Babas Welt
Donnerstag, 3. Dezember 2009
Kapitel 3

Kapitel 3

Im Jahr 399 nach der Landung, am Neumondstag des 3. Mondes in Anns Jahrviertel, abends

Und so zogen wir weiter. Hinter uns ging die Sonne langsam unter und die Dämmerstunde brach an. Die Weinleser hatten ihr Tagewerk beendet und die Felder lagen verlassen und friedlich im Schein der rotgoldenen Abendsonne. Es waren nur noch vereinzelte Fußgänger mit uns unterwegs und die wenigen Kutschen, die vorbeikamen, hatten ihre Karbidlampen schon entzündet.
„Wenn wir ein Paar spielen sollen, müssen wir aber noch mehr voneinander wissen. Gibt es noch etwas, was du mir erzählen darfst?“ fragte ich. „Wie hast du mich überhaupt gefunden? Oder wie bist du gerade auf mich gekommen? Haben wir uns doch schon einmal getroffen?“
„Nein, nicht das ich wüsste. Vielleicht beim letzten Friedensfest - aber da waren so viele Leute -“
„Ja, ich weiß, Ylkan hatte den Vorsitz. An deine – Zwillingsväter? Sagt ihr das wirklich so? - und an deine Mutter kann ich mich auch noch erinnern, aber an sonst niemand.“
„Ich war auch nur bei dem Abschlussfest dabei. Mendy konnte nicht mitkommen, weil unsere Jungs noch zu klein waren und ich wollte sie nicht die ganze Zeit allein lassen. Mein Vater wollte, dass ich bei der Hauptversammlung vorspielen sollte, aber mir war nicht danach.“
„Spielen? Was spielen?“
„Laute. Ich bin ein Barde“ sagte Yenda. „Hab ich das noch nicht gesagt? Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, als wüsstest du schon alles über mich.“
Es überraschte mich tatsächlich nicht sehr. Clanangehörige brauchen natürlich niemals einen Beruf erlernen oder ausüben, aber sehr viele tun es trotzdem. Einer meiner Brüder ist Winzer und meine jüngere Schwester ist Kunstschmiedin. Ich nahm Yendas Hand hoch und strich über die Fingerkuppen. „Das erklärt die Hornhaut. Und die Nägel. Eine Freundin von mir ist auch Bardin.“
„Seit meiner Flucht hatte ich nicht mehr genug Zeit um richtig zu spielen. Aber ich habe schon ein oder zweimal eine Übernachtung mit ein paar Liedern bezahlt. Es ist auch eine gute Tarnung, für uns beide vielleicht.“
„Ich kann aber nicht singen“ protestierte ich. „Ich habe schon eine Menge Sachen ausprobiert, aber noch nie etwas mit Musik. Oder andere Künste.“
„Das macht nichts“ sagte Yenda besänftigend. „Es reicht ja, wenn ich spiele.“
„Warst du schon immer ein Barde? Von Anfang an?“
„Mehr oder weniger, ja. Musikunterricht hatte ich schon als Kind. Es dauerte eine Weile, bis meine Eltern mir auch das Studium erlaubten, aber ich habe mich schließlich durchgesetzt.“
„Und jetzt? Spielst du viel mit anderen, ich meine, gibst du Konzerte?“
„Auch, aber nicht oft. Ich mag die traditionelle ylkanische Musik nicht besonders. Ich komponiere lieber eigene Stücke und studiere die Musik der anderen Reiche. Früher war ich oft monatelang in Nakuren, um im nohkresischen Musikarchiv nach Stücken zu suchen, aber nach meiner Heirat nur noch selten. Vor zwei Wochen war ich wieder da, aber diesmal nur um die Clanchroniken einzusehen.“
„Warum?“
„Um dich zu finden natürlich. Wo hätte ich sonst von dir erfahren sollen? Eine der wenigen Tarlils im ganzen Nohkran, die Traummagieadeptin ist?“
Ich blieb abrupt stehen und starrte ihn bestürzt an.
