Babas Welt
Donnerstag, 10. Dezember 2009
Kapitel 10

Kapitel 10

Im Jahr 399 nach der Landung, 26. Tag im 3. Mond in Anns Jahrviertel

Als ich wieder aufwachte, brachte ich es kaum über mich die Augen zu öffnen. Ich lag warm und bequem und die Müdigkeit lastete auf mir wie eine dunkle, schwere Wolke. Als ich schließlich doch ein Auge halbwegs öffnete, tat mir das Licht so weh, dass ich es schnell wieder zukniff und den Kopf zur Seite drehte. Doch bevor ich wieder zurück in die Dunkelheit gleiten konnte, spürte ich wie sich jemand über mich beugte. Flacher Atem, ein Geruch von Schweiß, Met und Kautabak …
„Tarlil Barys? Seid Ihr wach? Könnt Ihr mich hören?“ Die Stimme war vertraut, aber ich konnte ihr noch keinen Namen geben und wollte auch nicht noch einmal die Augen zu öffnen. Dann spürte ich eine raue Hand an meiner Wange, nicht eben sanft, aber doch vorsichtig.
„Lass sie doch noch etwas schlafen, Merlag.“ Die heisere Frauenstimme, etwas weiter von mir entfernt, kam mir auch vertraut vor.
„Am Ende wacht sie gar nicht mehr auf. Wenn das eine Art Nachwirkung ist ...“
Ich versuchte noch einmal meine Augen aufzubekommen und nach einer Weile konnte ich auch etwas erkennen - nur verschwommen erst, dann immer deutlicher.
Merlag saß an meinem Bett, die Arme auf die Bettkante gestützt, und starrte mich mit einem besorgten Ausdruck in den Augen an. Hinter ihm stand Sera, das Gesicht wieder so ausdruckslos und unbeteiligt wie beim ersten Mal als wir uns getroffen hatten. Aus einem Fenster schräg hinter dem Bett strömte Sonnenlicht in breiten Bahnen durch das Zimmer. Als ich Merlag ansah, grinste dieser triumphierend und lehnte sich etwas zurück.
„Na also. Wie fühlt Ihr euch?“
Ich musste erst über die Frage nachdenken, und dabei klärte sich mein Kopf langsam. Meine Stimme gehorchte mir nicht gleich.
„Gut .. glaube ich...“ krächzte ich schließlich. „Was ist passiert?“
„Das würden wir auch gerne wissen“ sagte Merlag trocken. „Das wenige, was Yenda geruhte uns zu erzählen, war nicht sehr aufschlussreich.“
„Yenda..? Wo ..“
Merlag nickte nur mit dem Kopf zur anderen Seite des Bettes hin. Ein Stück von meinem Bett entfernt stand ein zweites und Yenda lag darauf, noch in den selben Kleidern, die er im Berg getragen hatte, einschließlich der Stoffschuhe, und schlief, auf der Seite liegend, mit leicht angezogenen Beinen. Er sah immer noch erschöpft aus und als hätte er sich seit mindestens zwei Wochen nicht rasiert.
„Keine Sorge, es geht ihm gut“ sagte Merlag. „Er wollte unbedingt wach bleiben, aber irgendwann ist er doch eingeschlafen. Wir dachten, es wäre am besten ihn hier zulassen.“
„Wie lange ...“ Ich musste wieder husten.
„Wie lange Ihr geschlafen habt? Oder wie lange Ihr im Berg wart?“
„Merlag, lass sie erstmal zu sich kommen.“ Sera setzte sich auf den Bettrand und hielt mir einen Becher mit Wasser hin. Ich versuchte mich aufzustützen und beim zweiten Anlauf gelang es mir auch. Dabei stellte ich fest, dass ich anders als Yenda mein Schlafhemd trug. Meine Kleider lagen ordentlich gefaltet auf meinen zwei Reisebündeln, mitsamt Stiefeln, Messer und Öllampe.
„Zehn Tage“ sagte Merlag, als ich den Becher absetzte. Trotzdem verschluckte ich mich fast.
„Wir waren zehn Tage im Berg??“
„Mehr oder weniger. Gestern Nachmittag haben wir euch rausgeholt, und seitdem habt ihr geschlafen. Ich hab euch ja gewarnt …“
„Denkt nicht drüber nach“ sagte Sera beschwichtigend. „Es hätte schlimmer sein können. Nakur war bei euch und hat euch beschützt.“
Endlich fiel mir auf, was mich schon seit einer Weile unbewusst irritiert hatte.
„Ihr wisst wer ich bin?“
Sera und Merlag sahen sich an, und Merlag grinste ein wenig trotzig.
