meinung zu sagen. Nur würde es mich leider noch mehr bloßstellen als sie und obendrein den Nachrichtensängern zusätzlichen Stoff für die neuesten Berichte über die „verrückte Tarlil von Baleh“ liefern, als ob die Prangerstrafe noch nicht ausreichte. Ich fragte mich, was diese eingebildete Zicke für ein Gewerbe treiben mochte, dass sie soviel und doch sowenig über Traummagie zu wissen glaubte. Vielleicht war sie Weinhändlerin oder gar Winzerin? Davon gibt es in Baleh übergenug – das ganze Land ist bedeckt von Weinfeldern – und die Menschen, die Wein anbauen und verkaufen, sind berüchtigt für ihre Rechthaberei und den Glauben an ihre eigene Erhabenheit. Wie könnten sie auch ihren Wein anders verkaufen, wenn sie nicht von seiner Vollkommenheit so unerschütterlich überzeugt wären? Allerdings hatte vor zwei Wochen, am zweiten Vollmond von Anns Jahrviertel, die Weinlese in Baleh begonnen und kein Winzer, der etwas auf sich hielt, würde seine Weinfelder verlassen, bevor nicht die letzte Traube geerntet und gekeltert worden war - und selbst dann nur ungern.
„Aber es gibt doch sicher in den anderen Ländern Tarlenel, die Traummagier sind?“
„Keine Ahnung. Hier in Baleh gibt es jedenfalls keine und das ist gut so. Wir haben schon genug Traummagier hier, da brauchen sie nicht noch Tarlenel für.“
Und wie viele Clanangehörige hatten sich schon durch dieses dumme Vorurteil von dem Studium der Traummagie abhalten lassen? Dabei sind sie doch dabei im Vorteil, weil sie bereits über eine besondere geistige Gabe verfügen – ihre jeweilige Clangabe, die sie geerbt hatten – während die anderen Anwärter ihre geistigen Kräfte erst noch entdecken und schulen müssen. Andererseits ist es mit einer Clangabe wesentlich schwerer, eine weitere Gabe zu erlernen …
„Das Studium ist doch sehr schwer, oder?“
„Ohja, das ist es. Und ich glaube ja nicht, dass sie es überhaupt schafft. Man muss ja alles dafür aufgeben, keine Ablenkung, keine Zerstreuung mehr, es heißt sogar, sie darf keinen Wein mehr trinken – als ob unser guter Wein ihr schaden könnte!“
Dann sollte sie mal versuchen, im Weindusel mit einem Alptraum fertig zu werden.
„Keine Freunde, kein Familienleben mehr – aber das hat sie sowieso nie gehabt. Ich wette aber, sie hält sich trotzdem noch einen Liebhaber. Deswegen hat sie auch bei der Prüfung versagt, sollen wir wetten?“
Die Wette würde sie verlieren, zu meiner Genugtuung. Seit zwei Jahren hatte ich auch keinen Liebhaber mehr gehabt. Wie denn auch? Schon vor dem Studium war es unmöglich gewesen, irgendetwas in der Art vor den Nachrichtensängern geheim zu halten. Und ich war in all der Zeit auch ganz gut ohne Liebhaber ausgekommen. Ist im Studium erst einmal die Stufe erreicht, ab der die eigenen Träume selbst gesteuert oder sogar bewusst erschaffen werden können, lässt sich damit ausgleichen und ersetzen, was man vorher nicht missen mochte. Mittlerweile hatte ich meine selbst erschaffenen Träume nahezu vervollkommnet. Es war der von den Traummagiern künstlich erzeugte Alptraum bei der Prüfung gewesen, der mich hatte scheitern lassen. Alle anderen Aufgaben hatte ich beherrscht, aber dieser Alptraum hatte bei mir Ängste und Schrecken aus meiner Kindheit freigesetzt, die ich längst vergessen geglaubt hatte und nicht zu überwinden vermochte. Und es war ja nicht so, dass mich niemand gewarnt hätte. Ganz im Gegenteil, es gab in der ganzen Traummagieakademie kaum noch jemanden, der mich nicht wieder und wieder gemahnt hatte, vorsichtiger zu sein und es langsamer angehen zu lassen. Ich hatte die Warnungen höflich zur Kenntnis genommen und geflissentlich ignoriert und die Folge war, dass ich jetzt hier im Wachhaus von Baleh-Stadt zusammen mit dem letzten der zehn Prangersträflinge dieses Tages darauf wartete, die gesetzlich vorgeschriebene Strafe für das Nichtbestehen einer Prüfung anzutreten. Mit fünf Stunden war ich eigentlich noch ganz gut weggekommen.
„Soll sie doch. Und ich kann jetzt nicht mehr länger warten“ sagte die junge Stimme weinerlich. „Meine Füße tun so weh...“
„Komm, nur noch ein bisschen. Zwei von denen da oben sind gleich fertig, dann ist sie dran. Komm, wir stellen uns da vorne hin, da können wir sie besser sehen. Nun komm schon…“
„Aber nicht in der Sonne, da ist es zu heiß, ich will im Schatten stehen…“
Von dem Gang hinter der Tür gegenüber dem Eingang näherten sich die schweren Schritte der beiden diensthabenden Gardisten, die schon den ganzen Vormittag lang die Prangersträflinge zum Pranger und wieder zurückgeleitet und vom Wachhaus aus beaufsichtigt hatten. Während die kleine pummelige Gardistin fröhlich pfeifend auf meinen schlafenden Prangergenossen zusteuerte, kam der Gardist mit dem kunstvoll geflochtenen Bart und den müde dreinblickenden Hundeaugen zu mir und grüßte – ein wenig zu förmlich vielleicht, aber als Stadtgardist hatte er wohl selten mit Angehörigen des Königshauses zu tun.
„Tarlil, es ist nun an der Zeit. Es tut mir leid, dass Ihr so lange warten musstet.“
„Gut, ich bin bereit.“
Der Wachoffizier sah von mir zu dem offenen Fensterladen und räusperte sich.