„Traummagieadeptin?! Brauchst du mich deshalb? Aber ich bin doch keine Adeptin!“
„Nein, nein, das verstehst du falsch…“
„Ich mache das erst seit zwei Jahren und bin gerade mit der Traumbeherrschung fertig, außerdem hab ich eine
Prüfung nicht bestanden...“
„Ich weiß. Das spielt auch keine Rolle, glaub mir. Es ist nur – sagen wir mal, ganz gut, dass du dich mit Traummagie etwas auskennst. Das könnte nützlich sein. Ich werde es dir später erklären.“
„Wann später? Warum kannst du mir das nicht schon jetzt sagen?“
Yenda wiegte unschlüssig den Kopf.
„Wenn wir da sind, am Tag davor, ja? Glaub mir, das ist besser.“
„Versprochen?“
Er grinste. „Ja, versprochen, beim Drachen oder was du willst. Aber wie ist das, willst du wirklich Traummagierin werden? Oder etwas anderes?
„Ich weiß es noch nicht. Ich beschäftige mich schon seit langem mit Kräutermedizin und wollte mich eigentlich auf Traumheilkunde spezialisieren, sobald ich die drei Jahre Traumbeherrschung abgeschlossen habe, die ich dafür brauche. Aber ganz sicher bin ich mir noch nicht.“
„Aber jetzt bist du Traummagiestudentin?“
„Ja, die Kunst der Traumsteuerung ist für alle vorgeschrieben, die Spezialisierung kommt erst später.“
„Das war bei meinem Studium ähnlich. Nachrichtensänger, Geschichtenerzähler und Musiklehrer durchlaufen zwei Jahre lang das gleiche Studium wie Barden. Darum waren meine Eltern anfangs gegen das Studium, ich konnte sie aber davon überzeugen, dass es mir nur um die Musik ging. Ich wollte nie unterrichten - außer vielleicht meine Söhne, wenn sie irgendwann mal Interesse haben sollten - und als Nachrichtensänger hätte ich sowieso nie getaugt.“
Ich versuchte mir Yenda als Nachrichtensänger vorzustellen und prustete vor Lachen. Und auch Yenda grinste.
Als wir den Grenzhof erreichten, dunkelte es und am Eingangstor wurden die großen Öllaternen entzündet. Fast zeitgleich mit uns kam eine kleine Herde weißer Enten von einem Teich in der Nähe der Strasse angewatschelt und hielt schnatternd und flügelschlagend auf das Tor und die dahinter liegenden Ställe zu, ohne dass jemand sie anleiten musste. Wir fanden den Grenzwirt vor der Gaststube und mussten uns eine wortreiche Entschuldigung anhören, nachdem wir ihm erklärt hatten, warum wir ohne Kutsche angekommen waren. Als ich das letzte Mal dort übernachtet hatte, war es eine Wirtin gewesen, die den Hof führte, die mir aber nicht mit dem jetzigen Wirt verwandt zu sein schien. Es wunderte mich aber nicht weiter, der Grenzhof ist so alt wie der Nohkran und wurde auf den Ruinen eines Gebäudes errichtet, das schon zu Zeiten des verschwundenen Volkes als Herberge diente. Und irgendwie scheint sich unter seinen Gästen immer wieder ein Erbe zu finden, der ihn weiterführt, fast als wäre er ein eigenes kleines Reich für sich.
„Ihr wollt sicher baden? Jetzt ist gerade noch eine Therme frei, aber nur noch für höchstens eine Stunde“ sagte der Wirt abschließend. „Am besten geht ihr sofort, und ich lasse euer Gepäck auf euer Zimmer bringen, wenn die Kutsche nachkommt. Handtücher sind in dem Schrank bei dem Becken.“
Yenda öffnete schon den Mund um zu protestieren, aber ich kam ihm zuvor. „Es könnte nicht besser sein, vielen Dank, Taro. Wir kommen später zum essen runter. Kommst du, Yenda?“
Er folgte mir in den Hof, aber als der Wirt uns nicht mehr sehen konnte, blieb er stehen.
„Was ist? Willst du nicht mehr?“
„Doch, aber – soll ich denn draußen warten, bis du fertig bist?“
Ich grinste ihn an. „Nein, das brauchst du nicht. Wir können gerne zusammen baden, es macht mir nichts aus. Oder macht es dir etwas aus?“
„Nein, natürlich nicht“ beteuerte er, und ich bedauerte, dass es schon zu dunkel war, um zu erkennen, ob er nicht wenigstens ein bisschen rot geworden war.
