Babas Welt
Samstag, 26. Dezember 2009
Kapitel 27

Kapitel 27

Im Jahr 399 nach der Landung, am 1. Neumondstag in Yls Jahrviertel

Der Aschenturm des Königshauses von Ylkan erhebt sich in der Mitte eines großen Gartens am Fluss nahe dem südlichen Stadttor. Seit sich die ersten Clanfamilien nicht lange nach der Landung in dem Ylkyrintal niederließen und nach und nach ihr Volk um sich scharten und ihr Reich aufbauten, wurde die Asche der Clantoten in diesen Turm gebracht. Er ist eines der ältesten Gebäude von Ylkan. Was zunächst als einfacher steinerner Tempel begann, wurde mit der Zeit immer mehr erweitert und vergrößert und ist heute ein wuchtiges, mehrstöckiges Gebäude mit hohen schmalen Fenstern, größer als das Drachenschloss. Der Garten um den Aschenturm herum wurde nach und nach angelegt, mit kleinen Hainen und einzeln stehenden alten Bäumen, und Blumenwiesen, auf denen hie und da Statuen von ylkanischen Königspaaren und anderen Clanangehörigen aufgestellt wurden, die sich einen Namen gemacht hatten. Wenn man sich der Stadt von den Bergen im Süden her nähert, führt der Weg zum Turm für einige Zeit durch eine felsige karge Einöde, so dass der Anblick der Bäume und Wiesen des Gartens wie eine Oase in der Wildnis erscheint oder der Eingang zu Yls Traumreich nach der Wanderung der Seele durch Anns Totengefilde.
Die Pflege und Instandhaltung des Turms und des Parks obliegt den Priestern des Drachentempels von Ylkan und der Hohepriester, der zugleich der Hofpriester oder Stragan ist (wenn er sich das Amt nicht mit seinem Zwilling teilt), leitet die Todeszeremonien, wenn die Urne mit der Asche eines Clanzwillingspaares zum Aschenturm gebracht und an ihren Platz gestellt wird. Jede Urne hat ihren eigenen Platz, eine kleine Nische in den Wänden des Vorraums oder den Räumen darüber oder in den Säulen und Zwischenwänden, die die Zimmerfluchten abgrenzen.
Bereits wenn ein Zwillingspaar des Königshauses zur Welt kommt, wird eine Urne für ihre Asche angefertigt. Für gewöhnlich besteht sie aus weißem Stein, oder Ton, oder auch aus Holz, wenn es gewünscht wird, selten aus Metall. Auf der Urne wird das Wappen von Ylkan und eine Kartusche mit den Namen und dem Geburtsdatum des Zwillingspaares angebracht, sowie weitere Verzierungen, die ihre Besitzer wünschen. Die Urnen der Königzwillinge sind zusätzlich mit einer stilisierten Krone versehen.
Die für Aridys und mich bestimmte Urne hatte ihren Platz in einem der hinteren Räume gegenüber einem der schmalen Fenster. Meine Zwillingsväter und der Stragan hatten die Überreste meines im Mutterleib gestorbenen Zwillings in aller Heimlichkeit darin bestatten lassen, nachdem sie vor drei Jahren ans Tageslicht gekommen waren. Für Aridys’ Totenfeier nach ihrem Verschwinden war die Urne noch einmal von ihrem Platz geholt worden, obwohl es keinen Körper gegeben hatte, der verbrannt werden konnte. Und nun hatten wir die Urne meines toten Zwillings zum dritten Mal öffnen müssen, damit sie die Asche meiner Schwester aufnahm. Der Stragan hatte zuerst Bedenken gehabt, er hätte es vorgezogen, für Aridys und die unsichtbare Asche ihres Bruders eine eigene Urne fertigen zu lassen, nun da feststand, dass sie eine Clanangehörige gewesen war und einen richtigen Zwillingsbruder gehabt hatte. Doch ich konnte ihn davon überzeugen, dass ich mich mit Aridys zeitlebens so verbunden gefühlt hatte, als wäre sie wirklich meine Zwillingsschwester gewesen, obwohl – oder gerade weil – wir beide noch einen anderen Zwilling gehabt hatten, dessen Tod es uns erst ermöglicht hatte, diese besondere Bindung miteinander einzugehen. So war es nur angebracht und im Sinne der Traditionen, wenn unsere Asche einmal zusammen in einer Urne vereinigt werden würde, auch wenn ich nicht mit ihr zusammen gestorben war.
Und warum nur war ich nicht auch gestorben als Aridys starb? Warum hatte ich es überlebt, als ihre Seele von ihrem Körper gelöst wurde? Nach den Ereignissen in der Höhle und während der Rückreise war ich zu benommen gewesen, um darüber nachzudenken, aber nun ließ mir der Gedanke keine Ruhe mehr. Yonann hatte, praktisch wie immer, eine Erklärung parat, und so weh es auch tat, ich konnte nicht anders als ihr Recht geben.
„Ihr wart zulange voneinander getrennt“ sagte sie. „Es ist als wärest du von ihr entwöhnt worden. Und du hattest schon einmal einen Zwilling verloren und bist nicht gestorben. Und dann kommt noch hinzu, dass der Traumbruder an deiner Stelle gestorben ist. Das hat dich bewahrt.“
