Babas Welt
Donnerstag, 17. Dezember 2009
Kapitel 17

17. Kapitel

Jahr 399 nach der Landung, 2. Tag im 1. Mond in Yls Jahrviertel

"Tot??“ fragte Helkryn ungläubig. „Das ganze Land? War es zerstört - oder nur verlassen?“
Yenda starrte angestrengt vor sich auf die Tischplatte. „Beides. Es fühlte sich an, als ob - alles zerstört worden wäre, aber vor langer Zeit. Jetzt waren da nur noch die leeren Reste. Ruinen. Und der Wind. Und ich fühlte mich selbst wie ein Geist.“
Am Tisch breitete sich unbehagliches Schweigen aus. Die Strahlen der Mittagssonne fielen in breiten Bahnen durch die Fenster auf den großen ovalen Tisch im Empfangsraum, doch Helkryn und Erlda zogen die Schultern zusammen, als fröre ihnen und Yendas Schwestern, beide in ihren Gardistenuniformen, sahen ungewohnt grimmig drein. Meister Nagyn neben ihnen starrte mit steinernem Gesicht auf seine ineinander verkrampften Hände vor sich auf der Tischplatte nieder. Ich hatte eigentlich erwartet, dass er Zwischenfragen stellen und empörte, lautstarke Kommentare abgeben würde, stattdessen blieb er die meiste Zeit schweigsam und niedergedrückt. Die Stragyn - der Hofpriester und sein ungleicher Zwillingsbruder, der Hohepriester von Ylkan, die beiden Ratsältesten Niman und Prian - Zwillingsschwestern, die sich selbst im hohen Alter noch immer zum Verwechseln ähnlich sahen - sowie die Hofchronistin Wergan und Neliann, die neben mir saß, vervollständigten die Beratungsrunde.
Als Yenda und ich im Beratungszimmer angelangt waren, hatten sich alle anderen schon vollzählig versammelt und Rodan erklärte ihnen gerade, was nach unseren bisherigen Erkenntnissen mit Aridys geschehen war und dass Yenda Mayg Berlkor als einen der beiden verantwortlichen Magier identifiziert hatte. Dariv stand auf als er uns sah, kam zu uns und zog Yenda beiseite, bis sie außer Hörweite waren. Ich sah, wie Yenda regungslos dastand und einsilbig antwortete, während Dariv eindringlich auf ihn einsprach und ihn dabei an den Schultern hielt. Schließlich tätschelte er ihm den Rücken und schob ihn vor sich her zum Tisch zurück. Yenda nahm schweigend und mit verschlossenem Gesicht seinen Platz zwischen mir und Rodan ein. Ich spürte, dass er sich wieder vollkommen hinter seinen Schilden verschanzt hatte und konnte es ihm nicht verdenken.
Rodan schloss seine Einführung ab und dann las Dariv den letzten Teil von Yendas Bericht vor, den er am ersten Tag unserer Fahrt nach Ylkan verfasst hatte, beginnend mit unserem Betreten des roten Berges. Als er zu der Stelle kam, wo Yenda zwar knapp, aber unverhohlen schilderte, wie er die Flamme von mir auf Aridys übergeleitet hatte und sie dadurch verbrannte, spürte ich wie Yenda neben mir förmlich erstarrte und seine Hand sich um meine krampfte. Wie er wagte ich mir kaum vorzustellen, wie seine Geschwister und die anderen darauf reagieren würden. Dariv las gleichmäßig und beinahe unbeteiligt weiter und ich hörte wie mehrere Leute scharf die Luft einzogen und keuchten. Erlda rückte mit seinem Stuhl zurück und ich sah, wie Helkryn ihn am aufstehen hinderte. Wie sein Bruder war er leichenblass geworden. Rynkan und Growyn sahen aus, als wären sie den Tränen nahe und Nagyn hatte die Fäuste zusammengeballt, so dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Wergan hatte schon lange damit aufgehört sich Notizen zu machen und saß nur noch still da, mit offenem Mund. Es war der Hohepriester, der Dariv nervös und fassungslos unterbrach.
„Sie verbrannte? Aber wie? Und ... wie konntet ihr euch sicher sein ... ich meine, eure Schwester...?“
„Das war nicht meine Schwester“ sagte Yenda tonlos, auf eine Art und Weise, die keinen Widerspruch zuließ. Der Stragan schluckte, doch bevor er noch etwas sagen konnte, mischte sich Neliann ein.
„Tarlon Yenda hat recht. Es war nicht mehr seine Schwester wie er sie kannte. Durch die Trennung der Seele von ihrem Körper wurde ihr Bewusstsein völlig verändert und alles ins Gegenteil verkehrt. Nichts von ihr blieb so wie es war.“
„Wurde sie zu einem dunklen Zwilling…?“ fragte Erlda heiser. Yenda zuckte zusammen und schüttelte heftig den Kopf, und die Stragyn räusperten sich mahnend. Neliann hob ein wenig verwirrt die Achseln. Als sich niemand weiter dazu äußern wollte, fuhr Dariv fort zu lesen. Es wagte keiner mehr zu unterbrechen, auch nicht als er abschließend noch einmal kurz zusammenfasste, was sie von den gefangenen Schneekriegern in Erfahrung gebracht hatten. Dann blickte er Yenda in stummer Aufforderung an und ich begriff jetzt, warum er Yenda vor der Beratung so eindringlich ermahnt hatte. Es durfte nichts verschwiegen werden, so schwer es auch fallen mochte, davon zu erzählen. Yenda nahm sich sichtlich zusammen, bevor er zögernd und stockend begann, von seiner Traumreise zu berichten. Er sprach tonlos und hielt den Blick vor sich auf die Tischplatte gesenkt und es war nur seiner bardischen Schulung zu verdanken, dass er nicht ins Stocken geriet und den Faden verlor. Nur Niman fragte gleich zu Anfang kurz und bemüht sachlich, ob wirklich ganz sicher sei, dass es kein Traum, sondern Wirklichkeit gewesen war, aber gab sich mit Nelianns knapper Bestätigung sofort zufrieden. Die Hofmagierin erschien wieder vollkommen ruhig und ihre beinahe eisige Gelassenheit trug erheblich dazu bei, dass die anderen am Tisch Yenda schweigend zuhörten, bis er zu seiner Vision des zerstörten und verödeten Landes kam.