„Und bevor du etwas falsches denkst, ich meine auch wirklich nur baden. Ich bin nicht prüde, aber alles andere ginge mir jetzt doch zu schnell und ... du bist auch nicht so ganz mein Typ.“ Als Yenda mich verblüfft anstarrte, fügte ich hastig hinzu „Ich finde dich schon sehr nett. Aber - eben nicht so.“
Yenda legte den Kopf schief und grinste. „Lass mich raten. Größer und breiter, mit viel Muskeln und möglichst langen lockigen Haaren?“
„Könnte hinkommen“ gab ich zu. „Im Moment gibt es aber niemanden von der Sorte in meinem Leben, da kannst du ganz beruhigt sein.“
Wir waren im Thermengebäude angekommen. Beinahe überall auf unserem Inselland gibt es Höhlen und Seen mit heißen Quellen und diese hier hatte man schon lange Zeit vor der Landung der Clans in mehrere separate Becken eingefasst und später Gebäude darum errichtet und immer weiter ergänzt. Wie der Wirt gesagt hatte, waren sämtliche Baderäume bis auf einen im hinteren Teil der Höhle besetzt. In den Wänden waren Fackeln eingelassen und in der Saunahütte war schon ein Feuer entfacht, für die Benutzer, die noch zusätzlich schwitzen wollten. Das leicht sprudelnde dampfende Wasser warf helle Lichtkringel an die Höhlenwände und tief aus dem Becken kam ein beruhigendes Blubbern.
„Du meinst, es besteht keine Gefahr, dass dir so ein Muskelmann gefolgt ist und gleich die Tür einschlägt?“ Yenda grinste. „Aber wo wir dabei sind, ich bin zwar auch nicht besonders prüde, aber im Moment bin ich nicht wirklich - interessiert und ich glaube, du bist auch nicht so ganz mein Typ.“
„Soso. Lass mich raten - klein, schmal, kurze glatte Haare?“
„Oh nein, lange Haare mag ich sehr, aber nicht diese vielen Locken“ meinte er leichthin und ich sah ihn strafend an. „Aber bei dir sieht es gut aus“ beeilte er sich zu versichern. „In Ylkan würdest du aber damit auffallen, dort hat niemand solche Haare.“
Ich nahm das Stirnband ab, beugte mich nach vorn und schüttelte die ganze Mähne über meinen Kopf, dann warf ich sie wieder zurück und strich sie nach hinten. Yenda ertappte sich selbst dabei wie er mir fasziniert zusah und riss sich sichtlich zusammen, legte die Umhängetasche auf die Bank und zog seine Stiefel aus. Ich überlegte, ob es sich lohnte mir die Haare zu waschen und kam zu dem Schluss, dass es ja nicht schaden konnte.
„In Baleh sind Locken ganz normal. Du solltest meine Geschwister sehen, meine jüngere Schwester hat sogar rote Haare. Und mein älterer Bruder hat noch längere Haare als ich.“
Ich nahm mir ein Handtuch und legte meine Weste ab. Yenda zog sich sein Hemd einfach über den Kopf. Wie ich mir gedacht hatte, war er zwar sehnig und ganz gut gebaut, aber eher schmal und viel zu mager, ich konnte schon alle seine Rippen sich deutlich abzeichnen sehen. Und dann sah ich noch etwas anderes.
„Wyrs Atem, wie ist das denn passiert?“ ‚Das’ war eine fast fingerlange ziemlich tiefe Narbe in seiner rechten Seite etwa in Bauchnabelhöhe.
„Ein Unfall, bei meinem letzten Friedensdienst. Ein Armbrustbolzen löste sich vorzeitig und ich stand im Weg. Es sieht schlimmer aus als es ist, der Bolzen ging nicht sehr tief rein.“ Yenda legte seine Hosen ordentlich auf die Bank und ließ sich vom Beckenrand langsam in das brusttiefe dampfende Wasser gleiten. „Bals Feuer, ist das heiß…“
Ich ging über die Treppe langsam in das Becken und streckte mich genießerisch im Wasser aus.