Vor dem Eingang des Aschenturms steht ein Drachenaltar vor einem aus weißen Säulen gebildeten Halbkreis. Hier werden die Totenfeiern abgehalten. Hinter dem Altar mit der Drachenstatue sind weitere, kleinere Altäre für die anderen drei Gottheiten aufgestellt. Auf Bals Altar steht eine Schale, in der ein Feuer Tag und Nacht in Gang gehalten wird, und auf Anns Altar sprudelt Wasser als kleiner Springbrunnen aus einer Vertiefung in der Mitte. Auf Wyrs Altar wurde ein Glockenspiel aus Kristall angebracht, mit dem jeder leiseste Windhauch durch das zarte Klingen der Kristallscheiben zu hören ist.
Seit jeher werden die Clanangehörigen nach ihrem Tod für eine Nacht in der Eingangshalle des Rathauses von Ylkyr aufgebahrt (die Königspaare für zwei Nächte), damit die nächsten Verwandten die Totenwache halten und jeder ylkanische Bürger von den Toten Abschied nehmen kann. Im Morgengrauen werden die Leichen ins Krematorium zum Einäschern gebracht und danach bringen die Clanangehörigen in einer langen Trauerprozession, begleitet von den Priestern, die Urne zum Aschenturm. Während der Prozession wird die Urne unter den Clangehörigen weitergereicht, so dass jeder sie einmal getragen hat, bevor sie vor dem Eingang des Turms auf Yls Altar gestellt wird. Nur einmal, nach der letzten Schlacht vor den Toren Ylkyrs, hatte es bei der Trauerprozession der Königsfamilie nicht mehr genug überlebende Familienmitglieder gegeben um alle Urnen der in der Schlacht gefallenen Clanzwillinge – darunter die damaligen Kerlilel – zum Aschenturm zu tragen, so dass die Urnen auf eine Trage gestellt werden mussten.
Wir hatten zwölf Tage gebraucht, um Aridys erst nach Ylkurin und dann nach Ylkyr zu bringen. Am schwierigsten war der Weg durch die Klamm gewesen, wo der Behelfssarg, den ein paar Gardisten mithilfe der Ylmun notdürftig angefertigt hatten, nicht mehr von Pferden getragen werden konnte, weil der Weg zu schmal war, und sich alle aus der Truppe mit dem Tragen abwechseln mussten. Die Ylmun und ihre Zwillingsmütter hatten eingewilligt, uns bis zum Eingang der Klamm zu begleiten, während die Ylma-an und Rika bei Dunuyee im Windstalhof blieben, aber sie lehnten es kategorisch ab, weiter mitzukommen. Selbst die Hilfe, die meine Schwestern ihnen durch die Sommerhofler zukommen lassen wollten, damit sie durch den Winter kämen, wollten sie erst nicht annehmen. Sie wollten in Frieden gelassen werden und ich konnte es nur zu gut verstehen. Die Leichen der Leibwächter wurden in die Höhle gebracht und zusammen mit denen der Magier dort so gut es ging aufgebahrt. Danach wurde der Ausgang verbarrikadiert und die Rampentreppe zerstört. Keiner aus der Windstal-Familie hatte irgendein Interesse an der Höhle und so erschien es allen Beteiligten das Beste. Bei dem Gedanken, dem Magierpaar womöglich einen Platz im Aschenturm geben zu müssen, hatte es nicht nur meinen Schwestern gegraust.
In Ylkurin hatten die Drachenpriester in recht kurzer Zeit die Leiche meiner Schwester notdürftig einbalsamiert, damit sie in einem luftdicht verschlossenen Sarg nach Ylkyr gebracht und dort aufgebahrt werden konnte und nicht schon in Ylkurin verbrannt werden musste. Meine Zwillingsväter hatten entschieden, dass es besser wäre, wenn jeder Bürger von Ylkan von ihr Abschied nehmen und sich bei dieser Gelegenheit auch selbst davon überzeugen konnte, dass Aridys diesmal zweifelsfrei und endgültig tot war.
Die Nachricht, dass Aridys tatsächlich eine, wenn auch entfernte, Clanangehörige gewesen war, hatte wie erwartet für eine große Überraschung gesorgt. Nicht nur war das Rätsel um die vielen Zwillinge unter den Kriegern des Schnees gelöst, sondern vor allem schien jetzt geklärt, wie Aridys und ich dieselbe enge Verbindung eingehen konnten wie andere Clanzwillinge. Es bereitete mir eine besondere Genugtuung, dass den Drachengetreuen damit viel Wind aus den Segeln genommen wurde, aber ich konnte mich nicht mehr so richtig über den lang erwarteten Triumph freuen.
Und nun, nach der durchwachten Nacht und der Prozession durch die Stadt stand ich mit meinen Zwillingsvätern, meiner Mutter, meinen Schwestern und Yonann in der ersten Reihe vor dem Altar. Meine Brüder und Nellian waren noch nicht aus Nakuren zurück und Mendy stand mit unseren Söhnen direkt hinter uns, weil die Kleinen inmitten der anderen Familienmitglieder besser unter Kontrolle gehalten werden konnten. Sie hatten sich bis jetzt auch tapfer gehalten und nur einmal versucht, zwischen meinen Beinen hindurch zu kriechen.
Obwohl dies von allen bisherigen Trauerfeiern für meinen Zwilling diejenige war, bei der der Tod meines Zwillings endgültig und unwiderruflich war, konnte ich dieser Zeremonie in meinem Herzen noch weniger Bedeutung beimessen als den beiden vorhergehenden. Es war eben nur noch eine Zeremonie, leer und nichtssagend. Ich sprach die Worte des Totengebets, doch sie klangen mir hohl und bedeutungslos in den Ohren.