„Ich kann nicht genau beschreiben, was dann geschah. Ich wanderte weiter und dann war es, als würde ich von etwas angezogen, wie einer Strömung oder einem Sog. Es wurde immer stärker und ich konnte ihm nicht widerstehen. Dann kam ich zu diesem Raum - wie eine Höhle ...“
„Verzeiht, Tarlon, aber könnt ihr sagen, wo das war?“ unterbrach ihn Prian, die andere Ältesten. „Ihr sagtet, ihr hättet alle Orte in Ylkan auf der Wanderung wiedererkannt ...“
Yenda zögerte merklich und schüttelte schließlich den Kopf.
„Nein, nachdem mich die Strömung erfasste, sah ich nichts mehr, was ich wieder erkannte. Auch schien ich mich danach im Inneren der Erde zu befinden, an einem mir unbekannten Ort.“
„Vielleicht wäre es gut, wenn Tarlil Barys und ich an dieser Stelle weiter berichten würden“ warf Neliann ein. Als niemand widersprach, fasste sie in einigen knappen Sätzen zusammen, wie ich sie und Nagyn alarmiert hatte, als ich Yenda nicht wecken konnte, und sie sich entschlossen hatte, mit mir zusammen Yenda zurückzuholen. Ich war ihr dankbar, dass sie es mir dadurch ersparte näher darauf einzugehen, dass ich mit Yenda die Nacht verbracht hatte.
„Bevor wir Tarlon Yenda fanden, wurden wir getrennt. Tarlil Barys begegnete dann einem Wesen, das sie für einen Traumbruder hält und dem sie schon früher begegnet ist.“
Außer Nagyn und den Stragyn wusste keiner der anderen, was ein Traumbruder war und wir mussten eine ausführlichere Erklärung einschieben.
„Ist es ein lebendiges, eigenständiges Wesen oder nur eine Einbildung des jeweiligen Menschen?“ fragte Prian. Neliann schüttelte nur den Kopf und ich zuckte die Achseln.
„Zumeist sind sie wirklich nur Einbildungen, oder Traumgebilde aber es gibt natürlich Ausnahmen. Und ich bin mir bei diesem Wesen nicht mehr sicher, ob es wirklich ein Traumbruder ist. Ich konnte ihn kaum wahrnehmen, aber er kam mir eher vor wie ein Geist. Eine tote Seele.“
„Ich glaube, es ist mein Todeszwilling“ sagte Yenda tonlos und Isan presste sich entsetzt die Hand vor den Mund und keuchte heftig.
„Ein Geist? Wessen Geist? Der von Yendas totem Zwilling?“ fragte Nagyn verwirrt. Ich schüttelte wieder den Kopf.
„Möglich wäre es, aber ich glaube es nicht. Alles was ich weiß, ist dass er - und es ist ein Mann, da bin ich mir sicher - nach Aridys sucht. Nach seiner Schwester. Die Suche macht sein ganzes Sein aus, sein ganzes Wollen und Fühlen.“ Ich versuchte so gut es ging zu beschreiben, wie ich den Traumbruder konfrontiert hatte und wie er mir erschienen war, sowohl vom Aussehen als auch von seinen Gefühlen her und spürte, dass es kaum geeignete Worte gab um dieses seltsame Wesen darzustellen.
„Was konntet ihr denn von ihm erkennen, Mayg?“ fragte Dariv bemüht sachlich. Neliann spreizte die Hände und kniff angestrengt die Augen zusammen.
„Ich konnte ihn nicht richtig wahrnehmen. Für mich war er nicht mehr als ein undeutlicher Schatten. Das ist auch kaum verwunderlich, da sowohl Traumgeschwister als auch Geister nur von Menschen wahrgenommen werden können, die in enger Beziehung zu ihnen oder den Menschen stehen, die sie sich erschaffen haben.“
„Aber wenn er Aridys’ Traumbruder ist .. ist er dann nicht doch Yenda? Irgendwie?“ fragte Growyn. „Aridys brauchte doch keinen anderen Zwillingsbruder … sie hatte doch Yenda -“ Als sie verwirrt abbrach, wurde es einen langen Moment totenstill in der Runde. Isan schloss die Augen und krampfte ihre Hände auf dem Tisch zusammen.
„Aber vielleicht hatte sie einmal einen Zwillingsbruder. Vielleicht wurde er getötet, kurz bevor sie zu uns gebracht wurde. Damit sie Yenda an seiner Stelle annehmen würde, so wie er sie annahm, als seinen verlorenen Zwilling. Weil sie beide ihren Zwilling vermissten.“
„Aber sie war doch Kyakadrin“ protestierte der Hofpriester. „Bei diesem Volk soll es doch keine Zwillinge geben. Gelten Zwillinge dort nicht sogar als unnatürlich?“
„Die Kyakadrin aus der hingerichteten Mörderbande waren alles Zwillinge“ merkte Rodan an. „Sie wollten es nur nicht zugeben.“
„Und Aridys hatte auch ylkanisches Blut, da war ich mir immer ganz sicher“ sagte Isan mit tränenerstickter Stimme. Dariv zog sie sanft an sich und drückte ihr Gesicht an seine Schulter, dabei blickte er Neliann gerade in die Augen.
„Nun? Wie denkt ihr darüber?“ fragte er ruhig. Nelianns Gesicht blieb unbewegt.