„Wie konnte ein Bolzen denn so eine lange Narbe machen?“
„Als sie den Bolzen herauszogen, kam noch etwas mit raus und der Hofarzt wollte sichergehen, dass nicht noch mehr da drin war, darum schnitt er mich noch etwas weiter auf.“
„Und was war das denn? Was hat er gefunden?“
„Meinen verschwundenen Zwilling.“ Yenda watete durch das Becken und holte das Seifengefäß. „Oder vielmehr seine Überreste, eine kleine Handvoll Fleisch. Erst dachte er, es wäre ein Gewächs, aber dann fand er Zähne und Fingernägel darin, auch Haarbüschel, ein paar kleine Knöchelchen... wie von einem Kind. Meinem Zwilling.“
Ich wollte meinen Ohren nicht recht trauen.
„Ich weiß, es hört sich unglaublich an, aber es war so. Der Hofarzt hatte tatsächlich so etwas Ähnliches vermutet. Er behauptete, dass es ab und zu vorkommt, dass ein Zwilling im Mutterleib stirbt und sein Körper mit dem des anderen oder der Mutter verschmilzt - in ihm aufgeht. Niemand weiß, wie oft so etwas geschieht. Nur bei mir ist es aufgefallen, weil ich normalerweise einen Zwilling hätte haben müssen.“
„Es muss ein großer Schock gewesen sein.“
„Oh ja. Vor allem für meine Mutter. Der Hofarzt wollte es ihr erst nicht sagen. Meine Eltern und mein Onkel beschlossen dann, die Sache geheim zu halten.“
„Warum? So hätte sich doch das Rätsel mit deinem verlorenem Zwilling geklärt?“
„Das dachte ich auch erst, aber es hätte auch alles schlimmer machen können. Womöglich hätte man geglaubt, ich hätte meinen Zwilling umgebracht.“
„Was?? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“
Yenda seufzte. „Nein, du nicht, und viele andere auch nicht, aber um jemanden in Verruf zu bringen, reicht ein böses Gerücht. Als Unglücksbringer zu gelten reicht mir vollkommen, da will ich nicht auch noch als Zwillingsmörder bekannt sein.“
„Aber wie kann denn ein ungeborenes Kind seinen Zwilling umbringen??“
„Frag mich nicht, aber so würde es wohl einigen Leuten erscheinen. Ylkaner sind extrem abergläubisch. Mein Zwilling war wohl zu schwach, um sich weiter zu entwickeln, aber wer würde die vernünftige Version glauben wollen, wenn die andere Geschichte soviel interessanter klingt?“ Yenda hatte sich fertig eingeseift und ließ sich entspannt im Wasser treiben, den Kopf auf eine Vertiefung im Beckenrand gestützt. Ich tat es ihm nach und versuchte meine verkrampften Muskeln zu entspannen. Das Kreuz tat mir immer noch weh von dem langen Stehen. Yenda erzählte weiter, mit ruhiger Stimme, aber ich konnte die Bitterkeit deutlich heraushören.
„Ich weiß bis heute nicht, wie Mendy wirklich darüber denkt. Es war ein großer Schock für sie – glücklicherweise waren unsere Kinder schon auf der Welt, oder sie hätte vielleicht eine Fehlgeburt gehabt. Sie hat nie mehr mit mir darüber gesprochen. Der Hofarzt riet uns, das Ganze zu vergessen. Wir bestatteten die – Überreste – heimlich im Aschenturm von Ylkan und führten vorsichtshalber das Todesritual durch, um seine Seele zu befreien. Ich bin damit wohl der einzige ylkanische Tarlon, der zweimal seinen Zwilling begraben hat ... Der Hofpriester hielt es aber für notwendig, er glaubte, dass die Seele des Zwillings noch nicht weitergewandert war, weil – nun, es ist sehr seltsam, die Zähne zum Beispiel hätte es ja noch gar nicht geben dürfen, sie waren aber schon recht groß. Der Hofarzt meinte, sie wären einfach in mir weiter gewachsen, als Teil meines Körpers, aber der Priester glaubte, die Seele müsste noch an die Überreste des Körpers gebunden sein, da diese in mir weitergelebt hatten.“
„Wenn dein Zwilling so weit mit dir verschmolzen ist, dann muss es sehr früh passiert sein. Und ich dachte immer, die Seele eines ungeborenen Kindes löst sich sofort wieder auf, wenn der Körper stirbt. So sagen es unsere Priester jedenfalls.“
„Im dritten oder vierten Monat“ sagte Yenda bekümmert. „Ich weiß nur, dass ich niemals das Gefühl hatte, einen Zwilling verloren zu haben. Normalerweise hätte ich ja auch sterben müssen, aber ich hatte ja meine erwählte Schwester, fast von Anfang an. Vielleicht ist es mir durch sie einfach nicht bewusst geworden. Bis zu dem Tag, als der Hofarzt die Überreste aus mir herausfischte, war ich davon überzeugt, dass ich niemals einen Zwilling hatte, außer Aridys.“
„Was hat Aridys dazu gesagt?“
„Zu der Zeit sprachen wir kaum noch miteinander, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, dass sie nicht sehr überrascht war. Sie hat auch eine Zeitlang Heilkunde studiert.“
„Und jetzt? Wie denkst du jetzt darüber, nach der ganzen Zeit?“
Yenda drehte sich auf den Bauch und bettete das Gesicht auf die Arme.