„Nachdem ihr in den Berg gegangen seid, haben wir euer Gepäck durchsucht. Nur vorsichtshalber – falls jemand nach euch gefragt hätte...“
„Und wie - oh, natürlich, der Siegelbrief. Und ich hab das blöde Ding kein einziges Mal gebraucht...“
Sera zuckte die Schultern. „Als ich den Namen sah, wusste ich auch wieder warum Ihr mir so bekannt vorkamt. Ich war vorletztes Jahr im Frühjahr in Baleh, auf dem Frühlingsfest. Ein Bekannter erzählte mir, dass unter den Traummagiestudenten diesmal auch eine Tarlil wäre und zeigte sie mir bei der Zeremonie im Tempel.“
„Achja. Mein erstes Balfest als Traummagiestudentin. Ich hatte gerade angefangen.“
„Ihr habt uns gründlich reingelegt“ sagte Merlag vorwurfsvoll. „Ich kenne einige Traummagieadepten, und habe es trotzdem geglaubt.“
„Ich habe nicht behauptet, dass ich eine Adeptin wäre. Nicht direkt. Kann ich noch etwas Wasser haben? Und bitte, vergesst endlich dieses Tarlil-Getue, ich lege da keinen Wert drauf hier.“
Sera goss mir einen zweiten Becher ein. „Wir haben auch Tee“ sagte sie und grinste plötzlich. „Von dem Schlaftee ist auch noch was da.“
„Die Sache tut mir wirklich leid, aber ...“
„Schon gut, das braucht es nicht. Der Schlaf hat uns allen gut getan, auch mir.“ Merlag grinste auch. „Aber wenn Yenda uns nur ein bisschen mehr vertraut hätte, wäre das alles nicht nötig gewesen. Wenn er uns wenigstens gesagt hätte, dass er Kontakt mit ihnen hatte, und was die Jenseitigen von ihm wollten ...“
„Dann hättest du mich doch niemals gehen lassen“ sagte Yenda müde und ich ließ beinahe den Becher fallen. Er saß auf dem Bettrand und rieb sich die Augen. Sein Gesicht war nicht mehr ganz so grau und eingefallen wie im Berg und er wirkte etwas entspannter.
„Woher willst du das wissen?“ fragte Merlag scharf. „Ich hätte dir helfen können, mit Raka-Uhuls Tagebuch zum Beispiel, wenn du mir nur etwas gesagt hättest….“
Yenda schüttelte müde den Kopf. „Du hättest nie zugelassen, dass ich noch einmal in den Berg gehe um meine Schwester zu holen.“
„Das war ja auch mehr als leichtsinnig. Um nicht zu sagen verantwortungslos. Wenn sie es geschafft hätte aus dem Berg zu kommen ...“
„Das ist es doch. Je mehr von euch dabei gewesen wären, desto größer wäre die Gefahr gewesen, dass sie einen von euch überwältigt hätte, und dann wäre es für sie ein leichtes gewesen. Viel leichter als bei mir. Und was Verantwortung angeht - ich bin - war - verantwortlich für meine Schwester. Mehr als jeder andere.“
„Nakur hätte uns beschützt, was auch immer geschehen wäre. Du glaubst noch nicht einmal an ihn, wie konntest du so sicher sein, dass sie dir nichts antun würde?“ fragte Sera wütend.
„War ich doch gar nicht. Aber wenn sie versucht hätte, mit mir den Berg zu verlassen, hättet ihr uns aufgehalten. Darauf habe ich vertraut, ob ihr es glaubt oder nicht.“ Er grinste schwach. „Und Yonann hätte sie nichts anhaben können.“ Yenda stand auf und kam zu mir herüber, setzte sich auf den Bettrand und strich mir die Haare aus dem Gesicht.
„Geht es dir besser? Wie fühlst du dich?“
„Ich weiß nicht so ... aber besser auf jeden Fall, denke ich. Noch ein bisschen müde..“
„Willst du etwas essen?“
„Jetzt noch nicht.“ Tatsächlich fühlte ich mich beinahe wieder normal, aber hatte Angst, dass mir wieder übel werden würde.
Sera sah von mir zu Yenda und ihr Gesicht verschloss sich. Merlag räusperte sich.
„Ich hab unsere neuesten Besucher ganz vergessen. Sie wollten euch beide sofort sprechen, sobald ihr wach seid.“ Er machte Anstalten sich aus dem Stuhl zu stemmen, aber Sera kam ihm zuvor und stürzte aus dem Zimmer. Yenda achtete nicht auf sie, aber Merlag und ich sahen uns kurz an und Merlag seufzte und schüttelte den Kopf.
