Babas Welt
Montag, 7. Dezember 2009
Kapitel 7

Kapitel 7

Im Jahr 399 nach der Landung, am Vollmondstag im 3. Mond in Anns Jahrviertel

Ungefähr zwei Stunden später, als ich mir sicher war, dass die drei anderen Frauen fest schliefen, stand ich so leise wie möglich auf, nahm das kleine Bündel mit meinen Hosen und Schuhen (statt in meinem Nachtzeug war ich nur in meinem Hemd ins Bett gegangen) und der kleinen Öllampe und meinem Messer unterm Bett hervor und tastete mich vorsichtig zur Tür vor. Es war stockdunkel im Zimmer, weil Dhani das Fenster wegen dem Vollmond zugehängt hatte. Ich hatte versucht mir den Weg zur Tür so gut wie möglich einzuprägen, um nicht über irgendetwas zu stolpern auf dem Weg dorthin. In der Hütte war alles still, bis auf Gryndals Schnarchen im Nebenzimmer - Sera hatte nicht übertrieben damit. Die Tür war mit einem Vorlegeriegel gesichert und ich war froh, dass mein Messer durch die Türritze passte, so dass ich damit den Riegel von außen wieder herunterlassen konnte. Der Mond stand fast im Zenith und die Strasse zwischen den Hütten war beinahe taghell erleuchtet, während die Schatten unter den Bäumen wie schwarze Abgründe gähnten. Ich ging zu dem Aborthäuschen über der Sickergrube und zog mir in seinem Schatten Hosen und Schuhe an, dann befestigte ich das Messer und die Lampe an meinem Gürtel. Yenda hatte nicht gesagt, wo wir uns treffen sollten, aber es konnte eigentlich nur auf dem Weg zum Höhleneingang sein. Ich konnte nur hoffen, dass in der Siedlung keine Wachen aufgestellt waren. Auf dem Weg zum oberen Ende des Tales versuchte ich möglichst im Schatten zu bleiben. Die Siedlung lag friedlich und totenstill im Mondschein, außer einem Igel am Wegrand sah ich kein lebendes Wesen.
Als ich den Felsvorsprung an der Flussbiegung fast erreicht hatte, sah ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung unter den Bäumen am Fluss, aber bevor ich mich allzu sehr erschrecken konnte, erkannte ich Yenda. Sein helles Haar schimmerte unverkennbar im Mondlicht, als er aus dem Schatten der Bäume trat. Ich ging zu ihm und er nahm mich wortlos bei der Hand und zog mich tiefer in den Schatten. Wir standen nahe beieinander unter einer Weide und er hielt seinen Kopf dicht an meinen. Sein Atem roch nach Met und ich krauste unwillkürlich die Nase. Yenda grinste und ich sah seine Zähne im Mondlicht schimmern.
„Ich musste mit Merlag ein paar Gläser trinken, er bestand darauf und es war die einzige Möglichkeit ihm das Schlafmittel unterzumogeln. Ich hab das meiste von meinem Met weggeschüttet, keine Sorge.“
„Schlafmittel? Woher – ach, du hast die Tinktur genommen?“
„Mir fiel nichts Besseres ein. Ich hoffe, ich hab ihm nicht zu viel gegeben, aber Merlag wird es wohl vertragen.“
„Alkohol verstärkt die Wirkung noch“ sagte ich. „Wartest du schon lange hier?“
„Nein, es geht. Ich bin dankbar, dass du überhaupt gekommen bist. Das ist mein Ernst.“ Yenda legte seine Arme um meine Schultern. „Bist du sicher, dass du mitkommen willst?“
„Das fragst du jetzt??!“
Yenda lächelte schwach und legte seinen Kopf an meinen. Für eine Weile standen wir so beieinander und ich schloss die Augen und lauschte auf seinen Atem und das Rascheln der Blätter im sanften Wind. Dann wandte er den Kopf und seine Bartstoppeln kratzten leicht über meine Wange.
„Lass uns gehen.“ Yenda nahm meine Hand und wir gingen den Pfad hinauf zum Felsvorsprung und hielten uns dabei soweit wie möglich im Schatten.
