Kapitel 2
Kapitel 2
Im Jahr 399 nach der Landung, am Neumondstag des 3. Mondes in Anns Jahrviertel, später am Tag
Als wir am Nordflügel des Königspalastes ankamen, wo ich gerade wohnte, folgte Yenda mir zu meinen Zimmern. Vielleicht konnte er immer noch nicht glauben, dass ich wirklich mit ihm kommen wollte. Mir war es sogar ganz lieb, denn es gab immer noch einige Personen, die ich informieren musste und mit ihm zusammen würde es leichter und schneller gehen.
Die Haupttür zu meiner Wohnung war verschlossen. Lynven, die Haushälterin des Nordflügels und meine persönliche Gehilfin, hatte alle Reinigungsarbeiten schon am Vormittag vornehmen lassen. Ich ging direkt zu dem Kleiderschrank in meinem Ankleidezimmer und suchte eine geeignete Reisekiste. Yenda blieb in der Tür stehen, darauf bedacht mir nicht im Weg zu sein.
"Was soll ich denn mitnehmen und wieviel?"
"Nur das nötigste. Ich habe drei Pferde am Grenzhof bestellt, eins für jeden von uns und ein Packtier. Ich hoffe, es ist dir recht, wenn wir reiten, es geht schneller, außerdem sind die Wege nicht überall für eine Kutsche geeignet. Sicherer ist es wohl auch."
"Gut, dann keine Kiste, nur ein Bündel Kleider und Decken und ein Bündel sonstiges Zeug." Ich grinste angesichts Yendas Verblüffung. "Ich war mal mit Freunden auf einer Reise, da waren wir mit allem unterwegs was es gab - Kutsche, zu Pferd, zu Fuß, in einem Boot - und sind so durch drei Clanreiche gekommen. Einmal musste ich ein Mondviertel lang die gleichen Kleider tragen, weil unser Gepäck gestohlen worden war."
"Nun, ich hoffe, dass es nicht soweit kommt …" sagte Yenda etwas hilflos. Er stand immer noch in der Tür, während ich so viele Kleidungsstücke wie möglich, sowie Wäsche, Handtücher, Wollzeug, feste Schuhe und andere Sachen zu einem Bündel verschnürte. Ich legte einiges davon zur Seite zum umziehen - die Robe, die ich für den Pranger angezogen hatte, wollte ich um keinen Preis länger anbehalten.
"Hast du eine Lagerausrüstung mit, falls wir kein Gasthaus oder Bauernhof finden?" fragte ich.
"Ja, es liegt alles im Grenzhof bereit. Auf dem Weg hierher habe ich schon ab und zu im Freien übernachtet."
Als die Wohnungstür geöffnet wurde, zuckten wir gleichzeitig zusammen und Yenda hob seine Hand zu dem Schwertgriff über seiner Schulter, ließ sie aber sofort wieder sinken. Lynven kam durch das Empfangszimmer und er trat zur Seite um sie vorbei zu lassen. Lynven jedoch ließ es sich nicht nehmen ihn angriffslustig von oben bis unten zu mustern. Yenda starrte kühl zurück und schwieg und Lynven stieg die Röte am Hals hoch.
„Friede auf dei- Euren Wegen, Tarlon“ murmelte sie und biss sich auf die Lippen.
„Friedliche Wege, Tara“ entgegnete er ruhig. Lynven, der offensichtlich aller Wind aus den Segeln genommen war, kam zu mir und wollte mir den Reisemantel aus den Händen nehmen, aber ich ließ ihn nicht los. Ich hatte mich schon vor langer Zeit an ihre Eigenarten gewöhnt, seit ich denken konnte, versuchte sie mein Leben zu organisieren und ich dem zu entgehen.
„Also ist es wahr und du gehst mit ihm?“ Es sollte ungläubig und empört klingen, aber ich brauchte sie noch nicht einmal zu berühren um die Unsicherheit dahinter zu hören. Ich nickte nur knapp und zog den Tragriemen um das Bündel mit dem Mantel und den Kleidungsstücken fest.
„Aber du kennst ihn doch gar nicht!!“ Lynven bemühte sich immerhin mit gesenkter Stimme zu sprechen und Yenda ließ sich nichts anmerken. Ich nickte nur wieder ohne sie anzusehen und Lynven hob die Augen zur Decke.
„Du hast doch seit heute Mittag am Pranger gestanden - solltest du dich nicht wenigstens vorher ausruhen?“
„Lynven, bitte!“
Lynven schluckte und sah zur Seite. Ich holte eine große Umhängetasche und stopfte hinein, was mir wichtig erschien - meinen Kasten mit den Heilkräutern, Salben und Tinkturen, Verbandszeug, Kerzen, Haarbürsten, Zahnreiniger, Nasentücher, Schreibzeug, soviel Bargeld wie ich finden konnte, mein Tagebuch und was sonst noch auf meinem Schreibtisch und der Anrichte verstreut war.
„Es geht mir gut, Lynven, mach dir keine Sorgen. Und wenn wir jetzt aufbrechen, haben wir noch eine Chance zu entkommen, bevor die Nachrichtensänger hier auftauchen.“
„Und was soll ich ihnen erzählen, wenn sie mich fragen?“ fragte Lynven hilflos.
„Sie singen sowieso, was sie wollen, also spielt es keine Rolle. Irgendetwas müssen sie ihrem Publikum ja bieten.“ Ich zog noch einmal alle Schubladen auf um zu prüfen, ob ich nichts vergessen hatte.
„Und wenn sie jetzt verkünden, du wärst mit einem ylkanischen Tarlon durchgebrannt??!“ Kaum war sie damit herausgeplatzt, lief sie rot an und sah aus, als würde sie den Satz gerne ungesagt wieder herunterschlucken. Ich grinste nur und blickte zu Yenda, der gespielt streng drein sah, obwohl er sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Anscheinend hatte er sich trotz allem seinen Sinn für Humor bewahrt und mir wurde auf einmal bewusst, dass ich begann ihn zu mögen.