„Sehr viel Zeit mich damit zu beschäftigen hatte ich nicht seitdem. Aber trotzdem – ich bin mir sicher, dass mein Zwilling schon im Mutterleib starb und nicht erst, als er aus mir herausgeholt wurde. Und dass seine Seele – oder ihre, wir konnten ja nicht feststellen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war – schon lange weitergewandert ist. Aber wir werden es wohl nie erfahren.“
„Ich denke du hast Recht. Eigentlich schade.“
„Wieso schade?“
„Nun – es ist eine traurige Geschichte. Ohne richtiges Ende.“
„Wie so vieles anderes. Es lässt sich nun mal nicht ändern. Wir sollten über etwas anderes reden.“
„Gerne. Mach einen Vorschlag.“
„Erzähl mal ein bisschen von dir.“
„Ich dachte, du weißt schon alles?“
Yenda lachte. „Bei weitem nicht. Nur das nötigste. Ich traf jemanden in Nakuren, der mir von dir erzählte, das hat meine Suche etwas abgekürzt. Jetzt wo ich es bedenke - ja, doch, er war größer als ich und sehr muskulös ...“
Ich wollte die Seife nach ihm werfen, doch sie flutschte mir aus den Fingern und wir mussten beide danach tauchen, bis ich sie wieder zu fassen bekam.
„Ich bin ja schon froh, dass es gerade keinen Muskelmann in deinem Leben gibt. Das hätte es wesentlich schwieriger gemacht für mich.“
„Sei froh, dass meine Geschwister gerade nicht in der Stadt waren“ gab ich zurück. „Mit denen und dem Rest meiner Familie hättest du es wirklich schwer gehabt, dagegen wäre ein Liebhaber ein Klacks gewesen.“
„Deine Tante sagte auch so etwas - was für ein großes Glück ich hätte, dass du noch in der Stadt wärest. Normalerweise seid ihr um diese Zeit alle auf euren Weingütern?“
„Ja, wegen der Weinlese. Das ist sehr wichtig für uns.“
„Hast du ein eigenes Weingut?“
„Ja - schon, ein kleines aber nur. Und es gehört nicht wirklich mir. Der Clan besitzt mehrere Weingüter, die immer innerhalb der Familien vererbt werden, in einer festen Reihenfolge. Ich habe meines von meiner Urgroßmutter geerbt, als ich sechzehn wurde.“
„Wird es Schwierigkeiten geben, wenn du bei der Weinlese nicht dabei bist?“ fragte Yenda besorgt.
„Nein, ich denke nicht, mein Verwalter kümmert sich sowieso immer um alles. Ich bin gerne dabei, aber im Prinzip brauchen sie mich dort gar nicht.“
„Und du kannst deinem Verwalter auch wirklich vertrauen?“
„Urtan? Oh ja. Ich habe ihm die Stelle erst verschafft. Als ich bei einem Weinblütenfest versehentlich zur Weinjungfrau gewählt wurde, war er der Weinjüngling -“
„Versehentlich gewählt?? Wie denn das?“
„Naja, beim Weinblütenfest tragen alle Masken und jeder der Lust hat, darf sich zur Wahl aufstellen lassen. Das ist schon lange her, über zehn Jahre, und ich hatte noch nie bei so einem Fest mitgemacht und fand es einfach wunderbar. Ich hätte mich nicht aufstellen lassen sollen, aber es machte Spaß und ich dachte, es würde mich sowieso keiner wählen.“
„Oh. Und was macht dann so ein Weinpaar?“
„Weinblütenpaar. Kennst du die Geschichte von Bal, wie er mit Anns Hilfe einst zusammen die Weinrebe erschuf? In jedem Weinbezirk wird ihnen zu Ehren jedes Jahr ein Weinblütenpaar gewählt. Von Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung des Blütenfesttages ziehen sie über die Felder und segnen sie und die folgende Nacht verbringen sie dann miteinander unter freiem Himmel in einem ausgelostem Weinfeld, ganz allein.“
„Und dann? Müssen sie auch miteinander schlafen?“ Yenda schien völlig fasziniert zu sein.