„Was für Besucher denn?“ wollte Yenda wissen und Merlag grinste nur.
„Ylkanische Gardisten?“ fragte ich und Merlag grinste noch stärker.
„Ihr werdet es gleich sehen. Bevor sie kommen, will ich noch mehr hören, besonders von euch, hrm dir, äh, Barys – oder doch Yonann? Gerne ... Du bist einem Jenseitigen näher gekommen als sonst irgendjemand im Nohkran außer Nakur und ich will alles darüber wissen.“
„Hat das nicht Zeit?“ protestierte Yenda, aber Merlag ignorierte ihn. Ich zuckte nur die Achseln.
„Ich kann nicht viel davon erzählen. Der – nein das Jenseitige - ich kann es nicht beschreiben wie es war, es gibt keine Worte dafür. Ich verstand erst hinterher, was es von mir gewollt hatte und ich weiß immer noch nicht genau warum. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, was genau mit ihm geschehen ist, ob es wirklich tot ist oder nur - woanders.“
„Für sie ist der Tod nicht dasselbe wie für uns“ sagte Merlag entschieden. „Ich glaube nicht, dass dieser spezielle Jenseitige zurückkehren wird, aber vielleicht nimmt ein anderer hier seinen Platz ein. Wir müssen abwarten, ob sich hier irgendetwas verändert in den nächsten Monaten. Als ihr beide in Sicherheit wart, bin ich mit ein paar anderen ein Stück weit in den Berg gegangen, aber wir haben nichts gefunden. Wir müssen noch die Berichte von den anderen Wächtergruppen abwarten, ob sich bei ihnen irgendetwas verändert hat.“
„Wie viele Jenseitige gibt es noch hier im Nohkran?“ fragte ich. Merlag zuckte die Schultern.
„Nakur allein weiß es… Wir glauben, dass sie überall verstreut leben. Es könnte auch welche geben, von denen wir nichts wissen. Und natürlich können auch viele in anderen Ländern leben, auf den anderen Kontinenten, wo niemand etwas von ihnen weiß.“
„Sie sind nicht allein“ sagte ich. „Als ich mit dem Jenseitigen zusammen - in Verbindung war, hatte ich das Gefühl, es wären viele in einem oder einer aus vielen - ich kann es nicht genau erklären, es war so völlig anders als bei uns.“
Merlag nickte. „Ich glaube, wir werden sie nie verstehen können. Auch nicht woher sie kommen und warum sie hier sind. Selbst Nakur konnte das nicht. Das wollen wir auch nicht.“
„Nicht? Aber ich dachte, ihr seid die Wächter ...“
Merlag sah Yenda an. „Wie oft hab ich dir das erklärt? Wir überwachen nicht die Jenseitigen, was für einen Sinn hätte das denn? Sondern wir bewachen die bekannten Zugänge, damit Menschen wie Aridys nicht zu ihnen gelangen.“
„Das ist euch ja auch hervorragend gelungen“ sagte Yenda trocken. Merlag schüttelte den Kopf.
„Wir haben nicht genug Leute, schon gar nicht in Ylkan“ sagte er bedauernd. „Und das Ritual mit deiner Schwester für den Zugang wurde unter strengster Geheimhaltung durchgeführt, so dass wir erst durch dich davon erfahren haben. Ich habe auch noch nie von so einem Ritual gehört. Aber wir haben deine Schwester in unseren Wachträumen gesehen und wir hätten verhindert, dass sie den Berg verlässt, mit allen Mitteln.“
Yenda sah skeptisch drein. „Wenn es noch mehr Ausgänge gibt, dann hätte sie auch woanders herauskommen können. Es war jetzt schon beinahe zu spät. Ich glaube nicht, dass ihr es geschafft hättet.“
„Nakur hätte uns geholfen“ sagte Merlag ungerührt. „Wie du siehst, hat er uns ja geholfen, er hat dich Yonann finden lassen. Ist dir das nicht Beweis genug?“
„Ich habe ihn nicht gesehen“ sagte Yenda kurz.
Merlag sah mich an und ich schluckte.
„Yonann? Hast du ihn gesehen?“
„Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Er war da, ganz kurz, aber ich glaube, es war ein Traum. Ich wünschte mir, dass er zu mir kommen würde, aber ob er es wirklich war ...“
„Wie sah er aus? Was hat er gesagt?“
„So wie .. wie in dem Wahrtraum. Genau so. Deshalb könnte es ja auch ein Traum gewesen sein…“
„Wenn er dir geholfen hat, dann war es Nakur“ sagte Merlag entschieden. „Du solltest nicht daran zweifeln. Wir können dir helfen, ihn zu erkennen - “
Bevor ich etwas erwidern konnte, hörten wir vor der Tür Schritte näher kommen. Sera öffnete die Tür und ließ die Neuankömmlinge eintreten. Yenda blieb der Mund offen stehen.