„Am besten seht ihr nur geradeaus ... geht ganz ruhig neben mir her. Ihr solltet niemanden ansehen, das ermuntert sie nur. Niemand darf euch ansprechen und ihr dürft auch mit niemandem sprechen. Unter dem Pranger ist noch ein Gardist postiert, der wird dafür sorgen, dass euch niemand belästigt.“
„Ja, ich weiß, aber ich danke euch trotzdem.“
Ich hatte nun doch Mühe ruhig zu erscheinen, da ich wirklich hinaus musste, um mich fünf Stunden lang begaffen zu lassen. Der Gardist sah verlegen drein, räusperte sich noch einmal, rückte sein Koppel zurecht und ging voraus zu der schweren Eichentür des Eingangs zum Marktplatz. Als er einen Flügel aufzog, hörte ich wie ein Murmeln durch die kleine Gruppe der Wartenden – im Stillen nannte ich sie schon die Gaffer – ging. Dann betraten wir den schmalen Steg, der von der Wachhaustreppe zum Pranger führte, etwa zwei Meter über dem Marktplatz, so dass die Prangerplattform ebenerdig erreicht werden konnte. Nach der dämmrigen Kühle des Wachhauses brach die grelle, ohrenbetäubende und stinkende Hitze des Marktplatzes wie eine turmhohe Welle über mich herein. Ich folgte dem Rat des Gardisten und sah stur geradeaus vor mich hin, stellte mich taub und blind gegenüber den Menschen unter mir und allen ihren Versuchen meine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Gardist blickte grimmig drein und schüttelte mahnend den Kopf, wenn einer es sich einfallen ließ zu winken oder mir etwas zuzurufen. Mein Mund war auf einmal wie ausgetrocknet und mein Magen krampfte sich zusammen.
Auf der Prangerplattform standen vier Pfähle, je einer in jeder Ecke, und an jeden Pfahl war ein Prangersträfling angekettet. Der Gardist hielt vor dem linken äußeren Pfahl an, holte seinen Schlüssel heraus und öffnete die Ketten des Prangersträflings, dessen Strafe mit Ablauf der ersten Stunde des zweiten Tagviertels abgelaufen war. Die junge Rechtsgelehrtengehilfin, die noch wie ein halbes Kind aussah, konnte kaum noch stehen und grinste mich schüchtern an, während der Gardist sie stützte. Dann stellte ich mich mit dem Rücken an den Pfahl und der Gardist schloss schnell und routiniert die sonnenwarmen und überraschend schweren Ketten um meine Handgelenke. Ich atmete tief ein, lehnte mich mit dem Rücken an den Pfahl und richtete meinen Blick nach vorne, über die Köpfe der Gaffer hinweg. Und merkte dann, dass die allgemeine Aufmerksamkeit schon nicht mehr mir galt, sondern meinem Prangergenossen, einem Malerschüler namens Atorn, der immer noch von der Gardistin über den Steg geführt oder besser geschoben wurde, obwohl er schon längst hätte angekettet sein sollen. Doch alles gute Zureden der Gardistin half nichts, Atorn wurde immer langsamer und blieb schließlich ganz stehen, trotz des höhnischen Gelächters und der anzüglichen Pfiffe aus der Menge unter dem Pranger. Der andere Gardist kam zurück auf den Steg, nachdem er die Rechtsgelehrtenschülerin ins Wachhaus gebracht hatte und gemeinsam zerrten sie den sich immer heftiger sträubenden Lehrling unter gutem Zureden auf den Pranger. Damit war die Sache noch nicht ausgestanden, denn Atorn ließ sich nicht anketten, bevor sie ihm versprochen hatten, den Wachoffizier und den Zunftvorsteher zu benachrichtigen und sie über einen Strafaufschub entscheiden zu lassen. Einige der Zuschauer ließen sich dadurch zu weiteren höhnischen Bemerkungen und Pfiffen hinreißen und wurden prompt von den Gardisten verwarnt. Nach einer Weile gaben sie tatsächlich Ruhe und auch Atorns unglückliches Schniefen wurde schwächer. Insgeheim war ich ihm dankbar, dass er durch seinen schwachen Auftritt erst einmal von meiner Person abgelenkt hatte. Vielleicht würde das Interesse an mir jetzt auch etwas nachlassen, wenn ich weiterhin ruhig dastand und niemanden anblickte. Ich hatte meine Freunde und Bekanntschaften, soweit sie noch in der Stadt waren und nicht irgendwie mit der Weinlese beschäftigt, gebeten, sich dem Marktplatz fernzuhalten. Von meiner näheren Familie war außer meiner Tante, der Kerlil, niemand mehr in der Stadt, und sie auch nur wegen einer wichtigen Ratssitzung. Meine Prangerstrafe interessierte sie nicht im Geringsten, soviel hatte sie mir bei unserer Besprechung am Vorabend unmissverständlich klargemacht, und vieles von dem, was sie sonst noch gesagt hatte, ging mir jetzt noch nach. Wie immer hatte sie es geschafft, meine innersten Gefühle bloßzulegen und mich bis ins letzte zu durchschauen. Es wurmte mich umso mehr, weil mir klar war, dass sie ihre Clangabe dafür kaum gebraucht hatte. Die balehsische Clangabe ist bei meiner Tante besonders stark ausgeprägt, sie kann Gefühle von anderen Menschen auch auf größere Entfernungen wahrnehmen und erkennen, selbst wenn diese versuchen, sie zu verbergen. Obwohl ich wusste, dass ihre starke Gabe eine Ausnahme war, bereitete es mir doch heimlichen Kummer, dass meine eigene Familiengabe nicht auch so stark entwickelt war.
Die ersten beiden Stunden am Pranger kam ich noch einigermaßen zurecht. Ich bemühte mich nach Kräften, die Sonne, die mir immer heißer auf den Rücken brannte, die Schmerzen in meinen Füßen, den Lärm und Gestank auf dem Marktplatz, die neugierigen Blicke der vorbeieilenden Marktbesucher und das unentwegte Stieren und Murmeln der Gaffer so gut es ging zu ignorieren. Zu meiner Erleichterung warf niemand mit Obstschalen nach mir oder versuchte durch Singen oder Brüllen von satirischen Versen oder Predigten meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ganz zu schweigen von akrobatischen Verrenkungen oder obszönen Gesten. Das mochte allerdings in erster Linie dem zusätzlichen Gardisten zu verdanken sein, der es sich im Schatten der Plattform auf einem Schemel bequem gemacht hatte und die Menge um den Pranger wachsam im Auge behielt, obwohl es aussah, als wollte er jeden Moment einnicken. Ich hoffte, dass er nicht nur wegen mir dort postiert worden war, und falls doch, dass er mir den zusätzlichen Dienst nicht verübeln würde.