„Es würde einiges erklären“ sagte sie. „Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie es im Einzelnen bewerkstelligt wurde - aber es spricht vieles für Kerlil Isans Erkenntnis. Wenn Aridys wirklich einen Zwillingsbruder hatte, muss sie eine sehr starke Verbindung zu ihm gehabt haben, damit er nach seinem Tod in ihrer Traumwelt als Geist - als Traumbruder - weiterleben konnte und dann sogar Zugang zu Tarlon Yendas und Tarlil Barys’ Traumwelt fand. Es bedeutet auch, dass Aridys das auserwählte Werkzeug der beiden Magier war, schon als sie auf die Welt kam oder womöglich schon vorher. Sie müssen es schon sehr lange geplant haben.“
„Und das bringt uns zu den Magiern, über die wir bisher nicht viel in Erfahrung bringen konnten - was sich jetzt hoffentlich ändert“ sagte Rodan. Er sah Isan nicht an, aber ich merkte ihm deutlich an, wie besorgt er um sie war.
„Was geschah weiter in der Höhle? Yenda?“
„Da war dieser Gesang ... wie ein Beschwörungsgesang, er betäubte mich, so dass ich an nichts denken konnte und das Gefühl hatte zu schweben. Und dann sah ich Aridys auf einer Art Altar, sie lag da wie tot. Als ich an dem Altar stand, sah ich ihn - den Todeszwilling - ihren Bruder - mir gegenüber auf der anderen Seite stehen. Er sah mich an und ich war wie gelähmt von seinem Blick.“
„Das war, als wir Yenda fanden“ warf ich ein.
„Mir war, als würde er mich mit seinen Augen festhalten. Es waren keine richtigen Augen, nur schwarze Löcher, wie die Augen eines Totenkopfs. Erst als er den Blick abwandte, kam ich los von ihm. Er wandte sich den beiden Magiern zu und dann erst sah ich sie auf dem Altar sitzen und merkte, dass sie es waren, die die Beschwörung sangen.“
„Und du konntest ihre Gesichter sehen?“ fragte Dariv gespannt, während er Isan weiter festhielt und ihre Haare streichelte.
„Zuerst nicht, sie trugen Kapuzenmäntel. Aber irgendetwas an einem von ihnen kam mir sofort bekannt vor. Seine Gestalt .. und dann wandte er den Kopf und ich sah seine Augen. Er hatte sich etwas verändert, aber die Augen - das waren Mayg Berlkors Augen. Und sein Mund, die Art wie er lachte ..“
„Tarlon - bitte vergebt die Unterbrechung, aber bevor wir fortfahren, sollten wir das unbedingt klären.“ Neliann hielt eine lederne Schriftmappe in den Händen, die sie nun aufklappte. „Ich habe den Magier auch gesehen und nun, nachdem ich meine Unterlagen studiert habe, bin ich sicherer denn je, dass es nicht Mayg Berlkor gewesen sein kann.“
Rodan legte Yenda beschwichtigend die Hand auf die Schulter und beugte sich zugleich etwas vor. „Was macht euch da so sicher, Mayg Neliann? Ihr sagtet selbst, dass ihr Berlkor nie persönlich kennen gelernt habt.“
„Nein, aber ich habe mit mehreren Leuten gesprochen, die ihn kannten. Und ich habe seine Arbeiten studiert. In den Chroniken der Universität befand sich auch eine Kopie seiner Ernennungsurkunde zum Mayg mit einem Bild von ihm. Der Mann auf dem Bild war viel kleiner und von ganz anderer Statur als der Magier in der Höhle. Und er hatte eine Halbglatze und helle Augen - so wie viele Wyrkaner.“
Für mehrere Herzschläge herrschte tiefe Stille rund um den Beratungstisch. Neliann hob den Kopf und runzelte die Stirn, als sie sah wie verwundert die anderen sie anstarrten.
„Wyrkaner..?“ Der Stragan brach als erster das Schweigen. „Aber Wyrkan .. das ist doch im Osten des Nohkran - an der Küste. Berlkor war aus Anndra-Tel. So hieß es zumindest immer. Er sah auch so aus.“
„Er war sehr groß. Groß und hager, und er hatte sehr dunkle Augen“ ergänzte Hellkryn.
Neliann saß regungslos da und ich sah, wie sie versuchte durch tiefes Atmen ruhig zu bleiben.
„Gibt es hier ein Bild von Mayg Berlkor?“ fragte sie schließlich. Die anderen in der Runde sahen sich ratlos an. Wergan räusperte sich und wurde rot, als alle sie gespannt ansahen.
„Mayg Berlkor wollte kein Bild von sich anfertigen lassen. Er sagte, er legte keinen Wert auf solche Eitelkeit.“
Nagyn schnaubte verächtlich. „Eitelkeit? Einen eitleren Mann habe ich nie getroffen. Außer ihm selbst war ihm nichts und niemand wichtig.“
„Und bei unserer Krönung war er noch nicht am Hof, also ist er auch nicht auf unserem Krönungsbild zu sehen“ bemerkte Rodan.
Erlda stand auf und ging zu einem Schrank in der Ecke, wo Schreibmaterialien bereit lagen. Er nahm sich einen mittleren Bogen Papier und einige Stäbchen Zeichenkohle und brachte beides zu seinem Platz zurück.
„Ich zeige euch, wie er aussah“ sagte er heiser. „Yenda, du sagtest, er hätte sich verändert?“
„Ja .. irgendwie schon.“ Yenda massierte sich wieder die Schläfen. „Die Augen waren dieselben und die Nase auch ..“ Erlda zuckte die Achseln und fing an zu zeichnen. Helkryn hielt ihm das Papier fest und die Brüder berieten sich zwischendurch flüsternd. Erlda zeichnete mit sparsamen sicheren Strichen das Gesicht des Magiers im Halbprofil und deutete Hals und Schultern an. Seine Schwestern und sein Vater reckten die Hälse um ihnen zuzusehen, während die anderen nervös schweigend warteten. Isan hatte sich wieder von Dariv losgemacht und hielt den Kopf in ihre Hände gestützt, während Rodan ihr sachte über den Arm strich und leise auf sie einsprach.
Schließlich hielt Erlda das Bild kritisch von sich ab und sah seinen Bruder an, der zustimmend nickte. Dann reichte er es Neliann herüber.
„Es ist nicht perfekt, aber es sollte euch einen Eindruck geben“ bemerkte er. Neliann blickte stumm auf das Bild und schüttelte fast sofort entschieden den Kopf.