„Eigentlich schon. Es verlangt natürlich keiner ausdrücklich, aber irgendwie wird es schon vorausgesetzt – eben stillschweigend. Es ist eben so eine Art Fruchtbarkeitsritual. Aber ob es auch wirklich alle tun, weiß ich nicht, es kann ja keiner kontrollieren. Es kann natürlich schwierig werden, wenn einer von den beiden Gewählten das Amt aus genau diesem Grund ablehnt - die Möglichkeit haben beide. Dann muss neu gewählt werden, und zwar beide Kandidaten. Als der Winzerrat nach meiner Wahl merkte, wen sie gewählt hatten, waren sie ziemlich entsetzt und wollten die Wahl von vorneherein für ungültig erklären lassen.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
„Ich war selber drauf und dran zu verzichten, aus Rücksicht auf ihre Gefühle, aber Urtan bat mich inständig die Wahl anzunehmen. Nein, nicht was du denkst, also nicht wegen mir, sondern weil jeder Gewinner ein eigenes Weinfeld als Preis bekommt. Und er war damals nur ein Winzerknecht, ohne eigenes Land und er wollte um jeden Preis Winzer werden. Also stimmte ich zu und überschrieb ihm auch noch das Land, das mir zustand und der Winzerrat konnte nichts mehr ausrichten. Es gab natürlich einen ziemlichen Skandal, aber die Leute sind es schon von mir gewöhnt, und letztendlich war es ja für einen guten Zweck.“
„Das will ich meinen. Der Kerl - Urtan? - hat ja wirklich enormes Glück gehabt. Gleich zwei Weinfelder und eine Nacht mit einer Tarlil ...“
„Ach, tatsächlich ging es ihm nur um die Weinfelder. Das andere - naja, in den Balladen heißt es natürlich, dass er unsterblich in mich verliebt war ...“
„Balladen? Es gibt Balladen davon?“
„Natürlich, über mich gibt’s hunderte von Balladen. Und viele sind noch nicht einmal verboten.“
Yenda schüttelte nur lachend den Kopf. „Du musst mir unbedingt mal ein paar vorsingen.“
„Das könnte dir so passen. Schlag sie doch im balehsischem Musikarchiv nach. Außerdem kann ich nicht singen.“
„Und wie ging es weiter? War er nun verliebt oder nicht?“
„Nein. Er war mir sehr dankbar und er war auch sehr nett, wir haben uns gut verstanden …“
„War er nicht dein Typ?“
Ich zuckte die Schultern. „Nicht so ganz, aber es hätte mir nicht viel ausgemacht. Aber das Problem stellte sich gar nicht, weil er eben - naja, er liebt nur Männer. So wurden die Felder in diesem Jahr nicht befruchtet, wenigstens nicht durch uns.“
Yenda lachte laut heraus. „Kam das denn nicht später raus?“
„Nein, warum auch? Es interessierte doch niemanden. Ein paar Leute hofften natürlich, ich würde schwanger werden und ihn heiraten. Ich musste mich ganze zwei Jahrviertel immer wieder in der Öffentlichkeit zeigen, damit auch jeder sah, dass ich nicht schwanger war. Es dauerte wirklich eine Ewigkeit, bis auch die Letzten überzeugt waren.“
Yenda schüttelte nur den Kopf und gluckste in sich hinein. Ich war froh, dass es mir gelungen war ihn ein bisschen aufzuheitern.