Von meinem Pfahl aus konnte ich den großen Brunnen mit der Wasserglockenuhr in der Mitte des Marktplatzes gut sehen. Der Traumbrunnen der Vier ist eine meisterliche Konstruktion, die alle vier Gottheiten auf ihre Weise repräsentiert. Die Becken, Wände und inneren Kammern, in denen Bals ewige Flamme einen Teil des Wassers zu Dampf erhitzt, sind aus Erde, dem Element der Doppelgottheit Yl, gebrannt zu feuerfesten Ton, von groben Lehmziegeln bis hin zu feinstem Porzellan. Aus den Becken steigen unaufhörlich die kleinen goldenen Wasserbehälter mit Anns Sonnensiegel darauf an dem breiten Stamm und den weitverzweigten Ästen von Wyrs Zeitbaum hinauf und entleeren sich in verschiedene Wasserbecken, die ihrerseits, sobald sie gefüllt sind, überlaufen und dadurch die entsprechenden Stunden- und Tagviertelglocken zum Klingen bringen. Ich versuchte mich in diesem unermüdlichem Auf und Ab und dem Glitzern des Wassers und der goldenen Behälter zu verlieren und so allmählich die erste Meditationsstufe zu erreichen, aber irgendwie konnte ich Atorns unaufhörliches Schniefen und seine endlosen Selbstgespräche nicht ausblenden. Als die dritte Stunde des zweiten Tagviertels eingeläutet wurde und die Gardisten auf die Plattform kamen, um die beiden anderen Sträflinge zu holen, deren Strafzeit abgelaufen war, fing er prompt an laut zu klagen und ließ sich nicht mehr beruhigen. Die Gardisten holten schließlich den Wachoffizier, der sich Atorns Jammern resigniert anhörte und schulterzuckend den Gardisten bedeutete, den Malerschüler loszuketten und ins Wachhaus zu bringen. Bevor er ging, blickte er fragend zu mir herüber und ich schüttelte den Kopf und zwang mir ein Lächeln ab, obwohl ich es Atorn liebend gerne nachgetan hatte. Die Aussicht, ganz allein auf der Plattform zurückzubleiben, behagte mir überhaupt nicht. Der Wachoffizier grüßte respektvoll und folgte den Gardisten, die den Malerschüler zwischen sich mehr zum Wachhaus trugen als führten. Ich verlagerte mit zusammengebissenen Zähnen mein Gewicht zum wiederholten Mal von einem Bein aufs andere und richtete mich innerlich auf drei weitere Stunden Stehen ein, immer noch entschlossen, das Ganze durchzustehen, ohne Schwäche zu zeigen und zu stolz um zuzugeben, dass ich es vermutlich nicht schaffen würde. So wie ich es immer noch nicht schaffte, mich in Meditation zu versenken, obwohl Atorn mich nicht mehr ablenken konnte. Ganz gleich, wie nahe ich der ersten Stufe auch kam, irgendetwas – ein unerwartetes Geräusch oder eine Bewegung – riss mich jedes Mal wieder heraus, bis ich vor Enttäuschung und Erschöpfung den Tränen nahe war. Und dabei hatte ich mir gerade auf meine Meditationsfähigkeiten bisher soviel eingebildet.
Aber ich wollte um keinen Preis aufgeben, solange die kleine Gruppe von Gaffern noch unermüdlich ohne Zeichen von Überdruss unter dem Pranger stand und sich keine Bewegung oder Gesichtsregung von mir entgehen ließ. Es war beinahe ironisch, als Angehörige des Königshauses im wahlfähigem Alter war ich daran gewöhnt, dass alles was ich sagte und tat, überall verbreitet, diskutiert und verzerrt wurde, bis kaum noch unterschieden werden konnte, was wahr und was erfunden war. Immer wieder hatte ich mich dagegen aufgelehnt, mich geweigert Stellungnahmen abzugeben und mich den ungeschriebenen Gesetzen zu unterwerfen, die mir diktierten, was ich als Tarlil zu tun und zu lassen hatte, doch jetzt, an dem Pranger, beinahe Auge in Auge mit den guten Bürgern von Baleh, die mich schon so lange nur noch als die verrückte Tarlil von Baleh kannten, tat ich mein Bestes, um mir nichts anmerken zu lassen und die Haltung und Würde zu bewahren, die einer Tarlil anstand. Dass es die Nachrichtensänger auch so würdigen würden, wagte ich allerdings kaum zu hoffen.
Natürlich wäre es mir möglich gewesen, die Strafe abzubrechen, so wie Atorn. Die fehlende Zeit muss nachgeholt werden, unter Zugabe einer weiteren Stunde, wenn man noch einmal zu einer Prüfung zugelassen werden will. Es erschien mir zwar absolut idiotisch, zwei oder gar nur eine Stunde vor dem Ende abzubrechen, aber vielleicht würde mir nichts anderes übrig bleiben. Es hatte zwar in der Vergangenheit schon Versuche gegeben, das Prangerstehen wenn nicht ganz abzuschaffen, so doch humaner zu gestalten - mit einigen kurzen Pausen und Wasser nach der Hälfte der Strafzeit beispielsweise, aber selbst zu solch kleinen Erleichterungen hatte sich bis jetzt noch keiner der Ältesten im durchweg traditionsbewusstem Stadtrat durchringen können. Wenn es um Traditionen und althergebrachte Gesetze und Sitten geht, sind die sonst so lebenslustigen und leichtsinnigen Balehsen recht starrsinnig. Vermutlich waren selbst diejenigen, die irgendwann in ihrer Jugend einige Stunden auf dem Pranger verbringen mussten, davon überzeugt, dass es niemandem schadete, da sie selbst es ja auch überstanden hatten.