„Nein, das ist nicht Mayg Berlkor. Nicht der Mayg Berlkor aus der Universität in Nakuren.“
Der Mann auf der Zeichnung hatte ein scharfkantiges Gesicht mit breiten Wangenknochen und sehr dunklen schmalen Augen unter dichten schwarzen Augenbrauen. Ich erkannte die Augen und den weit geschwungenen Mund mit dem grausamen Zug darum wieder, doch wie Yenda gesagt hatte, etwas war anders. Die strähnigen schwarzen Haare waren größtenteils von der Kapuze verdeckt gewesen, aber die waren es nicht…
Yenda und ich erkannten es gleichzeitig.
„Seine Haare waren weiß!“
„Er hatte ganz weiße Augenbrauen!“
Die anderen am Tisch sahen sich gegenseitig verblüfft an und reckten die Hälse, um das Bild zu betrachten, das Neliann jetzt auf die Mitte des Tisches legte.
„Ganz weiße Haare? Nicht grau?“ fragte Nagyn verwundert. „In einem Jahr? Das ist sehr ungewöhnlich.“
Dariv nahm das Bild auf und gab es Erlda wieder zurück. „Kannst du die Haare ändern? Ich glaube, damit kämen wir ein Stück weiter.“
Erlda zuckte die Achseln und kramte in seinen Hosentaschen nach einem Nasentuch. Er entfernte vorsichtig mit einem Zipfel die Zeichenkohle auf den Haaren und Brauen und fügte ein paar feine Striche hinzu. Am Ende war das Bild hie und da etwas verschmiert, aber das Gesicht sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Haare und Augenbrauen waren nun schneeweiß, so dass die dunklen Augen beinahe wie Löcher wirkten.
Dariv und Rodan wechselten einen wissenden Blick. Yendas Geschwister und Wergan sahen etwas ratlos drein, aber die Ratsältesten und die Stragyn starrten das Bild bestürzt an. Neliann öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber Nagyn kam ihr zuvor.
„Ein Kyakadrin“ stieß er hervor und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass es das Bild beinahe fort wehte. „Waren wir denn alle blind?“
„Er muss sich die Haare gefärbt haben“ sagte Wergan mit schwankender Stimme.
„Er trug fast immer eine Kapuze oder ein langes Kopftuch“ warf Growyn ein.
„Wir haben uns alle gründlich täuschen lassen“ sagte Dariv ruhig. „Wie hätten wir es auch vermuten können? Nach der Königswahl baten wir bei der Universität von Nakuren um die Entsendung eines Traummagiers und als er eintraf und seine Referenzen vorwies, bestand kein Grund ihm nicht zu glauben.“
Neliann sah ihn groß an. „Referenzen?! Aber woher .. oh, Ann sei uns gnädig. Er hat ihn ermordet.“
„Den echten Berlkor, ja, als der auf dem Weg nach Ylkan war.“ Darivs Stimme klang immer noch sachlich, aber ich spürte deutlich die unterdrückte Wut in ihm.
„Aber wie - woher wusste er, dass ein Traummagier erwartet wurde?“
„Oh, das war allgemein bekannt.“ Auch Rodans Stimme war fast tonlos vor Zorn. „Das Königspaar vor uns - zumindest der Kerlon - wollte keinen Mayg am Hof haben. Als wir gewählt wurden, ließen wir alle Hofämter neu besetzen und neben allem anderem wollten wir auch einen Traummagier haben, wie die anderen Königreiche. Die Nachrichtensänger haben wochenlang davon gesungen. Alles was er tun musste, war die Postkutschenstationen beobachten zu lassen. Vielleicht hatte er auch Kontakte in Nakuren. Irgendwie hat er es geschafft, Yl weiß wie.“
Neliann starrte das Bild an, als wollte sie sich die Gesichtszüge des falschen Berlkors in ihr Gedächtnis brennen.
„Es erscheint mir immer noch merkwürdig“ sagte sie endlich. „Wir wissen nicht viel über die Kyakadrin, aber soviel ist sicher, sie kennen keine Traummagie - ja, sie lehnen sie sogar ab. Das ist einer von vielen Gründen, warum es so wenig Kontakt zwischen ihnen und den Völkern des Nohkran gibt. Sie misstrauen und fürchten uns. Wie kann es da einen kyakadrinischen Magier geben, der sich noch dazu als nohkresischer Traummagier ausgeben konnte, ohne entdeckt zu werden?“
Dariv drehte das Bild sachte zu sich und wechselte einen stummen Blick mit seinem Bruder.
„Die Schneekrieger sind offenbar keine echten Kyakadrin“ sagte er schließlich. „Nachdem was wir wissen, leben die Kyakadrin in losen Stammesverbänden und von diesen Stämmen hat jeder ein eigenes Abzeichen, ein Zeichen, das allen erwachsenen Angehörigen in die Stirn tätowiert wird. Aber die Schneekrieger sahen zwar aus wie Kyakadrin, aber keiner von ihnen trug ein Abzeichen, so wie auch dieser Magier keine Tätowierung hat.“
„Und es befanden sich mehrere Zwillingspaare unter ihnen. Also hatten sie vermutlich ylkanisches Blut.“
Nagyn zog die Brauen zusammen und nagte an einem Daumennagel, während er finster das Bild studierte. „Ich kann nichts ylkanisches sehen“ brummte er schließlich. Der Hofpriester legte den Kopf schief.