„Weißt du ob der Höhleneingang bewacht wird?“
Yenda grinste. „Ja, jede Nacht, aber jetzt ist niemand da, weil Merlag bei Vollmond immer die erste Wache übernimmt.“
Tatsächlich lagen die Anhöhe vor der Höhle und der abgesperrte Pfad völlig verlassen im Mondlicht. Der Fluss schimmerte silbern und ich konnte kaum sehen wie sich das Wasser bewegte. Yenda ging voraus und ich folgte ihm bis zum Felsen, wo das Wasser über den Rand des Quelltopfes strömte. Zwischen dem Wasser und der Felswand befand sich ein kleiner Steig, der in die Höhle hineinführte. Yenda nahm wieder meine Hand.
„Vorsichtig, der Pfad ist glatt. Weiter drinnen sind Fackeln, aber wir können hier noch kein Licht anmachen.“
Wir tasteten uns vorsichtig an der Felswand entlang halb um die Quelle herum, bis wir ein Plateau erreichten. Ich machte meine Öllampe vom Gürtel los und gab sie Yenda in die Hand.
„Noch besser. Wenn ich jetzt noch den Feuerschlager finde - hier muss irgendwo einer sein …“ Seine Stimme hallte ein wenig von den Felswänden wider und ich fühlte einen kühlen Hauch aus dem Gang vor uns kommen und unterdrückte ein Schaudern. Yenda fand das Feuergerät und entzündete die kleine Lampe. Er stellte sie auf einen Vorsprung und zog seine Waffenweste aus.
„Kein Eisen“ sagte er auf meinen fragenden Blick hin. „Du musst dein Messer auch hier lassen. Ist an deinem Gürtel Eisen? Oder etwas an der Lampe?“
„Nein, sie ist aus Ton und Glas. Der Gürtel ist nur Stoff und Leder.“ Ich legte mein Messer zu seiner Weste auf den Vorsprung. Yenda bückte sich und holte eine kleine Kiste unter dem Vorsprung hervor, ich erkannte erst was drin war, als er ein zusammengebundenes Paar herausholte.
„Schuhe??“
„Aus Stoff. In meinen Stiefeln sind Nägel, in deinen vermutlich auch. Hier müssen auch welche sein, die dir passen.“
Das vierte Paar passte mir. Die Stoffschuhe hatten verstärkte Sohlen aus Hanf und wurden über den Knöcheln zusammengebunden. Yenda sah mich prüfend an und nickte.
„Hast du irgendwelchen Metallschmuck in den Ohren oder im Haar?“
Ich schüttelte den Kopf. Yenda nahm meine Hand und wir wandten uns dem dunklen Gang zu. Dunkel war noch untertrieben, der Schein der Öllampe reichte nur ein oder zwei Meter weit und dahinter schien sich uns eine undurchdringliche schwarze Mauer entgegenzustemmen. Nach ein paar Schritten zögerte ich und Yenda schien es fast erwartet zu haben. Er stellte die Lampe auf den Boden, wandte sich mir zu und nahm meine andere Hand. Für einen winzigen Moment fürchtete ich, er wollte wieder vor mir niederknien und scheute schon davor zurück, aber er sah mich nur ernst an und ich merkte auf einmal durch unsere Hände hindurch, dass seine Schilder schwächer wurden. Er versuchte ganz bewusst sich mir zu öffnen.
„Yonann ...“ begann er und musste sich räuspern.
„Schon gut“ sagte ich verlegen. „Ich schaffe es schon. Wenn Nakur es geschafft hat – und du – dann kann ich es auch.“ Aber er hielt meine Hände weiter fest.
„Es ist nicht was du denkst. Ich kann dir immer noch nicht sagen warum, aber ich versichere dir - ich schwöre es dir noch einmal, bei allem was du willst, dass dir keine Gefahr droht. Da bin ich mir sicher.“
Das hatte ich nicht erwartet und so fand ich erst einmal keine Worte. Yenda missdeutete mein Schweigen.