„Und nun ist dieser Urtan dein Verwalter?“
„Ja, und ein ziemlich guter. Wir sind auch immer noch gute Freunde.“
Wir hörten, wie sich Schritte der Tür des Baderaums näherten und dann klopfte jemand an die Tür. Es war der Wirt, unsere Zeit war fast um. Ich zog mir, noch ganz erhitzt von dem heißen Wasser, nur das lange Hemd an und trocknete, ein Handtuch um meine Schultern, so gut es ging meine Haare am Schwitzraumfeuer. Yenda blieb noch ein wenig im Wasser, dann zog er sich heraus und streifte sich sein Hemd über. In Handtücher gehüllt und unsere Kleider über dem Arm gingen wir einträchtig zum Gasthof hinüber. Inzwischen war es vollständig dunkel geworden und aus der Gaststube drang lärmendes Grölen und Gelächter, das wohl hauptsächlich von der trinkfesten Reisegruppe aus Chruann stammte. Unser Zimmer war im ersten Stock und ging nach hinten hinaus. Es war kaum groß genug, um die beiden Betten zu fassen, die etwa einen Meter auseinander standen. Das Gepäck war schon vollzählig hinaufgebracht worden. Ich entschied mich für das linke Bett und spürte auf einmal, wie müde ich war. Am liebsten hätte ich mich gleich schlafen gelegt, aber meine Haare waren noch zu feucht. Yenda zündete die Öllampe auf dem Tisch zwischen den Betten an und stellte die Kerze daneben.
„Sollen wir noch runtergehen und etwas essen?“ fragte er unschlüssig.
Der Lärm von der Gaststube war bis in das Zimmer zu hören und nahm mir die letzte Lust. Yenda schien es ähnlich zu gehen.
„Ich gehe etwas holen“ entschied er. „Wir sollten morgen früh aufbrechen.“
Er verließ das Zimmer und ich schlug das Bett zurück und zog mein Nachtzeug an. Yenda kam wenig später mit einem großen Tablett wieder, auf dem zwei Teller mit heißer Suppe, eine Kanne Tee sowie ein Krug Wasser und ein Brotkorb standen. Wir stellten das Tablett auf den Boden zwischen die Betten und setzten uns daneben. Yenda wirkte wesentlich entspannter als vor dem Bad, aber er hatte dunkle Ringe um die Augen und sein ständiges Gähnen steckte mich bald an. Wir sprachen kaum beim essen. Später brachte Yenda das Tablett hinaus und ging zum Waschraum und ich trank meinen Tee im Bett aus. Als er zurückkam, nahm ich die Kerze und ging selber zum Waschraum. Der Flur wirkte wie ausgestorben, anscheinend waren wir außer der Reisegruppe die einzigen Gäste im Grenzhof. Als ich zurück ins Zimmer kam, lag Yenda im Bett und schien schon halb zu schlafen, doch als ich die Fensterläden, die er offen gelassen hatte, schließen wollte, richtete er sich noch einmal auf.
„Nein, lass es offen, bitte. Oder ist es dir zu kalt sonst?“
„Nein, hier wird es um diese Zeit nicht kalt nachts. Ich dachte nur, es wäre zu hell bei offenem Fenster.“
Yenda lächelte etwas schief. „Ich mag es lieber etwas heller. Ich ertrage es nicht, wenn es ganz dunkel ist. Konnte ich noch nie. Musst du es ganz dunkel haben?“
„Nein, es macht mir nichts aus.“ Ich ging zurück zum Bett. Yenda legte sich wieder hin und lächelte mich schläfrig an, dann streckte er seinen Arm unter der Decke hervor und griff nach meiner Hand, verschränkte sanft seine Finger mit meinen. Ich konnte nicht widerstehen und tastete mich mit meiner Clangabe zu ihm vor, so wie es meine Mutter bei mir und meinen Geschwistern gemacht hatte, als wir noch klein waren, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Yenda merkte nichts oder ließ sich zumindest nichts anmerken. Ich spürte auch nichts Besonderes, nur Schläfrigkeit und vage Zufriedenheit an der Oberfläche, und die nahende rauchige Schwärze des Schlafs, wie der Einbruch der Dämmerung über einem weiten Feld gegen den Abendhimmel. Die Anspannung und Verzweiflung, die ich erst am Pranger und später auf der Strasse noch so deutlich in ihm gespürt hatte, waren wieder tief in ihm hinter seinen Schilden verborgen, durch die ich nicht vordringen mochte.
Yenda zog meine Hand kurz an seine Wange und ließ mich dann los. Seine Müdigkeit übertrug sich auf mich und ich war schon fast eingeschlafen, bevor ich mich richtig hingelegt hatte.

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