Drei Jahre früher. Auf der Totenfeier für meinen ungeborenen Zwilling waren außer dem Stragan nur meine Eltern und mein Onkel und natürlich Aridys dabei gewesen. Sie hatte neben mir vor dem Altar mit der Urne darauf gestanden, im grauen Trauergewand mit dem Trauerschleier am Stirnband, durch den ihre Haare, die sie an diesem Tag offen trug, weiß hindurch schimmerten. Sie hielt meine Hand und sah mir in die Augen, als ich das Totengebet sprach. Damals fiel es mir nicht auf, aber in der Erinnerung meinte ich zu spüren, dass sie verstört schien, als hätte sie Angst.
Wir hielten uns nicht lange mit der Zeremonie auf. Der Stragan brachte die Urne wieder an ihren Platz und meine Eltern und mein Onkel ließen uns stillschweigend im Tempel zurück. Aridys schien noch ein wenig bleiben zu wollen und so blieb ich auch da, obwohl ich wusste, dass Mendy und meine Jungs auf mich warteten und mir meine Wunde in der Seite, wo Nagyn erst den Bolzen und dann die Reste meines Zwillings herausgeholt hatte, noch wehtat. Aridys strich mit den Fingerspitzen über die Kartusche auf der Urne mit unseren Namen.
„Yenda… hast du jemals von einem Geist geträumt? Von einem Toten?“
„Nein, nicht dass ich wüsste. Warum?“
Sie hatte den Kopf abgewandt, ihr Haar war nach vorne gefallen, so dass es ihr Gesicht verdeckte.
„Ich weiß nicht. Manchmal träume ich von – ich weiß nicht mehr wer es ist, aber ich glaube, dass er tot ist. Früher dachte ich, du wärest es.“
„Aber ich lebe doch noch.“ Das brachte ein Lächeln hervor, aber sie wurde sofort wieder ernst.
„In meinen Träumen ist er wie ein Geist. Und vielleicht … vielleicht ist er es, da drinnen, dein Bruder.“
„Wenn es mein Bruder war. Wir wissen doch nicht, was es war. Es könnte auch meine Schwester gewesen sein.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube es war dein Bruder. In meinen Träumen ist er genau wie du. Nur dass er tot ist.“
Ich legte meinen Arm um sie und zog sie weg. „Komm Ylma, ich hab keine Lust mehr hierzubleiben. Was du geträumt hast, ist nur ein Traum. Es gibt keine Geister. Wer immer das war, hat nie gelebt, also kann es auch kein Geist sein. Ich hab nur einen Zwilling und das bist du.“
Sie sah mir forschend in die Augen und als sie sah, dass ich es ernst meinte, lächelte sie schwach. Und schwieg.