„Was immer auch passiert, du bist nicht in Gefahr. Ich hätte dich nicht mit hineingezogen, wenn ich mir da nicht sicher wäre. Es gibt Sachen, die ich niemals auf mich nehmen könnte, ganz gleich worum es geht, und das ist eine von ihnen.“
Ich schluckte. „Wie kannst du dir sicher sein?“
„Genau das darf ich dir nicht sagen. Du musst mir vertrauen.“ Der Druck seiner Hände verstärkte sich - ich hatte es ihm inzwischen halbwegs abgewöhnt so fest zuzupacken, aber gelegentlich vergaß er es - und er trat noch dichter an mich heran.
„Bitte Yonann. Vertrau mir.“ Und durch unsere Hände hörte/spürte ich es wie ein Echo zwischen uns strömen: *Vertrau mir* …
Ich schluckte noch einmal und nickte dann. Yenda lächelte und zog meine Hand kurz an seine Wange, dann hob er die Öllampe auf und wir gingen weiter. Die Dunkelheit vor uns erschien immer noch undurchdringlich, aber nun wirkte sie für mich nicht mehr ganz so bedrohlich.

Vielleicht nicht mehr so bedrohlich, aber sehr eintönig und nach einiger Zeit - ich verlor schon sehr früh jeden Zeitbegriff - schien die Schwärze vor uns immer dichter und undurchdringlicher zu werden. Ich konnte nichts hören außer unseren Schritten und unser beider Atem und selbst diese schwachen Geräusche schienen sofort von der Dunkelheit geschluckt zu werden, ohne eine Spur von Echo.
Ich sagte mir wieder und wieder, dass Nakur vor fast vierhundert Jahren diesen Weg auf sich genommen hatte – sogar zweimal - und ich froh sein müsste, es ihm nachtun zu können. Vielleicht würde ich ihm auch näher kommen, wo immer er jetzt war. Und auch Yenda war hier alleine durchgegangen, ohne eine Ahnung von dem, was ihn erwartete und ich konnte mir kaum vorstellen, wie er es geschafft hatte, das unbeschadet zu überstehen. Trotz seiner Versicherung und trotz Nakurs Vorbild war ich mir sicher, dass ich es niemals über mich gebracht hätte, mich hier alleine hineinzuwagen.
Wir machten ab und zu eine kurze Pause, um einen Schluck zu trinken. Wir hatten jeder eine kleine Wasserflasche mitgenommen und obwohl es eher kühl in dem Stollen war, war die Luft überraschend trocken. Ich hatte immer gedacht, in einem Tunnel müsste es feucht und klamm sein, aber im roten Berg war es wohl anders.
‚Es dauert eine Weile, bis es - anders? seltsam? - wird’ hatte Sera gesagt. Eine lange Zeit hindurch - eine Stunde? Mehrere? - konnte ich keine Veränderung um uns herum spüren. Aber dann ließ Yenda einmal mehr meine Hand kurz los um zu trinken und da war mir, als konnte ich ihn nicht mehr wahrnehmen, weder hören noch spüren, als ob er plötzlich verschwunden wäre und an seiner Stelle ein Fremder stünde - mehr als fremd, anders auf erschreckende Weise. Der Boden schien unter meinen Füßen zu schwanken und mir wurde übel. Ich kniff die Augen zusammen und wich einen Schritt zurück und kam erst wieder zu mir, als Yenda mich in seine Arme nahm und sich fest an mich drückte. Ich klammerte mich an ihn und spürte sein Herz schlagen und dann war wieder alles wie vorher. Yenda streichelte mir über die Haare und legte eine Hand in meinen Nacken und ich atmete tief ein, das Gesicht noch an seine Schulter gepresst, und versuchte mich zu entspannen.
„Was ist passiert?“ fragte Yenda halblaut. Ich brachte es nicht über mich ihn loszulassen.
„Wir müssen nah dran sein - an was auch immer. Es fühlt sich so - seltsam an. Fremd. Ich kann es nicht beschreiben. Nein, lass mich noch nicht los - bitte ...“
„Nein, schsch ... Yonann, mal-chryng ...“ Ich spürte seinen Atem an meinem Hals in meinem Haar.