„Gar keine schlechte Idee“ sagte er nun trocken. „Auf jeden Fall glaubwürdig.“
Lynven starrte ihn an, öffnete den Mund um etwas zu sagen und klappte ihn wieder zu, als er unbewegt zurückstarrte. Ich hatte es noch nie geschafft, sie so zum schweigen zu bringen und meine Bewunderung für ihn stieg.
„Du musst mir die Lieder auf jeden Fall aufschreiben“ fügte ich noch hinzu und Lynven seufzte nur. Ich packte noch eine kleine Öllampe ein, nahm meinen Dolch und den Gürtel und legte sie zu den Reisekleidern.
„Wäre es nicht besser, du schneidest dir die Haare kurz?“ fragte Lynven, als ich noch ein Haarnetz für windige Tage nachträglich in das Bündel stopfte. Sie hatte recht, ich trug es auf längeren Reisen immer nur schulterlang statt wie jetzt in dicken widerspenstigen Locken bis fast zu meiner Taille.
„Wenn wir noch die Zeit dafür haben ...“
„NEIN!“ das kam von Yenda. Als wir ihn sprachlos anstarrten, Lynven mit neu erwachtem Misstrauen, zwang er sich sichtlich zur Ruhe. „Nein, bitte - es ist sehr wichtig. Bitte lass deine Haare wie sie sind.“
Lynvens Augen verengten sich und sie blickte wütend zwischen ihm und mir hin und her. „Du kannst dir doch nicht von ihm einfach verbieten lassen -“
Yenda kam ins Zimmer hinein und blickte mich beschwörend an. „Bitte, es ist nicht wie du denkst. Es gibt einen Grund. Ich kann ihn nicht nennen, aber es ist wichtig. Bitte, vertrau mir.“
Lynven stieß wütend die Luft zwischen den Zähnen hervor und wandte sich kopfschüttelnd ab.
„Gut, wenn sonst nichts mehr ist, gehe ich mich umziehen“ verkündete ich und nahm meine Reisekleidung vom Bett. Yenda entspannte sich sichtlich und wandte sich Lynven zu, die ihm beinahe demonstrativ den Rücken gekehrt hatte.
„Tara Lynven“ sagte er ruhig. „Könntet ihr etwas für mich aufbewahren?“
Lynven versuchte ihre Haltung wieder zu gewinnen. „Sicherlich, Tarlon.“
Yenda nahm seine Clankette mit dem königlichen Wappen ab und streifte auch seinen Siegelring vom Finger. Lynven sah ihn ungläubig an.
„Ich brauche das nicht mehr“ erklärte er. „Und es wäre zu gefährlich sie mitzunehmen.“
„Dann sollte ich meine wohl auch hier lassen?“ Ich nahm meine eigenen Clankette mit dem balehsischem Wappen daran - die Flamme in einer mondsichelförmigen Schale - ab und legte sie zu Yendas Kette in Lynvens Hand. Insgeheim war es für mich eine Erleichterung, weil ich die Kette nur ungern trug. Vor allem in der Öffentlichkeit, wo ich immer Gefahr lief, durch sie erkannt zu werden, war sie mir eher lästig.
„Ich werde sie Schatzmeister Toryn zum aufbewahren geben, bis du wieder zurückkommst.“ Allmählich gewann Lynven ihre Fassung wieder. Doch Yenda war noch nicht fertig.
„Auch dies hier“ er zeigte auf das Wappen auf seiner Weste „würde ich jetzt lieber abmachen. Es ist nur lose festgenäht. Könntet Ihr mir helfen, während Barys sich umzieht?“ Und er zog die Weste aus und nahm das Schwertgehänge ab. Lynven steckte resigniert die Ketten in ihre Bauchtasche und holte aus ihrem Schlüsselbeutel eine kleine Schere heraus. Ich ging in den Waschraum um mich umzuziehen. Als ich wiederkam, war es Lynven gelungen, das Wappen zu entfernen, zum Glück war es nicht in der Weste eingestickt gewesen. Yenda befestigte das Schwertgehänge an den Schlaufen auf dem Rücken und zog die Weste wieder an. Lynven drehte den Stofflappen zwischen ihren Fingern.
„Barys, deine Tante ist in der Ratssitzung. Sie kann gleich nur für einen Moment unterbrechen, wenn ihr aufbrecht.“
„Von mir aus können wir los“ sagte ich so unbekümmert wie möglich und tat, als würde ich Lynvens verzweifelten Blick nicht sehen. Yenda nahm das größere Bündel und ließ mir den Vortritt, dann wandte er sich noch einmal Lynven zu und nahm ihre Hand, bevor sie zurückweichen konnte.
„Macht euch keine Sorgen“ sagte er ernst. „Es wird ihr nichts geschehen. Ich werde alles tun, was ich kann um sie zu beschützen. Friedvollen Weg, Tara Lynven.“
Lynven starrte sprachlos hinter ihm her und vergaß darüber völlig, sich von mir zu verabschieden. Ich ging voraus aus dem Nordflügel zum Hauptgebäude, wo sich der große Sitzungssaal befand. Die Wache an der Tür musste schon instruiert sein, kaum dass die beiden Posten uns sahen, verschwand einer hinter der mächtigen, schmiedeeisernen Tür, während der andere uns bedeutete zu warten. Keine Minute später öffnete sich die Tür wieder, der Posten nahm Haltung an und meine Tante kam mit schnellen Schritten aus dem Sitzungssaal. Sie trug ihren Königskranz mit den goldenen Weinblättern und Reben aus Edelsteinen auf ihrer Tagesperücke mit den dicken, dunkelbraunen, hüftlangen Haaren, und die gelbe Königsrobe, die sie nur zu wichtigen Sitzungen anzog, weil sie die Farbe nicht mochte. Wie immer versprühte sie geballte Energie um sich herum und schien kaum still verharren zu können, als ob etwas in ihr sie fortwährend antrieb. Sie nickte Yenda zu, der sich respektvoll verbeugte und nahm meine beiden Hände in ihre. Einmal mehr an diesem langen Tag wurde mir wirklich zum heulen zumute.