So endlos sie mir auch erschien, irgendwie verstrich die Zeit doch. Als von der Wasserglockenuhr die fünfte Stunde des zweiten Tagviertels (und das Ende der vierten Stunde meiner Strafe) eingeläutet wurde, kam es mir so vor, als hätte ich schon alles mit angesehen, was ein balehsischer Markttag einem unfreiwilligem Beobachter bieten kann, wie etwa mehrere lautstarke Streitereien, teils mit, teils ohne Handgreiflichkeiten, einige Verhaftungen (zumeist von Taschendieben und pöbelnden Trunkenbolden), mehr oder weniger wortgewandte Predigten von Wanderpriestern sowie unzählige Auftritte von Nachrichtensängern und Barden, Gauklern, Tänzern und Artisten, ganz zu schweigen von einem großem Auflauf, als ein hoch mit frisch geernteten Weintrauben beladener Karren umkippte und seine ganze Ladung über den staubigen Marktplatz verschüttete. Bei all diesen so aufregenden wie alltäglichen Begebenheiten sollte meine Prangerstrafe letztendlich doch keine besondere Rolle spielen. Tatsächlich beachteten mich die meisten Menschen auf dem Marktplatz kaum, außer den Gaffern unterm Pranger natürlich, und das ließ mich hoffen, dass die ganze Angelegenheit doch noch zu einem guten Ende gebracht und bald vergessen sein würde. Vielleicht würde es ein paar satirische Balladen darüber geben und der eine oder andere Nachrichtensänger würde die Geschichte seinem Liederarchiv zu den vielen anderen über mich hinzufügen. Aber all das war noch kein Grund zur Verzweiflung.
Als die letzten Glockenschläge ausklangen, hörte ich Hufgetrappel und das Knarren von Kutschenrädern, das sich aus der Gasse auf der mir gegenüberliegenden Seite des Platzes dem Markt näherte. An den Mondvierteltagen ist die Stadt so überfüllt, dass weder Kutschen noch Sänften in den Strassen rund um den Marktplatz erlaubt sind und in der Innenstadt nicht geritten werden darf. Sollte es doch jemand vom Palast sein? Auf jeden Fall war ich froh um die kleine Ablenkung, nicht nur für mich, sondern auch den harten Kern der Gaffergruppe unter dem Pranger. Als die Kutsche hinter der steinernen Fassade der Bibliothek auftauchte, kamen schon die ersten Kinder angelaufen, um sie ungeniert zu bestaunen.
Zu sehen gab es allerdings nicht viel, es war eine ganz normale, schon etwas mitgenommene einspännige Reisekutsche mit zwei Sitzbänken sowie einer Kutschbank für zwei Personen. Die Kutsche war leer, der einzige Fahrgast saß vorne neben dem Kutscher. Alles was ich auf die Entfernung von ihm erkennen konnte, waren seine sehr glatten, hellblonden und nackenlangen Haare und dass er eine dunkelblaue Waffenweste mit einem Wappen an der Schulter über einem einfachen weißen Hemd trug. An der Weste war auf dem Rücken ein Schwertgehänge befestigt und der Griff eines Schwertes war über seiner Schulter sichtbar. Zwischen seinen Füßen lag eine Ledertasche.
Schon nach wenigen Metern gab es für die Kutsche kein Vorwärtskommen mehr. Der Fahrgast sprach kurz mit dem Kutscher, stieg von der Kutschbank und nahm die Ledertasche an sich. Dann suchte er sich ohne besondere Eile zu Fuß seinen Weg quer über den Markt. Dem Kutscher gelang es die Kutsche nach einigen vergeblichen Versuchen und mit viel Hilfe der Gassenkinder zu wenden und er umfuhr den Markt langsam an der Außenseite. Als sein Fahrgast nahe genug am Pranger war, dass ich sein Gesicht und das ungewöhnliche Wappen auf seiner Weste ausmachen konnte, hatte die Kutsche kaum ein Zehntel der Strecke geschafft. Ich war nicht die Einzige, der das Wappen auffiel, auf dem Yl, die Zwei-in-Einem, als zweiköpfiger Drachen dargestellt war, denn die Markthändler und ihre Kunden sahen sich gleichermaßen neugierig nach dem Fremden um und steckten raunend die Köpfe zusammen. Es war das Wappen von Ylkan, ein abgelegenes Bergland an der südlichen Grenze des Nohkran, aus dem es nur selten jemand nach Baleh verschlägt, vermutlich ist es hierzulande sogar eines der am wenigsten bekannten Clanreiche des Nohkran. Ich hatte das Wappen so schnell erkannt, weil es mir auf dem Fresko im Wachhaus aufgefallen war und weil Ylkan bei dem letzten Friedensfest vor drei Jahren den Clanvorsitz innehatte. Ich konnte mich noch gut an die beiden Kerlonel erinnern, die identischen Zwillinge Dariv und Rodan, die sich dort den Thron teilen, und auch an die schöne Königsgemahlin Isan mit ihrem fast hüftlangem, glattem, hellem Haar, das ständig wie ein Schleier hinter ihr herwehte. Fast jeder Ylkaner, den ich auf dem Friedensfest gesehen hatte, schien diese hellen, strähnigen und ganz glatt herunterhängenden Haare zu besitzen, die gerade in Baleh so ungewöhnlich wirken. Ich erinnerte mich vage, dass die Clangabe des ylkanischen Clans irgendetwas mit Zwillingen zu tun hatte.
Falls der Ylkaner merkte, wie viel Aufmerksamkeit er erregte, war es ihm nicht anzusehen. Zielstrebig, ohne nach links und rechts zu sehen, aufrecht und mit verschlossenem Gesichtsausdruck, kam er näher und näher. Aber erst als er sich nachdrücklich und ungeduldig durch die Gaffergruppe unter dem Pranger drängte, wurde mir schockartig klar, dass er zu mir wollte und nicht etwa zu dem Wachhaus oder dem Hauptgebäude der Akademie für Traummagie hinter uns. Direkt unter mir blieb er stehen und als ich mich gerade fragte, ob er den weiten Weg von Ylkan nur auf sich genommen hatte, um eine prangerstehende Tarlil zu sehen, bemerkte ich die schwere Clanwappenkette, auf der das silberblaue Drachensymbol in der Sonne glänzte, um seinen Hals und starrte verblüfft zu ihm herunter. Der ylkanische Tarlon sah ruhig zu mir hoch, der Blick seiner graublauen Augen wirkte fast kalt.
„Friedvolle Wege, Tarlil“ sagte er ruhig. Ich wollte antworten, aber konnte erst einmal nur husten. Dass es verboten war mit Prangerstehern zu sprechen, war ihm wohl nicht bewusst, oder es kümmerte ihn nicht.