„Was?“
Ich spürte wie er grinste. „Später. Geht es dir jetzt besser?“
Ich ließ ihn langsam und widerwillig los und atmete noch einmal tief ein. „Ja ich denke schon. Wie hast du das nur ausgehalten, als du hier alleine warst?“
Er zuckte die Achseln. „Für mich ist es wohl anders. Ich habe deine Clangabe nicht. Und ich dachte die ganze Zeit nur an meine Schwester. Das hat wohl geholfen.“
Er hob seine Flasche und die Lampe wieder auf und behielt dabei meine Hand sorgfältig in seiner. Wir gingen weiter und ich versuchte mich auf ihn zu konzentrieren und die Mondnamen im Kopf herzusagen. Nach einer Weile war ich mir fast sicher, dass was immer es gewesen war mich zumindest nicht noch einmal so unvermittelt überraschen konnte.
Das nächste Mal war es Yenda, der anhielt. Er hob die Lampe etwas an und leuchtete erst nach der einen Seite und dann zur anderen. Vor uns schien unser Gang sich zu einem größeren Gewölbe zu verbreitern. Als wir vorsichtig ein paar Schritte weitergingen und Yenda die Lampe noch etwas höher hielt, bestätigte sich das. Ich sah, wie der Gang, aus dem wir gekommen waren, abrupt aufhörte und die Felswände einen Winkel bildeten. Und vor uns war nichts zu erkennen, das auf die Größe der Wölbung hindeutete. Yenda nagte nachdenklich an seiner Unterlippe und runzelte die Stirn.
„Bist du hier nicht durchgekommen vor einem Jahr?“ fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Es sah anders aus. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich weiß, dass es anders war. Der Gang war nicht so grade, es gab immer wieder Biegungen … Ich erinnere mich nicht an diese Höhle. Oder wenn, dann sah sie anders aus.“
„Wie anders? Wie kannst du das überhaupt sehen im Dunkeln?“
„Gerade drum. Ich war in einer größeren Höhle - oder Halle - aber da war es schon hell.“
„Hell? Wieso - - oh.“
„Und ich brauchte viel länger um bis dahin zu kommen. Ich weiß nicht genau wie viel länger, aber konnte kaum noch laufen und hatte kein Wasser mehr. Vielleicht bin ich auch im Kreis gegangen.“
Ich starrte in die Dunkelheit vor uns. „Und was machen wir jetzt?“
Yenda zuckte die Achseln. „An einer Seite weitergehen - oder warten.“
„Warten?? Ich glaube, dann gehe ich lieber weiter.“
„Gut. Ich markiere aber besser die Stelle, falls wir wieder hier ankommen.“ Yenda hielt die Flamme der Öllampe dicht an den Felsvorsprung in Augenhöhe und malte mit dem Ruß ein ungelenkes X. Dann schichtete er noch ein paar kleinere Steine darunter aufeinander und wir gingen Hand in Hand rechts an der Felswand entlang. Yenda ging außen mit der Lampe und ich streckte ab und zu meine andere Hand aus um mich zu vergewissern, dass die Wand noch da war. Wie sehr ich es auch versuchte, ich konnte nicht erkennen, ob wir in eine andere Richtung oder im Kreis liefen. Auch die Felswand fühlte sich immer gleich an, eine raue unebene und kalte Fläche von der nichts ausging, weniger als nichts. Es war als ob sich der Stein nur fast wie Stein anfühlte, irgendetwas, ein kleines Detail fehlte oder war schlichtweg anders. Anders als jeder andere Felsen, als ob er nicht in diese Welt gehörte, sondern aus einer Welt stammte, die niemand wahrnahm, weil sie nicht mit den normalen menschlichen Sinnen wahrgenommen werden konnte. Eine Andere Welt. Und sie fühlte sich - falsch an. So fremd. So anders.