„Ich bin stolz auf dich, Barli-Kind“ sagte sie und für diesmal nahm ich ihr diesen Babynamen nicht übel. „Ich wusste, du würdest dich so entscheiden. Hast du alles gepackt? Dann nimm das hier noch mit.“ Der Assistent des Schatzmeisters, der ihr gefolgt war, reichte mir eine schmale lederne Brieftasche.
„Ein Siegelbrief mit der Erlaubnis, und dann noch ein paar Wechsel, nicht viel, aber es sollte reichen.“ Ich fand keine Worte. Meine Tante strich mir über das Haar und rückte mein Stirnband zurecht, dann ließ sie mich los und wandte sich Yenda zu, der sich noch einmal stumm verbeugte.
„Ich werde Dariv und Isan eine Nachricht zukommen lassen - in der Königskurierpost, damit es nicht auffällt. Und nun solltet ihr aufbrechen, bevor die Nachrichtensänger euch noch erwischen. Mögen die Vier euch begleiten und eure Wege hüten, Tarlon Yenda.“
„Ich bin in eurer Schuld, Kerlil Mona“ sagte Yenda förmlich. Er sah aus, als ob er dem gerne noch mehr hinzugefügt hätte, aber ihm die Worte dazu fehlten.
Meine Tante begleitete uns bis zum Eingang, wo die Kutsche schon wartete. Yenda und der Kutscher verstauten meine Bündel und ich schob die Brieftasche in die Innentasche meiner Weste. Meine Tante zog mich ein wenig beiseite, gerade so, dass wir außer Hörweite waren.
„Barys, ich bin froh, dass du mit ihm gehst. Du kannst ihm vertrauen, da bin ich mir sicher. Aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass mehr dahinter steckt, als er ahnt.“
„Was meinst du damit? Bis jetzt hat er mir noch gar nicht gesagt, was ich tun soll.“
„Ich weiß. Was ich meine ist, dass du auch auf dich selbst vertrauen musst. Ich weiß, dass du das kannst.“
„Ich verstehe nicht...“
„Tu es einfach.“
„Ja… das werde ich.“
Das war leichter gesagt als getan, aber so sehr ich es mir wünschte, ich konnte mich jetzt, vor meiner Tante, nicht mehr von meiner Angst überwältigen lassen, dafür war es zu spät. Meine Tante küsste mich auf die Stirn und tätschelte mir aufmunternd den Rücken, und ich folgte Yenda, der schon in die Kutsche gestiegen war. Als wir gerade losfuhren, hörte ich noch, wie meine Tante ungeduldig den Hofchronisten anwies, was er den Nachrichtensängern sagen durfte.
„Nur ein kleiner Aufschub, natürlich wird Barys die restliche Strafe nachholen. Alles andere ist vorläufig noch vertraulich, bis sie zurück ist ...“ Dann waren wir außer Hörweite und ich atmete auf. Auch Yenda wirkte auf einmal viel entspannter.
„Macht es dir wirklich nichts aus mit mir das Hauptthema in den nächsten Nachrichtenblättern zu sein?“ fragte ich und er schüttelte den Kopf.
„Ich bin es gewöhnt. Schlimmer als in Ylkan kann es nicht sein. Dort wird über mich gesungen, seit ich geboren wurde.“
„Das ist hier auch so. Aber ich würde doch gerne wissen, wie weit die Sänger diesmal gehen, ob sie mir wirklich eine heimliche Hochzeit zutrauen …“
„Wenn sie erst in den nokrehsischen Clanchroniken nachsehen, wohl kaum eine Hochzeit“ sagte Yenda trocken. „Schließlich bin ich immer noch verheiratet, obwohl ich schon seit fast zwei Jahren von meiner Frau getrennt lebe. Das könnte die Geschichte allerdings auch pikanter machen…“
„Ach, du bist verheiratet?“ Ich ärgerte mich über mich selbst, weil die Frage so überrascht klang, während es doch viel ungewöhnlicher gewesen wäre, dass ein Clanangehöriger in seinem Alter und mit seinem Aussehen noch unverheiratet war.
„Und seit wann? Hast du Kinder?“
Yenda lächelte schwach. „Ja, zwei Söhne, sie sind im Frühjahr vier geworden. Es sind Zwillinge, in meiner Familie gibt es immer nur Zwillinge.“
„Gleiche oder ungleiche Zwillinge?“
„Gleiche. Aber ungleiche Zwillinge kommen auch häufig vor.“
„Hast du auch Geschwister? Auch alles Zwillinge?“
„Oh ja. Zwei Schwestern und zwei Brüder. In Ylkan gibt es viel mehr Zwillingsgeburten als in den anderen Ländern und das Königshaus besteht nur aus Zwillingen, ausnahmslos, das ist unsere Clangabe, weil wir von Yl abstammen – so heißt es...“ fügte er hinzu, als er meinen skeptischen Blick bemerkte. „Wir haben immer ein Zwillingspaar als Kerlenel – jetzt sind das meine Zwillingsväter - mein Vater und sein Zwillingsbruder.“ Ich sah, wie sich seine Schultern etwas anspannten. „Nur ich wurde ohne Zwilling geboren, das erste königliche Einzelkind seit Bestehen des Clans.“
„Aber du sagtest doch, dass deine Zwillingsschwester verschwunden ist?“
„Sie ist nicht meine leibliche Schwester, sie wurde adoptiert… Ich fange am besten ganz von vorne an. Als ich ohne Zwilling geboren wurde, gab es fast einen Aufstand. Ylkaner sind sehr religiös und sehr abergläubisch und ein Clanskind ohne Zwilling ist für sie undenkbar. Mayg Berlkor, unser Hofmagier, konnte aber zweifelsfrei beweisen, dass ich das leibliche Kind meiner Eltern war, also ein Clanangehöriger und kein Bastard. Dann hieß es, das Königshaus wäre mit einem Fluch belegt und meine Geburt das erste Anzeichen für das nahende Ende des ylkanischen Clans. Meine Zwillingsväter und der Ältestenrat entschieden, dass ich nicht ohne Zwilling aufwachsen konnte und sie ließen in ganz Ylkan nach einem Waisenkind suchen, das ungefähr zur gleichen Zeit wie ich geboren wurde.“
Wir hatten die Stadtmauer erreicht und fuhren durch das Osttor, wo uns die Torgardisten ohne weiteres passieren ließen. Yenda zupfte nervös an einem Hemdzipfel. Er hatte muskulöse Hände mit kräftigen Handgelenken, wie Handwerker oder Künstler sie oft haben. Die Nägel seiner linken Hand waren bis fast auf das Nagelbett kurz gefeilt, die seiner rechten Hand jedoch länger gelassen als gewöhnlich, besonders der am Daumen.