„Friede auf allen Wegen, Tarlon“ krächzte ich schließlich verlegen. Der Prinz verzog keine Miene und neigte höflich den Kopf. Dann sahen wir uns wieder schweigend an, während ich krampfhaft überlegte, was ich noch sagen könnte, und wie ich es anstellen sollte trotz meiner ausgetrockneten Kehle normal zu sprechen. Auch der Tarlon von Ylkan schien keine Worte zu finden. Er sah sich um und musterte die gaffenden Schaulustigen und den Gardisten unter der Plattform ärgerlich, dann hakte er die Daumen in den Gürtel und sagte schließlich:
„Ich komme gerade vom Palast. Die Kerlil hat mich hierher geschickt. Ich muss dringend mit dir sprechen.“
Ich glaubte nicht recht zu hören. Der Tarlon sprach reines nohkrei, aber in einer Art Singsang, mit gedehnten Vokalen, an den ich mich erst gewöhnen musste.
„.. sprechen?“ wiederholte ich schwach. „Worüber? Weshalb? Und … jetzt gleich?“
„Ja. Ich habe es sehr eilig.“ Der Tarlon sah sich die Prangerplattform prüfend an, dann ging er ruhig und ohne Hast zu dem Eckpfeiler, an dem Steigkrampen angebracht waren. Gerade als der Gardist sich anschickte, ihn höflich des Platzes zu verweisen, zog er sich an einer Krampe hoch und kletterte so schnell zur Plattform hinauf, dass der Gardist ihn nicht mehr festhalten konnte. Die Dauergaffer erhoben ein großes Geschrei und die beiden Stadtgardisten aus dem Wachhaus kamen auf die Brücke zum Pranger gestürzt und ruderten empört mit den Armen. Der Tarlon schwang sich geschickt über das Geländer und kam dicht vor mir zum stehen. Über seine Schulter sah ich, wie die Gaffer und Bürger von Baleh-Stadt mit offenen Mündern ungläubig zu uns hinaufstarrten und schimpfend gestikulierten, unter ihnen der Wachgardist, der aber nicht wagte, seinen Posten zu verlassen. Dann sah ich dem Tarlon in das Gesicht. Er war höchstens zwei oder drei Fingerbreit größer als ich und sehr dünn, viel zu mager für meinen Geschmack - ich mag nun mal keine Männer, die soviel schmaler sind als ich - und ich meinte den sensiblen Mund und das eigensinnige Kinn von Keril Isan in seinem Gesicht wieder zu erkennen. Er wirkte noch immer kühl und fremdartig auf mich und ich machte mich darauf gefasst, dass er sich als herablassend und arrogant erweisen würde. Ich schätzte, dass er in meinem Alter war, aber es war schwer zu bestimmen.
"Ich bin Tarlon Dariv-ne-Isan-gel Yenda von Ylkan" stellte er sich nun vor und sah mir gerade in die Augen. Und dann, noch bevor ich antworten konnte, streckte er den Arm aus und berührte meine Hand ganz leicht mit den Fingerspitzen. Mehr brauchte es auch nicht. Meine eigene Clangabe ist zwar nicht so stark ausgeprägt wie bei meiner Tante, aber sie funktioniert sehr gut bei einer Berührung, wenn der Andere nicht bewusst versucht, seine Gefühle zu verbergen. Yendas Berührung kam so schnell und unerwartet, dass ich mich nicht mehr abschirmen konnte und wie auf einen Schlag alles spürte, was in seinem Innerstem vorging, so als ob eine dunkle Wolke um ihn plötzlich für mich sichtbar wurde: eine bestürzende Mischung aus erdrückender Einsamkeit, Erschöpfung, tiefer Trauer und Not - und so verbissener Entschlossenheit, dass ich instinktiv davor zurückzuckte. Trotz der Sonne auf meinem Rücken bildete sich eine kalte Stelle zwischen meinen Schulterblättern. Die Stärke und Intensität dieser Gefühle verwirrte mich umso mehr, weil Yenda äußerlich weiterhin nichts anzumerken war. Die empörten Schaulustigen unter uns und die beiden Gardisten, die angesichts seiner Wappenkette wenige Meter von uns entfernt unbehaglich stehengeblieben waren, sahen nur den fremdartigen mageren Prinzen mit dem merkwürdigem Akzent, der sich unbekümmert über alle Regeln hinwegsetzte, während ich kaum begriff, wie er es fertig brachte, diese Fassade unter der Last seiner Gefühle aufrecht zu erhalten ohne zusammenzubrechen. Ich konnte auch deutlich spüren, dass er an dieser Last schon seit einiger Zeit trug und das völlig allein. Etwas in mir schreckte vor dieser stummen Not zurück, aber zugleich überkam mich ein schier überwältigendes Verlangen ihm zu helfen, wie auch immer – alles zu versuchen, nur um dieses fürchterliche Grauen von ihm zu nehmen. Und dann begriff ich, dass er genau deswegen zu mir gekommen war - wie sonst hätte er wissen können, dass er sich mir durch Berührung so offenbaren konnte? - und es lief mir noch einmal kalt über den Rücken. Meine Stimme zitterte und ich musste mich noch einmal räuspern, bevor ich einigermaßen sicher antworten konnte.
"Ich – ich bin Tarlil Hyaras-ne-Kargon-hel Barys von Baleh - aber das weißt du wohl schon." Da wir einander gleichgestellt waren – ranggleiche Angehörige unserer jeweiligen Clans - verwendeten wir auch beide ohne Umstände die vertrauliche Ansprache. Es schien auch irgendwie so passend.
"Ja, das weiß ich ...“ Yenda zog seine Hand zurück und lächelte etwas nervös. Da erkannte ich auch, welche Überwindung es ihn kostete, sich mir, einer völlig Fremden, so vorbehaltlos zu öffnen und mich dann auch noch so unmittelbar und ohne Vorwarnung mit seiner innersten Not zu konfrontieren, und das nahm mich noch mehr für ihn ein. Er schluckte und räusperte sich energisch bevor er fortfuhr. „Es tut mir leid, dass ich - nun, ausgerechnet gerade jetzt herkomme, aber ... Ich brauche deine Hilfe. Niemand sonst kann es tun." Nun hatte er es ausgesprochen und ich wünschte mir auf einmal, dass das alles nur ein Irrtum wäre oder ein Traum. Aber es half nichts, das Gefühl der Verzweiflung und Not, das weiterhin von ihm auf mich überströmte, obwohl er mich nicht mehr berührte, war echt - und dazu so stark, dass ich es kaum noch von mir abhalten konnte. Ich hatte schon Mühe die Tränen zurückzuhalten.