Wir sprachen nur wenig. Auch unsere Stimmen hörten sich nicht mehr wie sonst an, sondern leicht verzerrt, kaum wahrnehmbar - ich konnte es gerade noch hören, weil ich an Yendas Stimme gewöhnt war und für ihn mit seinem geschulten Gehör war es noch deutlicher. Außer wenn er dicht an meinem Ohr sprach, hörte er sich an, als wäre er durch eine unsichtbare Wand von mir getrennt oder als müsste der Klang eine andere Entfernung zurücklegen als gewöhnlich. Ich hatte genug damit zu tun, meine stetig wachsende Panik unter Kontrolle zu halten und konzentrierte mich lieber weiter auf seine Hand in meiner und was von ihm durch sie zu mir und wieder zurück strömte. Yenda war ruhiger als ich, aber ich konnte spüren, dass auch er immer nervöser wurde, je länger wir gingen.
Nach einer guten Weile - ich hatte versucht Schritte zu zählen und als das nicht funktionieren wollte, mitzuzählen, wie oft ich die Mondnamen hergesagt hatte, aber irgendwie verlor ich immer wieder den Anschluss oder vergaß mittendrin einfach weiterzuzählen - kamen wir wieder an einen Gang. Und als Yenda ihn genauso markieren wollte wie den ersten, entdeckten wir die alte Markierung. Es war der Gang aus dem wir gekommen waren und das hieß, dass es an dieser Stelle im Berg nicht weiterging. Yenda schloss die Augen und ballte die Fäuste. Ich spürte, wie die Verzweiflung ihn fast zu übermannen drohte, aber es gelang ihm noch einmal sich zu beherrschen. Er atmete tief durch und blickte sich prüfend um.
„Wir könnten versuchen einfach zur Mitte der Halle zu gehen“ schlug er schließlich vor.
„Ist das nicht zu gefährlich?“
„Warum?“
„Da könnte ein Abgrund sein. Oder Spalten. Wieviel Öl ist noch in der Lampe? Wenn sie nun ausgeht?“
Yenda schüttelte die Lampe leicht und runzelte die Stirn.
„Viel ist nicht mehr drin…“ gab er zu. Er sah sich um und stieß frustriert die Luft durch die Nase.
„So habe ich es mir nicht vorgestellt ... es ist alles so anders. Als ob - als ob er uns ignoriert ... oder uns nicht bemerkt hat ..“
Ich wollte bemerken, dass mir das mehr als recht war, aber schwieg doch lieber. Yenda hatte Recht, es war unmöglich seine Schwester zu finden ohne den Dämon zu konfrontieren und das Unvermeidliche hinauszuzögern brachte überhaupt nichts. Auf einmal fiel mir auch ein, dass Yenda es nicht ertrug, wenn es ganz dunkel war, und ich versuchte schnell wieder an etwas anderes zu denken.
„Glaubst du wirklich, er findet uns leichter wenn wir in die Halle hineingehen?“
„Ich weiß es nicht“ sagte er hilflos. „Möglicherweise. Bis hierhin deckt sich alles mit dem was die Wächter berichteten und ich selbst erlebt habe. Sie vermeiden es aber, dem Jenseitigen selbst zu begegnen, sondern versuchen nur den Berg zu erforschen. Aber keiner von ihnen hat diese Halle erreicht, geschweige denn ganz umrundet. Vielleicht hätten wir doch etwas Eisen mitnehmen sollen ...“
„Ich verstehe es sowieso nicht, warum Eisen nicht gut ist.“
„Es verändert sich, rostet, zerfällt - oder wird an einigen Stellen von Kräften angezogen und verbiegt sich - ich hab es selbst gesehen. Die Wächter behaupten, es stört ihre Wahrnehmung. Sie haben einen ganzen Verhaltenskodex erschaffen für Forschungen im Berg ...“
„Wie diese Reinigungszeremonie“ sagte ich. „Welchen Zweck erfüllt die eigentlich?“
„Sie reinigt den Körper und den Geist - das Bewusstsein von allen Dingen außerhalb des Berges oder zumindest außerhalb der Gemeinschaft. Es macht sie stärker, und sie können sich besser überwachen dadurch, behaupten sie zumindest. Ich glaube nicht so recht daran ...“ Yenda starrte mich gedankenverloren an. „.. aber vielleicht ist doch etwas dran...“
„Was denn??“ fragte ich verwirrt, als mir sein Schweigen zu lange dauerte.