Anderthalb Jahre früher. Bei der ersten Totenfeier für Aridys hatte ich nur stumm dabeigestanden, während meine Zwillingsväter mit meiner Mutter zwischen sich das Totengebet für sie sprachen. Ich brachte die Worte nicht über die Lippen, weil ich davon überzeugt war, dass sie noch lebte. In dem wenigen, was über Karvanyn-gel Yendas Leben in der Chronik des Königshauses verzeichnet war, hatte ich gelesen, dass für seine verschwundene Schwester Karyan eine ganz ähnliche Totenfeier abgehalten worden war. Man hatte sie für tot erklärt, um zu verhindern, dass aus dem damals feindlichen Starknann Lösegeldsforderungen gestellt würden und auch, damit niemand mehr auf der Suche nach ihr sein eigenes Leben riskierte. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob der andere Yenda sich bei dieser Totenfeier ähnlich gefühlt hatte wie ich. Hatte er überhaupt von ihrer Schwangerschaft gewusst? Aber zumindest musste er sich, so wie ich, ganz sicher gewesen sein, dass seine Schwester noch lebte. Alles in ihm musste danach geschrieen haben, sie zu suchen, der Anziehungskraft in ihm zu folgen und zu ihr leiten zu lassen. Und als der Stragann ihre Seele an Yl übergab, war es ihm dann genau wie mir so, als würde er selbst mit ihr für tot erklärt werden, als wäre er nur noch ein Geist, ohne Recht auf Leben? Als hätte er, inmitten seiner Familie, schon nichts mehr mit ihnen zu tun, als hätte er sich durch den Verlust seiner Schwester schon unerreichbar weit von ihnen entfernt, wie im Tod? Und hatte er da nicht auch seiner Schwester im Geist geschworen sie zu finden, wo immer sie sein mochte, so wie ich es tat?
Hab keine Angst, meine Schwester, meine Ylma. Ich finde dich, wo immer du auch bist und ich bringe dich wieder nach Hause. Das verspreche ich dir.

Heute. Ich hatte sie gefunden und nach Hause gebracht. Nach Hause, zu ihren Ahnen, so als wäre ein Teil von Karyan und ihren Nachkommen mit ihr zurückgekehrt, nach mehr als 200 Jahren. Die Schwester des ersten Yenda war gefunden worden, so wie ich meine gefunden hatte und die Suche hatte ein Ende. Fortan musste ich ohne meine Schwester, ohne meinen Zwilling leben, und ob ich dazu in der Lage war, musste sich erst herausstellen.

Nach der Zeremonie, als die Urne wieder zurück an ihrem Platz gebracht worden war, blieb ich mit Yonann allein im Aschenturm zurück, weil ich ihr Karvanyn-gel Yendas Urne zeigen wollte. Die anderen waren zum Drachenschloss zurückgefahren – meine Söhne nur unter großem Protest – und hatten uns eine kleine Kutsche vor dem Eingang dagelassen, damit wir später nachkommen konnten.
Yonann hatte sich in den zwei Wochen seit Aridys’ Tod tapfer gehalten und wer sie nicht besonders gut kannte, würde ihr nie ansehen können, was sie durchgemacht hatte. Ich spürte, dass sie einen Kummer hatte, von dem sie mir noch nichts gesagt hatte, aber scheute davor zurück sie zu fragen.
Karvanyn-gel Yendas Urne befand sich im ersten Stock in einer Zwischenwand gegenüber einem der schmalen hohen Fenster nach Süden hin. Vielleicht war dies die Richtung gewesen, in die es ihn hin zu seiner Schwester zog und er hatte sich darum diesen Platz vor seinem Tod erbeten. Die Urne war aus schlichtem weißem Stein und unter der Namenskartusche war ein Spruch auf ylkanisch eingemeißelt, den ich Yonann vorlas und übersetzte.
I-end Ylma olw-ann miell nirku a-ban.
Sieh meine Schwester: der Tod bringt mich zu dir.