„Oh nein ...“ sagte er nur schwach und Merlag kicherte. Es waren zwei Frauen in Gardistenuniform, beide mit den gleichen hellblonden, glatten, knapp schulterlangen Haaren - und auch sonst einander völlig gleich. Schon bevor ich sah, dass sie beide die gleiche ylkanische Wappenkette trugen wie die, die Yenda in Baleh gelassen hatte, ahnte ich wer die beiden waren. Sie grinsten sogar beide auf genau die gleiche Weise, wie Yenda es oft tat, und dann kamen sie zu dem Bett, zogen ihn hoch und umarmten ihn gleichzeitig. Und dann redeten alle durcheinander.
„Was macht ihr denn hier??!“
„Na, ist die Überraschung gelungen?“
„Das fragst du, wo wir uns seit einem Jahr kranksorgen wegen dir ...“
„Yls Atem, wie siehst du bloß aus, du könntest wirklich ein Bad vertragen...“
„Wenigstens bist du noch heil ...“
„Aber warum seid gerade ihr zwei gekommen und nicht ...“
„Wer sonst? Anderen Gardisten wärst du doch gleich wieder entwischt!“
Yenda machte sich schließlich los und setzte sich wieder neben mich. „Das sind meine Schwestern - das ist Rynkan und das Growyn“ stellte er mir die beiden vor und dann beugte er sich ein wenig vor und fügte mit gesenkter Stimme hinzu „Growyn ist die mit der Warze am Hals.“
„MUTTERMAL!!“ protestierte sie und gab ihm einen Rippenstoß, den er gutwillig einsteckte.
„Und das ist Yonann.“
„Barys“ ergänzte ich, als die beiden sich verwirrt ansahen.
„Ja, wir haben schon viel von dir gehört“ sagte Rynkan und setzte sich auf die Bettkante neben meinem Knie. „Deine Tante hat unseren Eltern einen ganzen Roman geschrieben und jetzt kann unsere Mutter es kaum erwarten dich kennen zulernen. Geht es dir wieder gut? Hast du alles überstanden soweit?“
„Sie ist eben erst aufgewacht...“ sagte Yenda besorgt.
„Nein, das ist schon in Ordnung, mir geht es gut - und ich wollte jetzt sowieso aufstehen. Wenn es geht ...“ Ich schlug die Bettdecke zurück und Rynkan machte mir Platz, während Yenda seinen Arm ausstreckte um mich zu stützen wenn nötig. Alle drei Geschwister sahen mir gespannt zu, wie ich vorsichtig aufstand. Aber es passierte nichts, der Boden blieb fest unter meinen Füßen, und mir wurde auch nicht schlecht. Ich fühlte mich nur immer noch sehr müde und wie zerschlagen.
„Mir geht es gut“ verkündete ich schließlich und alle sahen erleichtert aus.
„Gut, dann können wir ja doch schon heute Abend aufbrechen“ sagte Growyn fröhlich und Yenda starrte sie verblüfft an.
„Wieso das denn? Und wohin?“
„Wenn wir heute aufbrechen, schaffen wir es noch rechtzeitig nach Hause“ sagte Rynkan. „Als wir vorgestern hier ankamen, dachten wir schon, wir würden euch nicht mehr aus dem Berg bekommen, aber vielleicht klappt es doch.“
„Was heißt rechtzeitig??“
„Yenda, es sind nur noch fünf Tage bis zum Drachenfest. Willst du es wieder verpassen?“
Yenda sah aus wie vor den Kopf geschlagen. „Oh - das .. das hatte ich völlig vergessen. Aber ..“
„Nichts aber. Diesmal bist du dabei, ob du willst oder nicht. Und Barys auch.“ Growyn kam zu mir und nahm meine Hand. „Wenn du willst natürlich. Unsere Mutter hat uns aufgetragen, dich unter allen Umständen mitzubringen, aber wenn du lieber wieder nach Baleh zurück willst ...“
Ich sah von einer Schwester zur anderen und dann zu Yenda. Der lächelte etwas müde.
„Ich fürchte, wenn meine Mutter will, dass wir dich mitbringen, hast du keine Wahl.“ Und über den Protest seiner Schwestern hinweg fügte er hinzu „Das Drachenfest könnte aber ein bisschen anstrengend werden ...“
„Muss ich denn daran teilnehmen?“ fragte ich verblüfft und Yenda zuckte die Schultern. „Wenn ich mitmachen soll, muss jemand Aridys’ Platz einnehmen.“
Growyn und Rynkan sahen sich unbehaglich an und Rynkan nahm meine andere Hand.