Yenda schüttelte nur den Kopf. „Lass es uns versuchen“ sagte er. „Glaub mir, es spielt keine Rolle, ob wir uns verirren oder nicht. Nur ein kleines Stück hinein.“
Mir gefiel es nicht, aber er hatte Recht, es machte wirklich keinen Unterschied mehr. Wir kehrten dem Gang den Rücken zu und gingen langsam in die tiefe Schwärze im Inneren der Halle hinein. Yenda hielt dabei die Lampe so, dass sie ein kleines Stück vor uns erhellte, aber wir sahen kaum Unebenheiten, geschweige denn Spalten oder Löcher. Mit nur dem Stückchen Boden vor unseren Füßen kam mir alles womöglich noch unwirklicher vor als vorher, als wäre ich in einem Traum gefangen, der nicht aufhören wollte - ein endloser Traum, die Art Traum, die noch schlimmer war als eine Kette von Wachträumen oder Wiederholungsträumen. Ein Traum, aus dem man nicht entrinnen konnte, weil es weder Zeit noch Raum in ihm gab. Ich klammerte mich an Yendas Hand, bis ich meine eigene fast nicht mehr spüren konnte und kämpfte gegen die immer stärker werdende Angst an ihn zu verlieren. Wenn er meine Hand losließ, würden wir uns in der Dunkelheit verlieren und nie mehr wieder finden und den Gedanken ertrug ich nicht. So versuchte ich mich mit allen Sinnen auf ihn zu konzentrieren - seinen Atem und das Geräusch seiner Schritte, seinen Geruch und die Wärme, die von ihm ausging, den gleichmäßigen Druck seiner Hand mit den festen Fingern, den Schweiß, der sich immer wieder zwischen unseren Handflächen bildete…
Erst als er noch langsamer ging und schließlich stehen blieb, merkte ich, dass das Licht der Lampe schwächer geworden war. Noch brannte sie gleichmäßig, aber ich wusste aus Erfahrung, dass uns nicht mehr viel Zeit blieb. Yenda hob sie höher und schwenkte sie etwas weiter ausholend herum, aber es war nicht mehr zu sehen als vorher auch. Dann stellte er sie auf den Boden vor uns und nahm auch meine andere Hand.
„Und nun?“ fragte ich. Mein Herzschlag, der sich gerade einigermaßen beruhigt hatte, beschleunigte sich wieder etwas und ich versuchte langsam und regelmäßig zu atmen.
„Warten wir. Es wird nicht allzu lange dauern - hoffe ich.“ Yenda kam noch dichter an mich heran. Er löste seine Hände aus meinen und ließ sie an meinen Armen hinaufwandern bis zu meinen Schultern. Ich legte meine Arme um ihn und registrierte irgendwo am Rande einmal mehr wie schmal und gleichzeitig kompakt er gebaut war. Yendas Nasenspitze berührte meine und er grinste etwas nervös.
„Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber seit wann - uhm, wie lange ist es her, dass du ... mit jemandem ... zusammen warst?“ Ich starrte ihn verblüfft an und er lächelte schief. „Mit deinem letzten Muskelmann zum Beispiel?“
„Warum willst du das wissen? Hier? Jetzt?“ Allmählich war ich wirklich davon überzeugt, dass dies alles nur ein Traum war. Aber Yendas Körper so dicht an meinem fühlte sich zu real dafür an. Ich wünschte mir nur, es könnte mich von der stetig lauernden Angst und der erdrückenden Dunkelheit um uns ablenken, aber es gelang mir nicht.