„Vielleicht die Augen?“ schlug er vor. „Haben Kyakadrin nicht immer sehr lange schmale Augen?“
„Seine Haare sind auch zu glatt“ sagte ich und als mich alle ungläubig anstarrten - außer Neliann, die zustimmend nickte - fügte ich beinahe entschuldigend hinzu „Für einen Nicht-Ylkaner ist es deutlich zu sehen.“
„Das erklärt auch, warum der Jenseitige Aridys zu sich ließ“ sagte Neliann. „Eine reine Kyakadrin hätte er vermutlich erkannt, ob sie nun eine ylkanische Clanstochter war oder nicht.“
Niman, die Ratsälteste, räusperte sich energisch. „Wenn ich einmal zusammenfassen darf? Wir wissen jetzt, unser letzter Mayg war in Wirklichkeit ein Kyakadrin, von einem Stamm, der sich irgendwann wie auch immer mit Ylkanern vermischt hat und in dem Traummagie praktiziert wird. Und die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass Tarlil Aridys ebenfalls aus diesem Stamm kam. Vielleicht war sie sogar mit Berlkor - ähm, dem Magier verwandt.“
„Und dieser Stamm oder besser gesagt, Angehörige dieses Stammes unter der Führung des Magiers, versuchten Ylkan oder sogar den Nohkran mithilfe von Aridys und des Dämons zu zerstören“ fuhr ihre Schwester Prian fort.
„Nicht zu vergessen die Magierin - die Gefährtin des Magiers“ sagte Neliann. „Vielleicht ist sie auch seine Zwillingsschwester?“
Ich erinnerte mich plötzlich an etwas, das Isan an diesem Morgen erzählt hatte.
„Die Frau, die Aridys hierher brachte und dann verschwand. Wie sah sie aus?“
Isan sah hilflos zu Nagyn hinüber und zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht mehr genau. Es ist sehr lange her ... Sie trug ein langes Kopftuch, obwohl es sehr warm war, das weiß ich noch. Es bedeckte ihre Haare. Aber sie hatte dunkle Augen, da bin ich mir fast sicher. Und sie war groß und hager.“
„Dann besteht ja wohl kein Zweifel mehr, dass es die Magierin war“ meinte der Stragyn entschieden.
Rynkans ungeduldige Stimme schnitt durch das zustimmende Gemurmel rings um den Tisch. „Schön und gut, aber sind wir wirklich weitergekommen? Wir wissen jetzt ein wenig mehr über die Herkunft der beiden Magier und was sie planten, aber hilft uns das wirklich weiter? Viel wichtiger ist doch, wie wir sie finden können.“
„Vielleicht wenn wir in Erfahrung bringen könnten, wo sich dieser eine Stamm aufhält?“ schlug Growyn vor. Dariv schüttelte den Kopf.
„Es sind Nomaden“ sagte er ruhig. „Sie wechseln immer wieder ihren Standort. In den südwestlichen Bergen, zwischen dem Andowyn-Tal und dem Messerberg, näher lässt es sich nicht einkreisen. Und es ist gut möglich, dass sich die Magier jetzt ganz woanders aufhalten.“
„Wir könnten aber trotzdem versuchen diesen Stamm zu finden“ beharrte Growyn eigensinnig.
„Wenn es ihn noch gibt.“ Yenda hatte so lange geschwiegen, dass alle zusammenzuckten, als er sich wieder vernehmen ließ. „Ich meine - es kann kein besonders großer Stamm gewesen sein, oder wir hätten mehr von ihm gehört. Und es sind eine ganze Reihe von ihnen hingerichtet worden.“
„Gehörten die beiden begnadigten Rebellen zu ihnen?“ fragte ich. Rodan schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nein, das sind eindeutig reine Kyakadrin, sie tragen beide ihre Abzeichen. Sie waren auch erst bereit mit uns zu verhandeln, nachdem klar war, dass ihre Stämme sie nicht mehr aufnehmen wollten.“
„Aber vielleicht wissen sie wo der Stamm sich aufhält ...“ Growyn brach unvermittelt ab, als ihr Vater sie ansah. „Aber das habt ihr sie vermutlich auch gefragt ...“
„Ganz recht“ bestätigte Rodan trocken. „Und selbst wenn sie es gewusst hätten, es wäre umsonst gewesen, da es doch unvorstellbar ist, dass der Stamm weiter dort geblieben wäre. Das wäre doch Selbstmord.“
„Was können wir denn dann noch gegen sie unternehmen?“ fragte Growyn entmutigt.
„Erst einmal nichts“ erwiderte Dariv resigniert. „Aber es gibt noch einiges, was wir tun sollten. Vor allem wird es jetzt höchste Zeit, dass der nohkresische Ältestenrat informiert wird, damit er eine Clanversammlung einberuft. Sonst werfen sie uns womöglich wieder vor, wir würden zu eigenmächtig handeln. Es liegt an ihnen zu entscheiden, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Das wird sicher sehr lange dauern und sehr umständlich werden, aber so ist nun einmal das Gesetz. Nur wenn wir sicher sein könnten, dass diese Magier nur danach trachten, das ylkanische Königshaus zu zerstören, könnten wir das auch selbst angehen, aber wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass die Sicherheit, ja die Existenz des Nohkran in höchster Gefahr sein könnte.“
„Aber was können sie denn noch tun? Aridys ist doch keine Gefahr mehr für uns“ wandte der Hofpriester ein. Neliann schüttelte den Kopf.
„Das wissen wir nicht mit völliger Sicherheit. Was, wenn sie doch einen Weg finden, vielleicht durch die Jenseitigen, sie wieder zurückzuholen? Oder gar noch weitere, noch zerstörerische Kräfte freizusetzen?“
Die beiden Ratsältesten tauschten ein paar geflüsterte Worte und Prian räusperte sich.
„Was schlagt ihr vor, Kerlonel? Soll jemand nach Nakuren entsandt werden und wenn ja, wer?“
Dariv sah zu mir und Yenda hinüber und lächelte bitter.
„Yenda und Tarlil Barys sind am besten geeignet“ sagte er. „Wir lassen Yenda nur ungern wieder gehen, nachdem er so lange fort war, aber er und Barys sind am stärksten gefährdet durch die Magier und wir können nicht riskieren, dass ihnen noch mehr geschieht. Tarlil Barys muss sowieso bald nach Baleh zurückkehren, so lässt sich das wahre Ziel der Reise auch gut verschleiern. Trotzdem müssen wir natürlich extrem vorsichtig sein und sie gut bewachen lassen.“
Yenda öffnete den Mund um etwas zu sagen, dann starrte er Dariv wie gebannt ins Gesicht, klappte den Mund wieder zu und senkte den Kopf. Rodan drückte ihn an der Schulter.