„Erst fand man kein geeignetes einzelnes Kind und sie wollten die Suche schon aufgeben, aber dann wurde ein kleines Mädchen in das Schloss gebracht. Angeblich war seine Mutter bei der Geburt gestorben und der Vater war nicht bekannt. Das war alles sehr seltsam und viele am Hof waren dagegen, aber ein ylkanisches Kind mit ungeklärter Herkunft war dem Ältestenrat - und dem Clan - dann doch lieber als ein fremdes. Meine Mutter wollte Aridys sowieso nicht mehr hergeben. Und so bekam ich meine ‚Erwählte Schwester’.“
„Ist sie denn - diese erwählte Schwester - auch deine Ehefrau?“
„Wie kommst du denn darauf??“ Yenda sah wirklich schockiert aus. „Bei uns gibt es keine Geschwisterehen. Bei euch etwa?“
„Nein. Ich glaube in Enku-Nyl kommt das manchmal vor ... aber egal.“
„Bei uns aber nicht. Aridys gilt in jeder Hinsicht als meine leibliche Schwester und Tarlil des ylkanischen Königshauses, und wir könnten uns auch zu den Königswahlen aufstellen lassen, obwohl uns natürlich keiner wählen würde. Der Stragan - unser Hofpriester - und die Ältesten mussten ein ganz neues Zeremoniell für die Adoption erschaffen und sogar einige neue Gesetze. Ich könnte sie genauso wenig heiraten wie eine meiner richtigen Schwestern, und meine Brüder und die anderen Mitglieder des Königshauses natürlich auch nicht. Ich habe meine Frau - meine Exfrau - erst viel später kennen gelernt, als Aridys und ich schon erwachsen waren.“
Wir fuhren nun auf der siebten nohkresischen Handelsstrasse, die von Baleh-Stadt zur nahen Grenze nach Chruann führt. Zu beiden Seiten der Strasse fächerten sich unaufhörlich die langen engen Reihen der Weinstöcke auf. Hier in dem Hauptanbaugebiet zwischen dem großen Fluss Baleh-Unwyn und den sanften Hügeln im Norden von Baleh scheint das ganze Land von Weinfeldern bedeckt zu sein, lange, schnurgerade, endlose Weinstockreihen, soweit das Auge reicht. Überall war, obwohl heute ein Ruhetag war, die Weinlese im vollen Gange, auch wenn es so schien, als ob diese unvorstellbare Menge an Reben kaum zu bewältigen war. Anns Jahrviertel hatte spät begonnen dieses Jahr, weil Bals Jahrviertel erst drei Wochen nach der Sonnenwende geendet hatte, und die Lese würde sich bis zum Ende von Yls Viertel hinziehen, weil immer nur die ganz reifen Trauben geerntet wurden und viele Weinfelder mehrmals bearbeitet werden mussten.
Yenda lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen und ich sah ihm an, wie erschöpft er war - und wohl nicht nur körperlich. Wir saßen einander diagonal gegenüber, jeder an einer Seite und nach einer Weile legte er seine Füße auf die andere Sitzbank. Ich tat es ihm nach.
„Wie ich schon sagte, wegen Aridys bin ich hier“ fuhr er schließlich fort. „Es fing an, als ich vor etwas mehr als fünf Jahren meine Frau kennen lernte und wir heiraten wollten.“
Ich verkniff mir die nahe liegende Frage, weil ich ihn nicht noch einmal unterbrechen wollte, und tatsächlich beantwortete er sie gleich im nächsten Satz.
„Aridys war nicht eifersüchtig, im Gegenteil. Anfangs war sie sogar fast die einzige, die auf unserer Seite stand. Mendys Eltern hatten die größten Bedenken. Nach all den Jahren glauben viele Ylkaner immer noch, dass ich dem Clan Unglück bringe. Für sie ist meine Existenz allein schon ein Frevel im Angesicht von Yl.“
„Ein Frevel? Und ich dachte, bei mir wäre es schlimm.“
„Bei dir? Warum?“
„Die meisten Balehsen halten mich für verrückt. Ich bin nicht verheiratet und habe keine Kinder … und verstoße auch sonst ständig gegen die guten Sitten – wie du ja gesehen hattest.“ Yenda runzelte die Stirn.
„Ja, das wollte ich dich sowieso fragen. Die Kerlil hat es mir nicht erklärt, wieso in aller Welt musstest du auf dem Pranger stehen?“
„Ich habe die Zwischenprüfung nicht bestanden.“ Als Yenda weiterhin verständnislos dreinblickte, fügte ich hinzu: „Kennst du das nicht? Bei uns muss jeder, der bei einer Ausbildung eine Prüfung nicht besteht, auf den Pranger, es sei denn, er will wieder ganz von vorne anfangen. Ist das bei euch nicht so?“
„Nein, in Ylkan gibt es das nicht. Prangerstrafen schon, aber nur wegen einer nicht bestandenen Prüfung? Das ist doch kein Verbrechen!“
„Trotzdem, bei uns ist das so Sitte, und das gilt auch für Tarlenel. Aber lass uns nicht von mir sprechen – erzähl lieber weiter. Du wolltest heiraten ...“
„Ja. Unser Hofpriester überredete meine Schwiegereltern schließlich. Er sagte, durch diese Heirat könnte ich beweisen, dass ich ein ganz normaler ylkanischer Prinz sei.“
„Beweisen?? Wie denn?“
Yenda grinste schief. „Durch meine Kinder natürlich. Als Mendy schwanger wurde, warteten alle gespannt auf die Geburt. Es war eine schwere Zeit für uns beide, aber dann stellte der Hofarzt schon vor der Geburt fest, dass sie wirklich Zwillinge erwartete. Und dann fing das Problem mit Aridys an. Sie verhielt sich immer seltsamer und wurde selbst mir immer fremder.“
Das Licht der Abendsonne schimmerte in seinen hellen Haaren. Ich konnte kaum meinen Blick davon losreißen. Balehsen haben zumeist braune oder schwarze Haare, oft sehr lang und gekraust, und sehr ungebärdig, und sie lieben es, sie zu vielen kunstvollen Zöpfen zu flechten und mit Haarketten und Bändern zu verzieren. Yendas Haare waren glatt wie Wasser, vermutlich zu glatt für Zöpfe, wenn er welche hätte haben wollen. Wahrscheinlich fand er unsere Haare genauso seltsam wie ich seine.