„Gleich. Sag mir erst wie lange.“
„Es ist schon eine Weile her“ gab ich zu. „Seit dem Traummagiestudium .. oder so ungefähr.“
„Zwei Jahre also?“
„Ungefähr. Und du?“
„Ich weiß es nicht genau, aber über ein Jahr auf jeden Fall“ sagte Yenda ruhig. „Es begann schon vor Aridys’ Verschwinden ... und als die Alpträume anfingen, war dafür erst recht kein Platz mehr in meinem Leben.“
Nun, das bestätigte meine Vermutung irgendwie. „Aber warum ist das wichtig?“
„Die Wächter leben streng enthaltsam. Zumindest wenn sie im Tal sind, sie behaupten es macht sie weniger - angreifbar.“
Ich dachte daran, dass ich nirgendwo ein Paar zusammen gesehen hatte und wie alle Männer und Frauen in getrennten Hütten schliefen. Und dass es nirgendwo Kinder zu geben schien, geschweige denn schwangere Frauen.
„Gut, und was hat das mit uns ... mit dem hier zu tun?“
Yenda legte seine Stirn an meine. „Nun, ich glaube einfach - irgendetwas sagt mir, dass der Dämon von uns entfernt existiert, in seiner eigenen Welt, vielleicht einer Art Traumwelt. Und von dort aus kann er uns, so wie die Wächter, nicht wahrnehmen, solange wir uns nicht irgendwie bemerkbar machen.“
„Und wie? Wie glaubst du, nimmt er uns wahr?“ Ich ahnte die Antwort bereits.
„Er wird durch Gefühle angezogen. Sehr starke Gefühle - besonders solche wie Sehnsucht, Begehren, Verzweiflung, Angst, aber auch Hass und Wut, die sind wie - Feuer, Hitze, starke Strömungen ... du weißt das ja besser als ich ... Nur Angst allein scheint nicht so gut zu funktionieren, aber zusammen mit anderen Gefühlen … Die Wächter versuchen alle Gefühle zu unterdrücken, weil sie den Dämon nicht auf sich aufmerksam machen wollen. Aber genau das wollen wir - will ich ja.“
Mir wollte einfach nichts darauf einfallen und wir standen eine Weile dicht beieinander ohne uns anzusehen, während sich das Schweigen zwischen uns dehnte. Yenda sah mich an und holte Atem, als wollte er zum reden ansetzen, aber dann ließ er es doch. Ich spürte, wie sich sein Herzschlag immer mehr beschleunigte und schließlich hielt ich es nicht mehr aus und zog ihn mit sanftem Druck auf seinen Rücken näher an mich heran. Da überwand er sich, nahm meinen Kopf vorsichtig in beide Hände und streifte mit den Lippen sanft über mein Gesicht. Ich hielt den Atem an, als er meine Lippen berührte und vorsichtig begann mich zu küssen. Und alles fühlte sich so an wie es sein sollte, bittersüß und erregend, als ich mich fester an ihn drückte und den Kuss erwiderte. Es übertraf sogar noch meine geheimsten Erwartungen und obwohl Yenda es erst hatte so aussehen lassen, als ob dies alles nur dazu diente, den Jenseitigen auf uns aufmerksam zu machen, war ich keine Sekunde lang getäuscht.
Aber egal wie sehr ich auch versuchte mich in dem Sinnenrausch zu verlieren, die undurchdringliche kalte Dunkelheit und totale fremde Stille um uns herum ließ sich einfach nicht verdrängen und ich schaffte es nicht meine Angst zu überwinden. Ich schloss meine Augen, um mich so noch besser auf ihn konzentrieren zu können, aber das half nicht - im Gegenteil, ich fühlte mich so noch verletzlicher, der fremden Welt um uns herum noch hilfloser ausgeliefert.
Yenda streichelte meine Haare und ließ eine Hand langsam an meinem Rücken hinunter gleiten. Ich war ihm da schon ein wenig voraus und obwohl sich seine Haut am Rücken unter seinem Hemd wunderbar weich und glatt anfühlte und unsere Körper langsam vertraut miteinander wurden, reichte das noch nicht aus. Yenda küsste mich auf den Hals und murmelte irgendwas, vermutlich wieder einen ylkanischen Ausdruck. Zunehmend verzweifelt und frustriert versuchte ich weiter in seine Erregung einzutauchen und sie auf mich übergehen zu lassen, aber immer wieder übermannte mich die Angst vor der Dunkelheit und dem Jenseitigen erneut.