„Ich stimme zu“ sagte Neliann. „Bei der Gelegenheit können sie auch die Traummagieuniversität in Nakuren über den Tod von Mayg Berlkor informieren.“
„Dann sind wir uns einig?“ fragte Rodan in die Runde und die Versammelten nickten und gaben murmelnd ihre Zustimmung.
„Und was können wir jetzt unternehmen?“ fragte Growyn energisch. „Es muss doch etwas geben - ich möchte wirklich nicht herumsitzen, während dieses - Monster seinen nächsten Angriff plant ...“
„Wir wissen jetzt, nach wem wir suchen“ entgegnete Dariv kurz. „Der Magier hatte ein Haus in der Stadt, das können wir erstmal beschlagnahmen und durchsuchen lassen - vielleicht gibt uns das ja einen Hinweis. Es könnte nach all der Zeit noch eine Spur geben, die wir verfolgen können.“
Growyn sah nicht sehr überzeugt aus, aber sie nickte widerwillig. Die beiden Ratsältesten berieten kurz miteinander und erhoben sich dann, um zur Stadt zurückzukehren und die Ratsversammlung zu informieren. Als die Königszwillinge die Beratung aufgehoben hatten, nahm Yenda meine Hand, stand abrupt auf und zog mich mit sich aus dem Beratungszimmer zur Treppe. Aus seinem Gesicht war nichts abzulesen, aber er umklammerte meine Hand wieder so fest, dass es wehtat und ich den Griff fast gewaltsam lockern musste. Ich dachte erst, er wollte zu seinem Turm zurück, doch auf der großen, in der Nachmittagshitze menschenleeren Terrasse angelangt ging er weiter geradeaus bis zu dem Geländer unter den großen Fahnenmast und lehnte sich dort dagegen, mit den Armen auf dem warmen Stein und meine Hand immer noch in seiner. Eine Weile standen wir so nebeneinander und sahen schweigend in das sonnendurchflutete Tal unter uns hinunter. Hinter den Dächern und Mauern von Ylkyr konnte man das bunte Gewimmel auf dem Festplatz ausmachen.
Yenda setzte einige Male zum reden an und brach wieder ab. Über seine Hand merkte ich, wie seine Schilder schwächer wurden und immer mehr von dem Konflikt in ihm zu mir durchbrach.
„Yonann ..“
„Ich weiß. Du willst nicht nach Nakuren.“
Yenda starrte mich an und nahm mich dann abrupt in die Arme. Er drückte sich so fest an mich, dass mir fast die Luft wegblieb.
„Ich kann nicht ... ich weiß, ich sollte gehen, das andere ist Wahnsinn - ja, sicherer Tod - aber ich kann einfach nicht. Ich muss zu ihr. Ob ich will oder nicht ...“
„Zu deiner Schwester? Auch jetzt noch?“
„Mehr denn je. Es zieht mich immer noch zu ihr hin, ich spüre es ganz deutlich und es macht mich verrückt. Sie lebt noch, oder wenigstens ihr Körper lebt noch, da bin ich ganz sicher. Und ich muss zu ihr, bevor – bevor sie stirbt. Und die Magier - wenn es nicht anders geht, muss ich mich ihnen stellen. Ich muss wissen, warum sie mir das angetan haben ... Und es geht nicht nur um mich, aber ... Aridys war meine Schwester. Mein Zwilling. Ich muss das für sie tun. Es ist noch nicht vorbei.“
„Ich weiß.“
Yenda nahm meinen Kopf in seine Hände und legte seine Stirn an meine.
„Aber ich will mich nicht von dir trennen. Noch einmal alleine - das kann ich nicht, nicht nachdem ich dich gefunden habe ...“
Ich wartete, bis sich sein Atem ein wenig beruhigt hatte.
„Ich auch nicht. Und was mehr ist ... ich will auch nicht nach Nakuren.“
Yenda starrte mich verständnislos an.
„Warum nicht? Hast du keine Angst vor den Magiern?“
„Doch, es macht mir Angst. Ich weiß, dass sie vor nichts zurückschrecken würden. Aber da ist noch etwas anderes, etwas, dass mir wirklich Sorge bereitet. Yenda, dieser Traumbruder - wir können ihn nicht seinem Schicksal überlassen. Und nur wir beide können ihn wahrnehmen, in Kontakt mit ihm treten, niemand sonst. Ich fühle mich verantwortlich für ihn. Wir müssen mehr über ihn erfahren und wir müssen verhindern, dass er mit den Magiern zusammenkommt.“
„Aber sie haben ihn doch gar nicht gesehen. Und er kam nicht an sie heran.“
„Vielleicht werden sie ihn eines Tages wahrnehmen. Und wenn sie herausfinden, wer oder was er ist, könnten sie versuchen, ein anderes Jenseitiges zu sich zu rufen und es mit dem Traumbruder eine Verbindung eingehen lassen.“
Yenda wandte den Kopf und starrte ins Tal hinunter.
„Du willst also wirklich mitkommen? Mit mir alleine? Yonann - ich bin nicht sicher, ob ich das zulassen kann. Es ist anders als vorher, da wusste ich, dass dir keine Gefahr drohte von dem Jenseitigen. Aber jetzt - wir würden ja mit offenen Augen in unser Verderben rennen.“
„Noch haben wir ja nichts entschieden“ sagte ich schwach. „Und dann - wie willst du deine Schwester überhaupt finden? Weißt du wirklich, wo sie ist?“
„Nein, ich kann dir nicht sagen wo sie ist, aber ich weiß, wie ich zu ihr komme, wo ich hingehen muss. Als ich vor einem Jahr aus dem Schloss floh, um sie zu suchen, da wusste sich auch, wohin ich mich wenden musste, ohne dass ich hätte sagen können wie.“
Ich hielt den Atem an. „Dann könntest du deine Schwestern - die Gardisten - zu ihr führen? Warum hast du das nicht bei der Beratung gesagt?“
Yendas Gesicht verschloss sich. „Nein, das geht nicht. Frag mich nicht warum, aber es geht nur, wenn ich alleine bin - oder vielleicht nur mit dir, aber nicht mit anderen. Schon gar nicht mit einer Truppe Gardisten. Das wäre auch viel zu auffällig, es würde alles verraten. Dann würden wir gar nichts erreichen.“
„Du meinst, alleine haben wir eine bessere Chance gegen die Magier?“
Yenda massierte sich wieder seine Schläfen und verzog gequält das Gesicht.