An dieser Stelle wagte es der Gardist mit dem geflochtenem Bart endlich uns zu unterbrechen.
"Tarlon, vergebt mir, aber es ist hier nicht erlaubt mit Prangerstehern zu sprechen. Bitte begleitet uns zum Wachhaus. Dort könnt ihr warten, bis die Tarlil ihre Strafe beendet hat."
Yenda verzog keine Miene. Er nahm eine Schriftrolle aus der Ledertasche und reichte sie dem Gardisten. Ich sah, dass sie mit dem königlichen Siegel von Baleh versehen war, er konnte sie nur von meiner Tante bekommen haben. Und wenn meiner Tante sein Anliegen wichtig genug erschien, um ihn ohne Verzögerung zu mir zu schicken, dann musste es wirklich dringend sein. Sie sieht durch Menschen hindurch, als wären sie aus Glas und musste Yendas verzweifelte Lage schon auf den ersten Blick erkannt haben. Und damit wurde mir auch klar, dass sie es gewesen war, die ihm geraten hatte, mich zu berühren und mir dadurch so viel schneller und besser zu offenbaren, wie es um ihn stand.
"Gebt das dem wachhabendem Offizier" sagte er schroff zu dem Gardisten. "Die Tarlil muss die Strafe abbrechen. Es ist sehr dringend und duldet keinen Aufschub."
Die Stadtgardisten sahen sich unentschlossen an und zuckten mit den Achseln. Dann nahm die kleine, nun nicht mehr so fröhliche Gardistin die Rolle und trabte zu dem Wachhaus zurück, während der Gardist bei uns stehen blieb und den Tarlon misstrauisch musterte. Yenda ignorierte ihn.
"Glaub mir, ich hätte gerne noch gewartet, aber ich habe schon zuviel Zeit verloren" sagte er entschuldigend zu mir. „Ich werde dir nachher alles erklären, aber ich muss erst wissen, ob du mit mir kommen kannst.“
„Mit dir? Jetzt gleich? Nur wir beide?“
„Ja. So schnell wie möglich.“ Und zögernd fügte er hinzu: „Das mag sich jetzt übertrieben anhören, aber es geht wirklich ...“
„Um Leben und Tod?“
„Ja.“ Ich sah ihm an, dass es ihm wirklich bitterernst war und spürte zugleich eine neue Welle von seiner Verzweiflung auf mich überströmen. Vielleicht wurde meine Gabe durch meine körperliche Erschöpfung irgendwie verstärkt, so dass ich besonders empfänglich dafür war, jedenfalls hatte ich noch nie zuvor so starke und unmittelbare Wahrnehmungen erlebt wie in diesem Moment. Und obwohl die Gefühle mich fast zu überwältigen drohten, brachte ich es nicht über mich sie abzublocken, weil ich spürte, dass Yenda sich mir immer noch völlig öffnete, obwohl es ihm sehr schwer fiel. Anders kann ich es mir auch nicht erklären, dass er mir, obwohl wildfremd, schon vom ersten Moment an so vertraut vorkam, wie ein guter Freund oder sogar ein Bruder - niemand, der mir seine Gefühle so vollständig und unbeschränkt darlegt, kann mir je wieder fremd erscheinen. Natürlich war es mehr als ungewöhnlich, dass er so offensichtlich allein gekommen war, praktisch anonym, ohne jede Eskorte und anscheinend auch ohne irgendeine Unterstützung seiner Familie, aber trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - konnte ich nicht anders als ihm glauben.
Yenda atmete tief ein und hakte wieder die Daumen in seinen Gürtel.
„Es geht um meine Schwester. Meine Zwillingsschwester. Sie ist verschwunden und ich - ich brauche dich, um sie zu finden.“
„Und das muss wirklich jetzt gleich sein? Hat es keine Stunde mehr Zeit?“
„Nein“ sagte Yenda bestimmt und dann runzelte er die Stirn. „Willst du denn unbedingt noch länger hier stehen?!“
Bevor ich antworten konnte, kam die Stadtgardistin in Begleitung des diensthabenden Wachoffiziers zurück. Hinter ihnen marschierte die Oberin der Traummagiestudenten auf die Plattform, eine massige respekteinflößende Erscheinung in grünschwarzer wallender Robe mit durchdringendem Blick aus dunkelbraunen leicht vorstehenden Augen. Sie hielt den Wachoffizier zurück, stemmte die Arme in die ausladenden Hüften und musterte erst Yenda und dann mich streng.
„Tarlil Barys, ist es euer eigener Wunsch die Prangerstrafe zu abzubrechen?“
„Ja, Oberin Breknar, ich will. Ich muss. Ich bin bereit, die restliche Strafe später nachzuholen.“
Immer noch grimmig dreinschauend bedeutete die Oberin dem Wachoffizier meine Ketten aufzuschließen. Ich trat vorsichtig einen Schritt vorwärts - und merkte, dass meine Beine mir nicht mehr gehorchten. Der Wachoffizier hatte viel Erfahrung mit Prangerstehern und fing mich schon auf, bevor Yenda auch nur reagieren konnte. Die Oberin stützte mich auf der anderen Seite und zu zweit brachten sie mich Schritt für Schritt über den Steg ins Wachhaus, während Yenda uns mit den Gardisten nachfolgte. Die dämmrige Kühle des Wachhauses erschien mir paradiesisch nach der Hitze auf der Plattform. Die Oberin brachte mich sofort unaufgefordert in den Waschraum, wofür ich ihr sehr dankbar war. Als ich wieder herauskam, ging es mir wesentlich besser.
Yenda saß mit der Oberin an der Wand unter dem Fresko an dem Tisch, auf dem nun Teller mit frischen Weintrauben und Krüge mit Wasser und Wein angerichtet waren. Nach drei Bechern Wasser ließ das Pochen in meinem Schädel nach, meine Füße fühlten sich wieder an, als würden sie zu mir gehören und dann meldete sich auch mein Magen wieder. Ich nahm mir zum dritten Mal von den dicken saftigen Trauben, als Yendas Kutsche endlich vor dem Wachhaus eintraf. Die Oberin räusperte sich, doch Yenda, der mir bis dahin schweigend beim essen zugesehen hatte, ohne dass ich ihn zu mehr als ein paar Weintrauben überreden konnte, kam ihr zuvor.