„Aridys war immer etwas ganz besonderes, für mich und für meine Familie ...“
„War? Aber sie ist doch nicht tot?“
„Nein, sie ist nicht tot. Ich bin mir jedenfalls sehr sicher, dass sie noch lebt - aber ich weiß nicht, ob sie noch der Mensch ist, der sie früher war. Bevor sie verschwand. Entführt wurde, wie sich später herausstellte.“
„Entführt von ...“ Ich brachte es nicht über mich den Satz zu vollenden. Yendas Lippen wurden wieder schmal.
„Ja. Einem Jenseitigen. Der im Rotberg lebt. Hast du schon von ihm gehört?“
„Nein.“ Und als Yenda überrascht aussah, fügte ich hinzu: „Jenseitigenlehre ist nur fortgeschrittenen Studenten vorbehalten, die die Prüfung bestanden haben. Eigentlich kommt alles, was ich über die Jenseitigen weiß, aus dem Wahrtraum von Nakurs Reise -“
„Von was?“
Ich starrte ihn verblüfft an. „Der Wahrtraum, den man alle Kinder träumen lässt, wenn sie alt genug sind. Du weißt schon, dieser Traum von Erinnerungen an Nakur, wie er verkündet, dass er sich den Jenseitigen stellen will und sich von den Clanführern verabschiedet und auf die Reise begibt... Kennst du den nicht??“
Yenda zuckte verwirrt die Achseln. „Wir haben keine Traummagier in Ylkan. Nur den Hofmagier - aber bei uns sind nur Yls Priester für Träume zuständig. Sie helfen uns dabei, unsere Träume zu deuten.“
„Oh. Ich dachte, das wäre überall im Nohkran so, dass alle Kinder auf diese Weise von Nakur erfahren, wie er aussah, wie er war, was er tat ...“
Yenda schüttelte den Kopf. „In Ylkan nicht. Natürlich bekommen wir alles von Nakurs Leben gelehrt, aber nicht als Traum. Du musst mir mal diesen Traum erzählen, wenn Zeit ist, das heißt, wenn du dich noch dran erinnerst.“
„Natürlich erinnere ich mich daran. Als ich klein war, konnte ich nie genug davon bekommen und wollte ihn immer wieder träumen.“ Weil ich mich dabei in Nakur verliebt hatte, fügte ich in Gedanken hinzu. „Obwohl der Traum mich immer traurig machte, weil Nakur nicht wiederkam. Darum war ich auch böse auf die Jenseitigen und wollte nichts von ihnen wissen.“
Yenda lächelte etwas schief. „Es könnte sogar sein, dass es besser so ist - wir werden es ja sehen.“ Ich schwieg dazu und spürte, wie sich wieder eine kalte Stelle zwischen meinen Schulterblättern bildete. Irgendwie brachte ich es nicht über mich Yenda gegenüber zuzugeben, wie sehr ich die Jenseitigen wirklich fürchtete. Vielleicht fand sich später dafür ein besserer Zeitpunkt.
„Aber erzähl weiter – du warst dabei, wie Aridys anders wurde ...“
„Ja. Sie veränderte sich immer mehr, ganz langsam zuerst.“ Yenda starrte aus dem Fenster. “Als Kind war sie ganz normal gewesen, immer lieb und freundlich, jeder mochte sie. Dann als sie älter wurde, wollte sie unbedingt herauszufinden, wer ihre richtigen Eltern waren. Weil es auf normalem Weg nicht mehr möglich war, versuchte sie es mit Traummagie, aber statt sich von unserem Hofmagier unterweisen zu lassen, verschaffte sie sich alte Bücher und brachte sich alles selbst bei -“
„Wie denn das? Das ist viel zu gefährlich ohne Anleitungen durch einen Adepten.“
Yenda zuckte die Achseln. „Ich sagte doch, wir haben keine Traummagier in Ylkan. Außer unserem Hofmagier, aber den mochte keiner leiden und er ist auch jetzt nicht mehr da… Die meisten Ylkaner denken wohl, dass wir keine Traummagier brauchen. Wir sind Yl geweiht und die Zwei-in-Einem herrschen über Traum und Wirklichkeit. Solange Yl bei uns ist, brauchen wir keine ausländischen Traummagier. Und Aridys wollte immer alles selber schaffen.“
Ich schüttelte den Kopf, aber verkniff mir einen weiteren Kommentar zu diesem Unsinn. Yenda sah aus dem Fenster und fuhr fort.