„Yonann, ich weiß doch wie verrückt sich das anhört. Ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg. Wenn ich hier bleibe, verliere ich den Verstand, wenn ich dich verlasse auch, und wenn ich in die Gewalt der Magier gerate, verliere ich mein Leben, oder womöglich noch mehr. Ich habe einfach keine Wahl mehr. Meine einzige Chance ist meine Schwester zu finden, ohne dass die Magier es merken. Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll, aber ich muss es versuchen.“
„Das klingt, als könntest du ein wenig Hilfe gebrauchen“ sagte Dariv trocken hinter ihm.
Yenda ließ die Hände sinken und drehte sich langsam um. Wie ich hatte er die beiden Königszwillinge nicht kommen hören, obwohl sie sich bestimmt nicht angeschlichen hatten. Außer ihnen war niemand auf der Terrasse, auch Isan war nicht bei ihnen.
Rodan lächelte uns ein wenig wehmütig an. „Willst du dich schon wieder heimlich davonmachen, Sohn? Uns hat einmal gereicht…“
Yenda stand ganz still und sah abwartend und leicht verwirrt von einem Zwilling zum anderen.
„Yenda, du machst wieder den gleichen Fehler wie vor einem Jahr. Nur weil es einmal gut gegangen ist, heißt das nicht, dass es dir jetzt wieder gelingen wird. Willst du dir nicht diesmal ein wenig helfen lassen?“
Yenda schluckte. „Du willst, dass ich ... ihr schickt mich nicht nach Nakuren?“
Dariv grinste breit und für einen kurzen Moment sah ich den jungen Drachenkopf in seinem Gesicht.
„Nun, offiziell schon. Je unauffälliger wir das alles anstellen, desto besser. Ihr beide bekommt eine Kutsche und eine Eskorte von Gardisten, nehmt ganz normal euren Abschied und macht euch auf den Weg. Helkryn und Erlda haben ja ihren Hof bei Byrdowyn, also nehmt ihr sie mit und legt da eine kleine Pause ein - was wäre natürlicher? Und ich denke, danach wird keiner mehr darauf achten, wer mit der Kutsche nach Nakuren fährt und wer nicht.“
Yenda schien keine Worte zu finden. Rodan wandte sich zu mir.
„Ich weiß, dass wir Yenda nicht zwingen können, hier zu bleiben“ sagte er. „Und darum bin ich auch sehr froh, dass er jetzt dich bei sich hat. Dass er sich so völlig allein auf den Weg gemacht hat vor einem Jahr - das hat uns am meisten Sorgen gemacht. Aber andererseits könnten wir es uns nie verzeihen, wenn dir etwas zustoßen sollte. Wir schulden dir jetzt schon soviel Dank, nicht nur um Yendas willen.“
Ich versuchte zu lächeln, aber es gelang mir nicht ganz. „Ich weiß, aber soviel habe ich doch gar nicht getan. Und wie Yenda sagte, ich habe eigentlich auch keine andere Wahl. Und da bin ich froh, dass ich mich nun doch nicht heimlich mit ihm davonstehlen muss.“
Dariv grinste und lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer.
„Noch einmal wärst du uns auch nicht so leicht entwischt, Yenda. Aber du hast vollkommen recht, es würde nichts nutzen, euch von einer Gardistentruppe begleiten zu lassen. Alleine habt ihr eine viel bessere Chance, das Versteck der Magier zu finden. Aber danach - dann wäre es doch sicher für alle besser, wenn ein Trupp Gardisten in der Nähe wäre?“
„Rynkan meinte erst kürzlich, ihre Gardisten bräuchten dringend ein Manöver“ ergänzte Rodan. „Sie könnten in eurer Nähe bleiben, sagen wir eine Tagesreise entfernt. Und sobald ihr erkennt, wo sich die Magier aufhalten, können sie zuschlagen.“
Yenda schienen immer noch die Worte zu fehlen. Auch ich wusste kaum, was ich von der seltsamen Wendung der Dinge halten sollte. Irgendwie ging mir auch alles zu schnell. Ich überlegte was meine Tante wohl von dem Plan halten würde und wusste sofort, dass sie mir auch hier völlig freie Hand lassen würde.
„Und wer wird dann nach Nakuren fahren an unserer Stelle?“ fragte Yenda endlich. Rodan zuckte die Achseln.