„Yenda .. es tut mir leid ...“ Ich fühlte mich fast den Tränen nahe. „Irgendwie .. geht das nicht, ich kann nicht ... nicht hier ...“
Yenda drückte mich fester an sich, den Kopf in meiner Halsbeuge.
„Ich weiß das doch. Denk nicht darüber nach.“ Er küsste mich auf die Kehle und schob seine Hände unter mein Hemd und ich zog die Luft durch die Zähne, als ich spürte wie seine Schilde sich weiter senkten und seine Gefühle mich wie eine warme Welle förmlich überschwemmten.
„Ich weiß - es ist der falsche Ort, so sollte es nicht sein ... nicht hier, nicht jetzt …“
„Nein, darum geht es nicht, ich will es doch auch - sonst hätte ich es nicht zugelassen.“ Das brachte bei ihm ein Lächeln hervor und er drückte sein Gesicht in meine Haare an meiner Schulter.
„Oh Yl und Bal, ich will es schon so lange, aber ich konnte einfach nicht ...“ murmelte er undeutlich. „Ich dachte, wenn alles vorbei wäre ... und woanders ... Wenn es nur irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte, dann hätten wir das immer noch vor uns ...“
„So gesehen ja, aber wenn wir hier nicht wieder rauskommen, haben wir wenigstens das hier schon gehabt.“
Yenda küsste mich wieder sanft auf den Mund. „So darfst du nicht denken. Wir werden das hier überstehen, da bin ich mir sicher.“
„Ist das ein Versprechen?“
„Und ob.“ Yenda ging in die Knie und ließ sich an mir herunter gleiten, dann drückte er seinen Kopf an meinen Bauch. „Beim Drachen, bei meiner Mutter, bei allem was du willst.“ Er kam langsam wieder hoch und ließ seine Hände dabei unter meinem Hemd an mir hochgleiten, so dass mir Schauer über den Rücken liefen. Und dann, endlich, als er meine Brüste erreichte, sie sanft umfasste und mit seinen hornhäutigen Fingerkuppen über meine Brustwarzen streichelte, vergaß ich meine Angst vor der Dunkelheit für einen langen wundervollen Moment. Ich versuchte diesen Moment festzuhalten und mich von der warmen Welle mitschwemmen zu lassen und Yenda mitzuziehen, einzutauchen in die Welle, bis ich nicht mehr unterscheiden konnte, welches seine Gefühle waren und welches meine. Und dann kam der Punkt, an dem ich nicht mehr stehen konnte oder wollte und versuchte Yenda mit hinunter zu ziehen –
Und dann, so plötzlich, als hätte ein Blitz bei uns eingeschlagen, wurde es hell um uns herum, blendend hell, in glänzendem Gold und grellem Weiß, als wären Tausende von Lampen gleichzeitig entzündet worden, gleißend hell selbst durch meine Augenlider hindurch. Meine Augen, ja mein ganzes Gehirn schmerzte von dem blendenden Weiß, das von allen Seiten in mich eindrang. Ich fühlte wie Yenda erst erstarrte und sich dann langsam von mir löste, und versuchte meine Augen zu öffnen. Es dauerte lange, bis das Licht nicht mehr schmerzte. Yenda ließ eine Hand an meiner Schulter und ich hatte immer noch meinen Arm um seine Taille geschlungen. Ich konnte sein Herz schlagen spüren, fast so schnell und heftig wie mein eigenes.
Die Dunkelheit war verschwunden und dem fast ebenso undurchdringlichem Licht gewichen. Ich konnte noch nicht einmal eine Quelle ausmachen, es schien von überall her zu kommen. Ich konnte nichts um mich herum erkennen außer dem grellen Schein von hellem Gold bis hin zu grellstem Weiß, keinen Felsboden, keine Decke, keine Felswände. Da war nur das Licht -
Und der Jenseitige.

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