„Sie schloss sich dann immer mehr ab, verschwand tage- und nächtelang und wollte einfach nicht erzählen, womit sie sich beschäftigte und mit wem sie Umgang hatte. Als ich Mendy kennen lernte, war es noch nicht ganz so schlimm. Sie freundete sich sofort mit Mendy an und verbrachte viel Zeit bei ihr, half ihr bei den Hochzeitsvorbereitungen und anderen Sachen. Aber später erzählte Mendy mir, dass Aridys sie zu Ritualen überreden wollte, in den Tempelruinen des verschwundenen Volkes oder bei geheimen Versammlungen ihrer Sektenfreunde. Mendy wollte das nicht, und sie stritten sich, dann wurde Mendy schwanger, und als ich wieder Zeit hatte, mich um Aridys zu kümmern, war es zu spät, ich fand keinen Zugang mehr zu ihr. Sie hatte sich einer Art Sekte angeschlossen und ihre neuen „Freunde“ ließen mich nicht mehr zu ihr. Es gab auch alle möglichen Gerüchte über sie, man behauptete sogar, sie wäre eine Hexe geworden. Ich sah sie nicht mehr oft, weil sie sich meistens in ihrem Haus in der Stadt aufhielt und wenn wir uns trafen, wich sie allen meinen Fragen aus. Und dann, vor einem Jahr, verschwand sie spurlos in der Nacht nach der Sonnenwende. Meine Zwillingsväter ließen sie überall suchen und jeden verhören, mit dem sie zusammen gewesen war, aber seit dieser Nacht hat sie niemand mehr gesehen. Einige Tage später fanden die Schlossgardisten Spuren von einem Ritual, das in einem Steinkreis nicht weit von der Stadt abgehalten worden war. Ihre Kleider lagen auf dem Mittelstein und ihr Schmuck - mit Ausnahme ihrer Wappenkette. Sonst war nichts zu finden, kein Blut, keine Anzeichen von irgendeiner Gewalt. Mayg Berlkor fand einen roten Kristallsplitter unter dem Stein. Seiner Ansicht nach hatte das Ritual dazu gedient, das Tor zur Welt der Jenseitigen zu öffnen. Und der Dämon hatte Aridys bei sich behalten. Oder getötet. Oder beides.“
Yenda schien sich langsam warm zu reden. Ich wunderte mich insgeheim, wie flüssig und strukturiert er seine Geschichte vorbrachte, als hätte er sie lange und gründlich einstudiert.
„Ich bekam von dem ganzen nichts mit“ fuhr er fort. „In der Nacht, in der sie verschwand, wurde ich krank. Einige Wochen lang hatte ich Fieberträume und war kaum bei Bewusstsein. Dann ging es mir langsam wieder besser. Meine Familie ließ Aridys für tot erklären und als es mir wieder so gut ging, dass ich daran teilnehmen konnte, wurde das Todesritual durchgeführt, um ihre Seele freizusetzen. Dann fingen meine Alpträume an, die ich seitdem immer wieder habe. Ich träumte von Aridys, die von dem Dämon gefangen gehalten und gefoltert wurde. Sie flehte mich immer wieder um Hilfe an - und nach dem dritten oder vierten Mal konnte ich nicht mehr glauben, dass es nur ein Traum war. Ich wusste einfach, dass sie noch lebte und meine Hilfe brauchte, aber niemand wollte mir glauben. Ich war wie von Sinnen und wollte immer wieder aufbrechen, um sie zu suchen und zu befreien, aber Mayg Berlkor und meine Eltern ließen das nicht zu. Es kam so weit, dass ich nachts eingeschlossen werden musste, weil ich anfing zu schlafwandeln. Bald hatte ich fast jede Nacht einen Alptraum und konnte nur noch mit starken Schlafmitteln schlafen. So ging das einige Monde lang. Irgendwann war ich mit meinen Kräften am Ende und konnte niemanden mehr um mich herum ertragen, weder meine Eltern, noch meine Geschwister und auch nicht einmal mehr - vor allem nicht mehr - Mendy. Wir stritten uns nur noch und irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie ließ mich meine Söhne nicht mehr sehen und dann trennte sie sich schließlich ganz von mir. Die alten Gerüchte um meinen verschwundenen Zwilling kamen wieder auf und viele gaben mir die Schuld an Aridys’ Verschwinden. Auch Mayg Berlkor wusste sich keinen Rat mehr, er war so mitgenommen von den Ereignissen, dass er um seine Entlassung bat und sich zurückzog.“
„Dann muss er ein sehr schlechter Magier gewesen sein“ warf ich ein. „Warum hat er nicht Hilfe von der Akademie in Nakuren angefordert oder dich gleich dorthin bringen lassen?“
Yenda zuckte die Achseln. „Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber wie ich schon sage, in Ylkan wird keine Traummagie ausgeübt - es gibt keine Akademie dort wie hier, und meine Zwillingsväter waren die ersten Könige gewesen, die sich nach ihrer Krönung einen Magier an den Hof bestellt hatten. Ich hatte immer den Eindruck, als ob Mayg Berlkor mit der Akademie in Nakuren nichts mehr zu tun haben wollte.“
„Das verstehe ich nicht.“
Yenda lächelte müde. „Mir kam es sehr gelegen. Es gelang mir heimlich aus dem Schloss zu fliehen, bevor ein neuer Magier an den Hof berufen wurde. Zweimal wurde ich beinahe eingeholt -“
„Von wem, den Königsgardisten?“
Er grinste. „Meinen Schwestern. Sie sind die obersten Königsgardisten – die Myrtarlenel sind bei uns immer zu zweit, also Zwillinge natürlich. Sie haben es mir nicht leicht gemacht.“
„Oh. Sind sie immer noch hinter dir her?“
„Bestimmt. Sie oder ihre Spione. Wenn ich mich irgendwo länger aufhalte, werden sie mich wohl abholen kommen. Aber soweit denke ich jetzt noch nicht… Wo war ich? Ich erreichte dann die Grenze und tauchte in Starknann unter. Und von dort war es nicht mehr weit zu den annkarnischen Bergen. Ich fand den Rotberg wie im Schlaf, als würde es mich dorthin ziehen.“
„Du meinst, du konntest fühlen, wo sie war und bist dem gefolgt? Ist das eine Gabe, ich meine, gehört das zu eurer Clangabe?“
Yenda sah überrascht aus. „Wahrscheinlich. Ich hab noch nie darüber nachgedacht, es ist einfach selbstverständlich in unserem Clan. Die Zwillinge in unserem Clan haben eine sehr enge Beziehung zueinander, anders als andere ylkanische Zwillingspaare oder Zwillinge aus anderen Völkern. Jeder weiß immer, wo er seinen Zwilling suchen muss, aber es kommt selten vor, dass Clanzwillinge getrennt werden. Sie müssen immer zusammen sein, das ist bei uns so.“
„Auch wenn sie heiraten?“
„Natürlich, auch dann. Meistens heiraten sie sowieso zusammen, und auch oft ein anderes Zwillingspaar.“
Yenda starrte gedankenverloren aus dem Fenster, mit einer kleinen Falte zwischen den Augenbrauen. Obwohl ich es kaum erwarten konnte zu erfahren wie es weiterging, wollte ich ihn nicht drängen und so schwiegen wir eine Weile. Gerade als Yenda wieder zum reden ansetzte, verlangsamte sich das Tempo der Kutsche plötzlich und wir hörten den Kutscher kräftig fluchen. Yenda zuckte zusammen und beugte sich aus dem Fenster. Die Kutsche kam am Straßenrand zum stehen, dann sprang der Kutscher vom Bock und kam zum Einstieg auf Yendas Seite.