„Wir fahren mit der Kutsche bis zum Grenzhof und übernachten dort“ erklärte er. „ Wir werden vorher noch einmal am Palast halten, damit du deine Sachen packen kannst.“
Ich schwieg, den Mund voll mit Trauben. Die Oberin blickte zwischen uns hin und her und eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen.
„Darf ich erfahren -“ begann sie und ich legte beschwichtigend eine Hand auf ihren Arm, schluckte die letzte Weintraube herunter und wandte mich Yenda zu. Dessen Lippen wurden schmal. Er setzte zum Reden an, brach wieder ab und sah die Oberin unbehaglich an.
„Um Vergebung, Oberin, aber ich … dies kann ich nur mit Tarlil Barys allein…“
Die Oberin schnaufte, blickte zu mir und erhob sich achselzuckend. Ich wartete, bis sie sich ächzend außer Hörweite begeben hatte und nahm mir noch eine Traube. Yenda räusperte sich wieder und mir fiel ein, was ich schon längst hätte fragen sollen.
„Warum ich? Wie soll gerade ich deine Schwester finden? Woher soll ich denn wissen, wo sie ist?“
„Ich weiß, wo sie ist.“ Yenda zögerte und holte noch einmal tief Atem, bevor er weiter sprach. „Bei dem Dämon – dem Jenseitigem - im Rotberg bei Kerlo in Annkarn.“
Ich wollte etwas sagen und brachte kein Wort heraus, als ob mir etwas den Hals zuschnürte. Für einen langen Moment kämpfte ich gegen den schier übermächtigen Drang einfach wegzulaufen. Bei dem Jenseitigen … Natürlich wusste ich so gut wie jeder andere Einwohner des Nohkran, dass diese unbegreiflichen fremdartigen Wesen, die von den Nohkresen als Jenseitige oder oft nur Dämonen bezeichnet werden, ihre Reiche tief im Inneren der Erde niemals verlassen und sich für uns Menschen gar nicht interessieren. Aber das verschwundene Volk, das lange vor der Landung unser Land bewohnt hatte, war durch eine unerklärliche Seuche ausgelöscht worden, die von den Jenseitigen ausgegangen sein sollte. Weil die Clanführer nach der Landung sicher sein wollten, dass ihnen von den Jenseitigen keine Gefahr drohte, nahm Nakur, der Auserwählte der Vier, der die Clans in ihr neues Land geführt hatte, es auf sich, mit den Jenseitigen in Verbindung zu treten. Zweimal begab er sich auf den Weg zu ihnen um herauszufinden, ob sein Volk sicher vor ihnen war. Von der ersten Reise kehrte er für kurze Zeit zurück, geschwächt und fast dem Tode nahe, und machte sich erneut auf den Weg, kaum dass er sich einigermaßen erholt hatte. Von dieser zweiten Reise zu den Jenseitigen kam er nie wieder. Seitdem gab es immer wieder Geschichten, oft nur Gerüchte, aber darum nicht weniger furchterregend, von Menschen, die wie Nakur diesen Wesen begegnet waren und danach nie wieder gesehen wurden. Zwar wusste ich so gut wie jeder andere, dass mir von den Jenseitigen keine Gefahr drohte, weil Nakur einen Pakt mit ihnen geschlossen hatte, der die sechzehn Clans und ihre Völker für immer vor ihnen schützte, aber ich fürchtete die Jenseitigen immer noch so sehr, wie ich es schon als Kind getan hatte. Wie tief diese Angst in mir verwurzelt war, hatte sich gerade jetzt erst bei meiner Prüfung gezeigt. In dem Alptraum, den ich nicht beherrschen oder gar steuern konnte, war ich einem Jenseitigen begegnet. In dem Traum war er unsichtbar gewesen, weil ich noch nicht einmal wusste, wie ein Jenseitiger aussah, aber trotzdem – oder gerade deswegen – war ich von meiner Angst völlig überwältigt worden. Als ich als Kind mit Alpträumen von Dämonen heimgesucht wurde, hatte ich oft geträumt, dass Nakur mir zu Hilfe kam und mich vor ihnen rettete. Darum trug ich auch immer noch die kleine schmale weiße Haarkette im Haar über dem rechten Auge, dort wo Nakur eine einzelne schneeweiße Strähne im sonst dunklen Haar gehabt hatte, als ob dieses Zeichen mich schützen würde. Aber bei dem Alptraum in der Prüfung hatte dieser kindische Glaube nicht ausgereicht. Vielleicht konnte ich als Erwachsene nicht mehr wirklich glauben, dass er mir zu helfen vermochte.
„Das ist doch... viel zu gefährlich“ sagte ich schließlich verstört. Yenda holte wieder tief Atem und zwang sich sichtlich dazu ruhig zu bleiben und sich zu entspannen. Ich spürte deutlich wie schwer ihm das fiel.
„Es besteht aber keine Gefahr. Nicht für dich.“
„Das verstehe ich nicht. Wie kannst du da so sicher sein? Warum kann dir niemand anders helfen? Was ist mit den Traummagiern? Deinen Eltern?“
„Meine Schwester wurde für tot erklärt.“ Yendas blickte auf seine Hände. „Ich bin der einzige, der weiß, dass sie noch lebt. Ich habe einen Weg gefunden, wie ich sie vielleicht retten kann, aber dabei kann mir meine Familie nicht helfen und auch kein Traummagier. Ich brauche auch sonst keine Hilfe, nur dich. Und ich wiederhole noch einmal, es ist für dich nicht gefährlich.“
„Warum nicht? Meinst du, wegen Nakurs Pakt?“
Yenda zögerte unbehaglich.