„Vielleicht Hel und Erl - oder auch Neliann, wenn sie möchte. Allerdings könnte es sein, dass wir sie noch hier brauchen in nächster Zeit. Wir geben ihnen eure Berichte mit und die vollständige Akte über die Schneekrieger, und dann müssen wir abwarten, wie der Ältestenrat von Nakuren entscheidet.“
„Und .. Mutter?“ fragte Yenda zögernd. Als Dariv ihn fragend ansah, schluckte er nervös. „Weiß sie schon - davon?“
Dariv seufzte. „Nun, im Wesentlichen ja und natürlich ist sie nicht glücklich darüber. Das ganze wird immer schwieriger für sie zu verkraften und wir wollen sie so weit wie möglich da heraushalten. Aber sie weiß genau so gut wie wir, dass es keine andere Möglichkeit gibt für dich. Du musst die Sache zu Ende bringen und du bist der einzige, der es tun kann. Aridys war - ist - deine Zwillingsschwester. Und sie wird es immer sein.“
Yenda starrte ihn an. „Ist sie das wirklich? Niemand hat das wirklich geglaubt. Sie war immer nur die erwählte Schwester ...“
„Aber du hast uns inzwischen bewiesen, dass sie deine wahre Schwester ist“ unterbrach ihn Rodan. „Das was du geschafft hast - sie zu finden, ohne zu wissen wo sie ist, im Traum und in der Wirklichkeit - ich glaube nicht, dass andere Zwillingspaare das auch schaffen könnten, selbst mit der Clangabe. Ich persönlich würde es nicht darauf ankommen lassen wollen. Es tut mir nur leid, dass du deine Schwester erst verlieren musstest, um das herauszufinden.“
Dariv verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf zurück. „Es verstieß gegen alle Gesetze, als im ylkanischen Königshaus ein Tarlon ohne Zwilling geboren wurde -und ganz besonders, als wir es akzeptierten und uns weigerten darin ein schlechtes Omen zu sehen. Als wir gewählt wurden, wussten wir, dass es Zeit war so einige unserer Gesetze und Traditionen endlich mal - nun, zu überdenken. Wir dachten zuerst, du hättest einen unsichtbaren Zwilling, so wie viele Ylkaner, die alleine geboren werden, aber als Aridys gebracht wurde, erkannten wir, dass du dir deinen Zwilling selber wählen wolltest. Und wenn Yl es zulässt, dass ein Tarlon sich seinen Zwilling erst nach seiner Geburt erwählt, dann muss es doch in seinem Sinne sein. Und wer sind wir, dass wir uns gegen Yls Willen stellen dürfen?“
„Jeder von uns hat sein auferlegtes Schicksal“ fügte Rodan hinzu. “Die Aufgabe der meisten Zwillinge im Königshaus ist es, niemals zuzulassen, dass irgendetwas oder jemand sie auseinander bringt, vor allem nicht sie selbst. Aber manchen von uns ist von Wyr auferlegt, seinen Zwilling zu verlieren und wieder zu finden. Wie auch dein Namenspatron, Yenda von Ylkan, der seine Schwester in den Bergen verlor und sein ganzes restliches Leben mit der Suche nach ihr zubrachte.“
„Habt ihr wirklich deshalb diesen Name gewählt?“ fragte ich entsetzt. „Ich meine - die Wahl des Namens hat großen Einfluss auf das Schicksal des Kindes, so heißt es zumindest bei uns ...“
„Oh, bei uns auch“ Dariv legte den Kopf ein wenig schief und kniff die Augen zusammen. „Tatsächlich wählten wir den Namen erst bei der Namensgebungszeremonie, und die fand erst statt, nachdem Aridys gebracht worden war.“ Er grinste und tätschelte Yenda die Schulter. „Vorher hieß er immer nur ‚der Schreihals’ oder ‚das Trollkind’. Und Yenda an sich ist kein so bedeutungsvoller Name. Auf ylkanisch bedeutet er einfach ‚Yl sieh mich’ oder so ähnlich.“
„’Yl sieh uns’“ sagte Yenda bestimmt. „Im alten ylkanisch gab es keine Namen für eine einzelne Person. Jeder Name beinhaltet ein Doppelwesen.“
Dariv und Rodan grinsten sich an. „Dann passt es ja noch besser. Und Yl sieht dich, Sohn, da waren wir uns immer sehr sicher. Also geh und finde deine Schwester.“ Rodan sah von Yenda zu mir. „Ihr beide .. und ich hoffe ihr findet auch diesen Traumbruder. Ich beneide euch wahrhaftig nicht um diese Aufgabe. Was ich bisher von ihm gehört habe, bereitet mir fast selber Alpträume. Ich hoffe, er findet irgendwie seinen Frieden.“
„Wir werden tun, was wir können“ sagte ich. Es klang nicht halb so sicher wie ich es beabsichtigt hatte.
Yenda atmete tief ein und stieß sich von der Mauer ab. „Wann sollen wir aufbrechen?“ fragte er scheinbar ruhig.
Die Zwillinge zuckten fast gleichzeitig die Schultern und Dariv schüttelte den Kopf. „Sobald es geht. Wir sprechen gleich mit deinen Schwestern - und wenn alles gut geht, könntet ihr morgen schon losfahren. Je eher desto besser.“
„Mir wäre es lieber, ihr sagt es Rynkan und Growyn erst, wenn wir weg sind.“
Dariv runzelte die Stirn, aber Rodan nickte zustimmend.
„Das denke ich auch. Ihnen wird der Plan nicht gefallen.“ Dariv und er grinsten sich verschwörerisch an. Yenda überlegte weiter.
„Was ist mit meinen Jungs? Darf Mendy sie mitnehmen, falls sie nicht hier bleiben will?“
Rodan legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen um sie. Wir haben uns um deine Söhne gekümmert, als du weg warst und wir werden auch jetzt eine Lösung finden. Isan wird sich ihrer mit Freuden annehmen und wenn Mendy sie behalten will, werden wir versuchen, auch das zu regeln. Nur tu uns und ihr den Gefallen und komm heil und gesund zurück. Das gilt natürlich auch für dich“ sagte er zu mir und grinste. „Ich möchte mich nicht vor Kerlil Mona verantworten müssen.“
„Oh, meine Tante wird es verstehen, was immer passiert“ entgegnete ich. „Tatsächlich mache ich mir viel mehr Sorgen wegen des Traummagierrats von Baleh. Wenn ich nicht vor Beginn des Wyrviertels zurückkomme und meine restliche Strafe ableiste, werden sie mich aus Baleh verbannen, dann darf ich nie wieder zurückkehren.“
Dariv und Rodan starrten mich erschrocken an und sogar Yenda sah verblüfft drein - solange bis ich grinste und dann lachten die beiden so heftig, als wollten sie sich nicht wieder beruhigen. Yenda legte einen Arm um meine Schultern.
„Ich bringe dich rechtzeitig zurück“ versprach er. „Und wenn du willst, leiste ich dir auf dem Pranger Gesellschaft. Vielleicht lassen sie mich sogar etwas spielen.“
„Aber bitte keine von den Balladen über mich.“
Yenda grinste. „Balladen über dich von anderen Barden? Nein danke. Bis dahin hab ich eine eigene geschrieben. Ich brauche eigentlich nur noch einen guten Titel ...“

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