„Es tut mir leid, Tarlon. Das Pferd lahmt. Ich muss nachsehen.“
Yenda stöhnte verärgert und stieg aus der Kutsche und ich folgte ihm nach. Der Kutscher hatte einen Vorderhuf des Kutschpferdes angehoben und stocherte vorsichtig mit einem kleinen Messer darin herum. Ohne aufzublicken sagte er:
„Ich fürchte, sie hat sich einen Stein eingetreten. So richtig tief.“
„Wie lang wird das dauern?“ fragte Yenda ungeduldig. Der Kutscher zuckte nur mit den Achseln.
„Die Stute lahmt, sie darf jetzt nicht mehr belastet werden. Soll ich um ein anderes Pferd schicken? Der Grenzhof ist nicht mehr weit.“
Yenda ballte die Fäuste und für einen kurzen Moment spürte ich deutlich die Ungeduld und Wut in ihm hochsteigen, bevor er sich wieder beherrschte.
„Was heißt nicht mehr weit? Wie weit genau?“
Der Kutscher kratzte sich am Kopf und sah hilflos zu mir herüber. Ganz offensichtlich war ihm Yendas Ungeduld völlig unverständlich.
„Nun.. nicht so sehr weit… kommt darauf an -“
„Warum gehen wir nicht den Rest zu Fuß?“ schlug ich vor.
Yenda sah mich überrascht an.
„Bist du sicher? Bist du nicht zu müde nach - dem Ganzen heute?“
„Nach der ganzen Steherei ist laufen genau das richtige“ entschied ich. „Außerdem träume ich schon die ganze Zeit von den Thermen beim Grenzhof. Wenn wir zu spät da ankommen, haben wir keine Chance mehr auf ein heißes Bad.“
Der Kutscher grinste erleichtert. „Ohja, heute kommt ja die Reisegruppe aus Chruann“ sagte er fröhlich. „Die werden die ganze Nacht in den Thermen sitzen und saufen.“
„Dann sollten wir uns beeilen.“ Yenda holte seine Ledertasche aus der Kutsche und wir schlugen einträchtig nebeneinander den Feldweg ein, der parallel zu der befestigten Handelsstrasse verlief. Anfangs fühlte ich mich noch ziemlich steif und konnte kaum mit Yenda Schritt halten, obwohl er immer wieder geduldig sein Tempo verlangsamte, doch dann lockerten sich meine Muskeln und wir passten uns aneinander an. Als Yenda weiter beharrlich schwieg, hielt ich es nicht mehr aus.
„Was geschah weiter? Nachdem du beim Rotberg angekommen warst?“
Yenda blieb stehen und sah mich bedrückt an.
„Ich weiß - ich sollte dir alles erzählen, was dort passierte, aber ... ich kann nicht. Noch nicht. Es ist zu gefährlich.“
„Gefährlich??!“
„Für dich. Versteh doch, ich bin mir sicher, dass es besser ist, wenn du sowenig weißt wie möglich. Der Dämon, er - er kann in Menschen hineinsehen. Besser als jeder mit der balehsischen oder der re-isbalsi Clangabe, um ein vielfaches. Wenn du ihm gegenüberstehst und er sieht in deinen Gedanken, deinen Erinnerungen, was du über ihn und mich und Aridys weißt, dann wäre alles von vorneherein verloren. So gerne ich es täte, aber - ich kann es nicht riskieren. Dann wäre alles umsonst. Kannst du das verstehen?“
Ich starrte ihn verständnislos an. „Du meinst, du brauchst mich um deine Schwester zu befreien, aber du kannst mir nicht sagen, wie ich es anstellen muss? Bal und Wyr, wie soll das denn gehen?“
„Nun - so in etwa. Bitte glaub mir doch, es geht nicht anders ...“ Yenda sah mich flehend an und ich fühlte mich erneut hin und her gerissen zwischen meinem Verlangen ihm beizustehen und meiner blinden Angst vor den Jenseitigen, die tief aus meinem Inneren in mir hochstieg und mich zu überwältigen drohte. Ich schluckte und zwang mich dazu sachlich zu bleiben, obwohl ich Yenda am liebsten geschüttelt hätte.
„Kannst du mir noch nicht einmal sagen, ob du den Jenseitigen gesehen hast? Mit ihm gesprochen hast, wie auch immer? Darf ich gar nichts darüber wissen, was mich erwartet??“
Yenda rang sich ein gequältes Lächeln ab. „So ungefähr. Glaub mir, ich weiß ... ich würde es tun, wenn ... aber ich habe einfach keine Wahl.“
Ich blickte zurück, auf den Weg den wir gekommen waren und für einen Moment erschien mir meine Situation völlig unverständlich, ja absurd. Wie konnte mir etwas gelingen, von dem ich nicht wusste wie ich es anfangen sollte, wo ich doch gerade bei einer Prüfung gescheitert war, bei der ich genau gewusst hatte, was von mir erwartet wurde?