“Ja, aber nicht nur“ sagte er schließlich. „Es gibt außer dir niemanden, der mir dabei helfen kann. Warum kann ich dir nicht sagen, jetzt noch nicht. Aber ich bin mir ganz sicher, dass es nur mit dir geht.“ Er atmete tief ein und blickte mir gerade in die Augen. „Du bist meine letzte Hoffnung.“
Schon als ich mich zu Yenda an den Tisch setzte, hatte ich gespürt, dass es ihm gelungen war, seine Gefühle wieder weitgehend abzuschirmen. Doch jetzt senkten sich die Schilde wieder und ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Egal, was er verlangte, angesichts dieser Verzweiflung in ihm konnte ich ihm meine Hilfe nicht versagen, es würde mich mein Leben lang verfolgen. Und mir war auch schon seit langem nur zu gut bewusst, dass es höchste Zeit war, mich meiner Furcht vor den Jenseitigen zu stellen. Andernfalls würde es mir nie gelingen, die Prüfung zu bestehen. Dies mochte sehr wohl die einzige Chance sein, die ich je bekommen würde – und auch die einzige Gelegenheit, es Nakur gleichzutun.
„Was hat meine Tante - Kerlil Mona dazu gesagt?“ fragte ich abrupt. „Ich darf das Land nicht verlassen ohne ihre Erlaubnis -“
„Die hat sie schon gegeben.“
„Einfach so?“ Jetzt war ich doch etwas geschockt. Das Gesetz, dass alle Angehörigen eines Königsclans ihr Land nur mit besonderer Erlaubnis verlassen dürfen, gilt für den ganzen Nohkran. Es soll verhindern, dass Tarlenel in einem anderen Land siedeln und Nachkommen zeugen, die den rechtmäßigen Königsclan des Landes verdrängen könnten. Ich nahm mir vor, Yenda bei Gelegenheit zu fragen, ob er sich überhaupt mit offizieller Genehmigung so weit von Ylkan entfernt aufhielt, aber ich ahnte bereits, dass er sich darüber genauso entschlossen hinweggesetzt hatte wie über die Prangervorschriften.
Yenda zuckte die Achseln. „Wie man es nimmt. Sie sagte, es wäre einzig und allein an dir zu entscheiden, du wärst alt genug dafür. Natürlich macht es ihr Sorgen, aber sie kann und will in dieser Sache nicht vorgreifen.“
„Aber .. nur wir zwei, ganz allein, ohne Eskorte? Ist das nicht zu gefährlich?“
Yenda schüttelte entschieden den Kopf. „Eine Eskorte würde uns nur aufhalten und erst recht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn wir nur zu zweit unterwegs sind, fallen wir viel weniger auf. Ich bin schon lange nur alleine unterwegs und hatte nie Schwierigkeiten.“ Er holte tief Atem und blickte mich fest an, ohne zu blinzeln. „Und die Kerlil stimmte mir darin zu.“
Als meine Eltern bei einem Brand auf ihrem Weingut umgekommen waren – das war schon lange her, als meine Geschwister und ich noch sehr klein waren – hatte meine Tante die Verantwortung für uns übernommen. Dass sie jetzt so entschieden hatte, überraschte mich immer noch, aber mir war völlig klar, welche Entscheidung sie von mir erwartete, oder vielmehr schon voraussetzte. In gewisser Weise war es befreiend, so als bliebe mir gar keine richtige Wahl.
„Dann lass uns aufbrechen, bevor ich es mir anders überlege. Du kannst mir alles auf der Fahrt erklären.“ Mir klang meine eigene Stimme fremd in den Ohren und ich bekam Angst vor meinem eigenen Mut. Yenda starrte mich verblüfft an, als wollte er nicht glauben, was er gehört hatte und für einen Moment tat es mir fast leid, dass ich mich so schnell hatte überreden lassen. Dann fasste er sich und stand abrupt auf, nickte der Oberin und den Gardisten wortlos zu und verließ das Wachhaus. Die Oberin erhob sich ächzend und kam zu mir.
„Ihr müsst die Strafe spätestens am dritten Neumondstag von Yls Jahrviertel zu Ende bringen“ begann sie und ich nickte. Die Oberin sah mich forschend an und es schnürte mir den Hals zu angesichts ihrer Teilnahme. Auf einmal wurde mir klar, dass ihr selbst aus der Entfernung nichts von Yendas Anliegen und meiner Entscheidung verborgen geblieben war, schließlich war sie Traummagieadeptin. Seltsamerweise machte es das leichter für mich.
„Ich denke, die Kerlil hat Recht, Ihr seid alt genug um euch nicht blind in Gefahr zu begeben. Aber Barys …“ sie zögerte und rang sich dann zu meiner Erleichterung endlich wieder zu der familiären Ansprache durch. „Kind, ich muss dich trotzdem bitten … sei so vorsichtig wie möglich. Überschätze deine Kräfte nicht wieder – aber verlass dich auch nur auf dich selbst, bei allem was du tust.“
„Ich werde es versuchen.“ Die Oberin seufzte und strich ihre Robe glatt.
„Wenn du wiederkommst, werden wir gemeinsam entscheiden, was mit deinem Studium geschehen soll. Vielleicht hat sich dann etwas geändert... nun, aber wie auch immer, du wirst uns immer willkommen sein, das weißt du. Wir werden eine Lösung finden.“
„Ich danke dir vom Herzen, für alles.“ Es war mir ernst.
Die Oberin lächelte etwas wehmütig und zeichnete den Mondsegen auf meine Wange.
„Bal sei mit euch auf allen Wegen“ sagte sie formell und wandte sich ab. Ich verließ das Wachhaus und ging die Treppen hinunter zu der Kutsche, die am Straßenrand wartete. In der kleinen Gruppe Neugieriger, die bei der Kutsche ausharrten, sah ich auch einen Mann in der gelben Weste der Nachrichtensänger. Als ich zur Kutsche ging, trat er einen Schritt auf mich zu, aber ich ignorierte ihn geflissentlich, genau wie an diesem Morgen, als er im Wachhaus um eine Stellungnahme zu meiner Prangerstrafe gebeten hatte. Vielleicht würde ja Yendas geheimnisvolles Auftauchen und unser überstürzter Aufbruch ein wenig von meinem unrühmlichen Strafabbruch ablenken.
Die Stadtgardisten hatten sich an den Seiten postiert und halfen mir in die Kutsche zu steigen, in der Yenda schon wartete. Der Nachrichtensänger versuchte noch, sich auf das Trittbrett zu schwingen, als sich die Kutsche in Bewegung setzte, doch die Stadtgardisten hielten ihn zurück. Ich hoffte, dass sich gerade kein anderer Sänger in der Nähe des Palastes aufhielt.
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