„Du musst natürlich gar nichts - aber wir würden uns sehr freuen. Wirklich. Hör nicht auf Yenda, es ist wirklich nichts dabei. Wenn du nicht möchtest, kannst du auch nur zuschauen. Hast du denn überhaupt noch Zeit? Oder musst du nach Baleh zurück?“
„Nein, eigentlich nicht. Das nächste Semester fängt erst in Yls drittem Mond an, nach der letzten Weinlese. Eigentlich .. doch ich komme gerne mit.“
Die Zwillingsschwestern strahlten. „Dann ist ja alles geregelt. Wir reiten bis nach Kerlo und nehmen dort die Postkutsche, eure Pferde können wir von da aus nach Baleh zurückschicken. Mit der Kutsche sind wir in drei Tagen in Ylkan.“
„Klingt nicht schlecht“ sagte ich und sah zu Merlag und Sera hinüber, die bei der Tür standen. Sera blickte starr an mir vorbei und Merlag sah finster drein. Wahrscheinlich hätte er mich am liebsten dabehalten. Yenda stand auf, nahm seine Schwestern bei der Hand und schob sie vor sich her zur Tür. „Gut, dann bereitet ihr schon einmal alles vor und wir machen uns gleich fertig. Aber erst möchte ich mit Yonann alleine sprechen.“
Merlag ging als letzter. „Ich schicke euch was zu essen“ versprach er. Yenda schloss die Tür hinter ihm, dann kam er zu mir und nahm meine Hände in seine.
„Yonann, bist du sicher, dass du mitkommen willst?“
„Warum nicht? Was sollen wir auch sonst tun? Wenn das Drachenfest so wichtig ist, bleibt uns ja auch nichts anderes übrig.“
Yenda lächelte schief. „Wichtig ist es schon, es ist der wichtigste Tag des ganzen Jahres in Ylkan. Noch wichtiger als das Friedensfest. Ich verstehe selbst nicht, wie ich es vergessen konnte.“
„Nicht? Nun, ich werde langsam wirklich neugierig. Aber was ist mit dir, möchtest du nicht dabei sein oder willst du mich lieber nicht dabei haben?“
Yenda schüttelte den Kopf. „Alleine kann ich auch nur zusehen, ohne Zwilling - oder jemanden, der für den Zwilling einspringt - kann ich nicht teilnehmen. Und ich kenne niemanden, der Aridys’ Stelle einnehmen könnte, außer dir. Wenn Mendy teilnimmt - was ich bezweifle - dann nur mit ihrem Zwillingsbruder. Und bevor ich nur zusehe, bin ich lieber gar nicht dabei.“
„Aber ich bin nicht deine Schwester...“
Yenda grinste und zog mich näher an sich heran. „Und das ist auch gut so.“ Seine Bartstoppeln kratzten, als er mich küsste und ich machte mich wieder los.
„Und ylkanisch bin ich auch nicht, spielt das keine Rolle?“
„Nein. Wenn meine Eltern und mein Onkel dich einladen, bist du der Ehrengast und wenn du auch noch bei dem Fest mitmachst, wird der Hof dir zu Füßen liegen und dir alles nachsehen. Mach dir keine Sorgen darum. Nur, wenn du deine Meinung noch änderst - wir können jederzeit wieder umkehren und ich bringe dich nach Baleh zurück. Was immer du willst.“
Mir war schon vorher klar geworden, dass wir beide eigentlich keine Wahl mehr hatten. Auf unserer Reise zum roten Berg hatte ich keinen Gedanken an die Zeit „danach“ verschwendet, schon weil nicht abzusehen war, wie es ausgehen würde. Aber jetzt war es überstanden und obwohl der Gedanke an einige Tage oder gar Wochen allein mit Yenda überaus verlockend war, konnte ich nicht die Augen davor verschließen, dass es zuviel in seinem Leben gab, um das er sich dringender kümmern musste. Seine Schwester war tot und es lag an ihm, die Nachricht seiner Familie zu überbringen, damit die Zeremonien durchgeführt werden konnten, dann waren da noch seine Kinder, seine Ex-Frau und nicht zuletzt das Drachenfest. Somit hatte ich wieder einmal keine Wahl.
„Was immer ich will?“ Ich grinste Yenda an. „Gut, dann will ich jetzt nur noch eins.“
„Und was?“
„Dass du dich rasierst, bevor du mich noch mal küsst.“

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