Yonann zwinkerte heftig und schluckte. „Ist das auch aus seinen Gedichten?“
„Nein. Die hatte er schon einige Zeit vor seinem Tod beendet. Wahrscheinlich hat er die Zeile anbringen lassen, als er krank wurde.“
„Ich wünschte, wir wüssten, wo Karyan begraben liegt.“
„Soweit ich weiß, bestatten die Kyakadrin ihre Toten nicht. Sie lassen sie von Vögeln fressen und verstreuen die Reste, bis nichts mehr übrig bleibt. Anders geht es auch nicht, dort wo sie leben.“
Yonann seufzte nur und wir schwiegen eine Weile.
„Ich habe noch einen Brief bekommen“ sagte sie dann wie beiläufig. „Außer dem von Nellian und dem nohkresischen Rat.“
„Der war ja auch an uns beide und nicht nur für dich.“ Der nohkresische Rat war nach dem Bericht meiner Brüder höchst beunruhigt gewesen und wir beide hatten Weisung bekommen, uns so bald wie möglich nach Nakuren zu begeben. Weder ich noch Yonann empfanden besondere Freude darüber – eher im Gegenteil – aber es blieb uns wohl nichts anders übrig.
„Er ist von Merlag“ sagte Yonann. Für einen Moment begriff ich nicht, wen sie meinte, dann erinnerte ich mich wieder. Der Leiter der Wächter am roten Berg.
„Was will der denn noch?“
Yonann lächelte schwach. „Schon als wir das Lager verlassen haben, wollte er keine Ruhe geben. Er will unbedingt wissen, ob ich Nakur noch einmal gesehen habe… ob ich ihm mehr über die Jenseitigen sagen kann.“
„Und? Du brauchst ihm nichts zu sagen, du schuldest ihm nichts. Ignorier ihn einfach.“
„Vielleicht wäre das besser. Aber vielleicht … vielleicht sollte ich ihm auch besser sagen, was wir gesehen haben. Er verrennt sich immer mehr, wer weiß, was er eines Tages anstellen wird um Nakur zu finden.“
„Was würdest du ihm denn sagen? Dass Nakur und der Jenseitige eins sind, dass er in den Jenseitigen aufgegangen ist? Das würde er sowieso nicht glauben wollen.“
Sie seufzte. „Vermutlich hast du Recht. Ich würde es selber nicht glauben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.“
Ich sah sie an. Sie trug immer noch die schmale weiße Perlenkette im Haar, wie eine weiße Haarsträhne, genau so wie als ich sie zum ersten Mal sah – konnte es wirklich erst zwei Monde her sein?
„Aber du glaubst es doch jetzt?“ Ich bemühte mich sanft zu sprechen. „Für mich gibt es keine andere Erklärung. Alles was von Nakur noch … noch vorhanden ist, ist ein Teil der Jenseitigen. Er ist die Verbindung zwischen uns – und zugleich die Grenze zu ihrer Welt.“
„Ich weiß. Darum ist er zu ihnen zurückgekehrt. Das war der Preis, der Preis, den sie verlangten, für unsere Sicherheit oder ihre. Aber, oh Bal, ich wünschte, ich hätte es nie erfahren.“
„Auf jeden Fall wird es jetzt der nohkresische Rat erfahren. Ach, zum Karbellyn mit ihnen – ich hatte gedacht, wir könnten erst einmal hier bleiben. Stattdessen soll ich jetzt für wer weiß wie lange nach Nakuren...“
Die Idee, mich als permanenten Repräsentanten des Königshauses von Ylkan nach Nakuren zu schicken, stammte von meinen Zwillingsvätern. Eigentlich hatten sie mir gar keine Wahl gelassen. Ganz gleich, dass weder ich noch irgendjemand sonst eine Ahnung hatte, welche Aufgaben so ein Repräsentant dort hatte, weil es früher noch nie einen gegeben hatte, erschien es ihnen als die beste Lösung. So gerne ich früher in Nakuren gewesen war, jetzt tat es mir in der Seele weh, meine Heimat, meine Familie und natürlich vor allem meine Söhne zu verlassen. Das einzig Gute daran war, dass ich noch länger mit Yonann zusammen sein konnte.
„Und ich hatte gedacht, ich könnte erst einmal nach Hause…“
„Meine arme Chring. Vielleicht darf ich dich ja nach Baleh bringen, wenn wir mit dem nohkresischen Rat fertig sind. Dann holen wir die fehlende Stunde auf dem Pranger nach.“
Yonann lächelte schwach und ich drückte ihre Hand – leicht, nicht so fest wie früher, um ihr nicht wehzutun – und sah zu dem Fenster hinter uns gegenüber der Säule mit der Urne. Die Morgensonne schien durch die Äste und Zweige der Buche vor dem Fenster und malte ein vibrierendes Schattengemälde der Blätter auf die hellen Fliesen des Ganges. Von der Nische aus konnte man in das Astwerk der Buche hinein sehen, deren Blätter allmählich die leuchtenden Herbstfarben annahmen und ein Stück des blauen Himmels dahinter. Ich strich noch einmal mit den Fingerspitzen über die Namenskartusche auf der Urne, so wie Aridys damals auf der meines Zwillings, und dann wandten wir uns zum Gehen.

ENDE

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