„Warum denn ausgerechnet ich?“ fragte ich hilflos. „Ich habe noch nie etwas von deiner Schwester gehört, und ich hatte noch nie mit Jenseitigen zu tun, wo ist da die Verbindung? Ich verstehe das nicht.“
„Das kannst du auch nicht und ich darf es dir nicht sagen. Wenn du mir helfen willst – dann musst du mir vertrauen.“ Yenda biss die Zähne zusammen und ich sah aus den Augenwinkeln, dass er seine Hände wieder zu Fäusten verkrampfte. An seiner Überzeugung war nicht zu rütteln, in der kurzen Zeit in der ich mit ihm zusammen gewesen war, hatte ich schon einen ziemlich guten Eindruck von seiner Eigensinnigkeit, ja Sturheit bekommen. Aber ich mochte mich noch nicht so schnell damit abfinden.
Für einen langen Moment standen wir einander Auge in Auge schweigend gegenüber. Dann atmete Yenda tief ein und nahm mich sanft an den Schultern. Ich wollte ihn erst unwillig abschütteln, hielt aber dann doch still.
„Bitte, verstehe doch, Barys … Barys, ist das dein Wahlname? Soll ich dich wirklich so nennen?“
„Wahlname? Was meinst du? Es ist der Name, den mir meine Eltern gaben.“
„Und du hast sonst keinen anderen?“
„Du hast ja gehört, wie meine Tante mich genannt hat“ sagte ich steif. Yenda grinste schwach.
„Ja, aber das meinte ich nicht. Wenn du wüsstest, wie mich meine Mutter immer nennt ... Ich frage nur, weil ich die ganze Zeit das Gefühl habe, du hättest noch einen anderen Namen. Einen, den du selbst gewählt hast.“
Ich starrte ihn verblüfft an. „Wie kannst du das wissen? Ja, als Kind hatte ich einen geheimen Namen - eine Art Wunschnamen - aber den habe ich nie wirklich benutzt und das ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ich überhaupt an ihn denke.“
„Ich weiß einfach, dass du noch einen anderen Namen hast. Frag mich nicht warum, aber Barys ist nicht dein wahrer Name.“
Ich griff nach seinen Händen, als er sie wieder von meinen Schultern nehmen wollte und sah ihm gerade in die Augen. „Yonann“ sagte ich, fast trotzig. „Das ist mein geheimer Name. Noch niemand hat mich so genannt, noch nicht einmal meine Tante.“
„Yonann...“ wiederholte er langsam und legte den Kopf leicht schief. „So wie Yonann von Ailmee? Nakurs Freundin, die ihn pflegte, als er von der ersten Reise zu den Jenseitigen zurückkehrte?“
Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Irgendwie hatte ich völlig vergessen, warum ich mir als Kind gerade diesen Namen ausgesucht hatte. Aber Yenda blieb völlig ernst, ich konnte noch nicht einmal die Spur eines Lächelns in seinem Gesicht ausmachen.
„Ich dachte immer, dass er wie ein ylkanischer Name klingt. Er passt sehr gut zu dir.“
Ich schwieg und sah ihn abwartend an. Yenda schloss seine Hände fest um meine und dann, zu meinem Erstaunen und dann Entsetzen, kniete er vor mir nieder, ohne auf den Schmutz des Feldweges oder die anderen Reisenden auf der Handelsstrasse zu achten. Ich wollte zurückweichen, doch er hielt meine Hände fest und hochziehen ließ er sich auch nicht.
„Yonann, ich schwöre es dir, bei Yl - bei den Vieren, es wird dir nichts Böses geschehen. Bitte - vertrau mir ... Bitte ... bitte komm mit mir.“
„Was soll denn das, komm wieder hoch - au, nicht so fest!“ Ich merkte auf einmal wie hart seine Hände meine umklammerten und er lockerte den Griff etwas.
„Du musst mir vertrauen! Bitte, es hängt alles davon ab.“
Ich sah auf ihn hinunter, in seine graublauen Augen und spürte erneut durch seine Hände, wie erschöpft und nah daran zu verzweifeln er war, und verkniff mir wieder, was ich zuerst antworten wollte.
„Also gut, ich weiß, dass du die Wahrheit sagst“ sagte ich schließlich widerwillig. „Ich kann es fühlen. Und deshalb will ich dir - muss ich dir auch helfen. Ich habe Angst davor und ich verstehe nicht, warum du es mir nicht sagen kannst, aber ich habe keine Wahl.“
Yenda stand wieder auf, aber blieb noch vor mir stehen und hielt weiter meine Hände umklammert, als fürchtete er, ich würde ihm davonlaufen, sobald er sie losließ.
„Ich weiß, was ich verlange ist vollkommen verrückt. Und wie ich es deiner Tante schon sagte, ich bin tief in deiner - und ihrer - Schuld, allein dafür, dass sie mich angehört hat, und du mitgekommen bist. Ich hatte mit allen möglichen Schwierigkeiten gerechnet, aber nicht zu hoffen gewagt, dass es so ausgehen würde. Es ist viel mehr als ich erwartet hatte.“
„Das ist meine Tante. Sie tut meistens das Unerwartete. Und sie behält immer recht.“
„Das habe ich gemerkt“ stimmte Yenda zu. Ich spürte, dass es ihm leichter ums Herz wurde und wie das Gefühl sich auf mich übertrug.
„Können wir jetzt weiter? Die Thermen -“
Yenda grinste. „Natürlich. Ich freue mich auch schon drauf. Gestern kam ich zu spät dort an und heute war noch keine Zeit dafür. Aber noch eins ..“
„Ja?“ Als wir weitergingen, hielt er wie selbstverständlich meine Hand fest und ich mochte sie ihm nicht entziehen.
Yenda sah etwas verlegen aus. „Wir müssen uns ein Zimmer teilen. Wenn wir nicht auffallen wollen, müssen wir als Paar auftreten - und soweit ich weiß, ist der Grenzhof auch gerade voll belegt.“
„Achja, die Reisegruppe aus Chruann. Warum sollte es mir etwas ausmachen? Solange du nicht schnarchst ...“
„Ich?? Und wer sagt mir, dass du nicht schnarchst?“
„Du musst mir eben vertrauen“ meinte ich spitz und wir lachten.
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