Babas Welt
Freitag, 11. Dezember 2009
Kapitel 11



„Begegnest du einem Ylkaner, so muss es sein Zwilling sein.“

(Nohkresischer Scherz)

Bal, bewahre meine Wärme,
lass mich nicht in der Kälte allein.
Ann, beschütze mein Leben,
lass es mich nicht verlieren vor der Zeit.
Yl, behüte meinen Schlaf,
lass mich nicht irre gehen in meinen Träumen.
Wyr, bewache mein Schicksal,
lass mich nicht von meinem Weg abkommen.

(Nohkresisches Gebet)

Kapitel 11

Im Jahr 399 nach der Landung, am Neumondstag des 3. Monds in Anns Jahrviertel

Wir erreichten Ylkyr, die Hauptstadt von Ylkan, am Vortag des Drachenfestes, also gerade noch rechtzeitig. Yendas Schwestern hatten alles getan, um die Reise so sehr zu beschleunigen wie nur möglich, und mit der nohkresischen Postkutsche, die auch nachts fährt, hatten wir bei diesem Wettlauf mit dem Mond mehr als zwei Tagereisen gespart. Trotzdem sorgten sie sich in einem fort, dass uns nicht mehr genug Zeit für die Vorbereitungen für das Fest bliebe, und waren selbst nach unserer Ankunft am frühen Mittag noch nicht davon abzubringen. Ich war herzlich froh, dass ich diese ständige Ungeduld und Hetzerei nun nicht länger ertragen musste.
Anders als in Baleh befindet sich das ylkanische Königsschloss ein gutes Stück von der Hauptstadt entfernt, in den Bergen über und hinter der Stadt. Das Regierungsgebäude, in dem die Ratsversammlungen stattfinden, ist zwar in Ylkyr, aber das Drachenschloss gilt seit der Reichsgründung durch den ylkanischen Clan kurz nach der Besiedlung des heutigen Nohkran als der eigentliche Königssitz von Ylkan. Wie in Baleh zum Balfest versammelten sich auch hier alle Mitglieder der Königsfamilie jedes Jahr zum Drachenfest, sofern sie nicht sowieso schon im Schloss wohnten, und nahmen an den Festlichkeiten teil – wie dem großen Umzug durch die Stadt, den Wettkämpfen und Schaustellungen und dem anschließenden Ball.
Die Stadt war für das Fest gerüstet, über allen Strassen waren Girlanden und Lichterketten gespannt, die Häuser waren mit Blumen und Transparenten geschmückt und fast jeder Ylkaner, den wir sahen, trug ein traditionelles Festgewand und eine Schärpe mit dem doppelköpfigem Drachen darauf. Diese Schärpen waren zwar unterschiedlich gestaltet, teils mit Familienwappen und Auszeichnungen versehen, aber der Drachen war immer entweder einheitlich in einer Farbe oder mit den zwei Köpfen in unterschiedlichen Farben dargestellt.
„Die zweifarbigen Drachen werden von Zwillingen getragen“ erklärte Yenda mir. „In der Königsfamilie hat jedes Zwillingspaar seine eigenen Farben. Auf die Weise kannst du auch bei den ungleichen Paaren sehen, wer zusammengehört.“
„Was für Farben haben wir beide?“
Yenda grinste schief. „Keine Ahnung, die Farben werden jedes Jahr neu festgelegt. Es ist reine Glückssache, welche man bekommt und ob sie auch zu einem passen.“
„Wir haben diesmal Gelb und Grau“ sagte Rynkan düster. „Sieht absolut scheußlich aus. Ich hoffe, sie haben überhaupt noch Farben übrig für euch.“
Wir standen auf dem großen Platz vor der Postkutschenstation und warteten darauf, dass unser Gepäck vollständig abgeladen wurde. Zusammen mit Rynkans und Growyns Sachen war es zwar nicht besonders viel, aber weil die Schwestern die Kutsche kurzerhand komplett für uns allein in Beschlag genommen hatten, brauchte das Gepäck nicht wie sonst auf dem Dach verstaut werden, wo es keinen Platz wegnahm, und nun hatten die Kutscher Probleme, alles zu wieder zu finden und zusammenzupacken.
Obwohl Yenda nur neben mir stand und mich nicht berührte, konnte ich doch seine wachsende Nervosität deutlich spüren. Er sah sich beständig um und ließ seinen Blick immer wieder zu den fernen Berggipfeln schweifen, die die Stadt überragten, besonders zu der massiven Bergwand östlich von der Stadt, wo auf halber Höhe gerade noch die weißschimmernden Türme des Königsschlosses hinter den dunklen Burgmauern erkennbar waren. Dazwischen betrachtete er jedes Haus und Gebäude um den Platz so eingehend, als wollte er kontrollieren, ob sich während seiner Abwesenheit irgendetwas verändert hatte. Auch die Passanten auf dem Platz musterte er prüfend, aber sobald einer den Blick erwiderte und es aussah, als könnte Yenda erkannt werden, wandte er sich abrupt ab. Ich konnte es verstehen, seit er ohne Zwilling geboren wurde, galt Yenda allgemein als der Unglücksbringer der Königsfamilie. Viele Ylkaner standen ihm immer noch skeptisch gegenüber und nach Aridys’ geheimnisvollem Verschwinden hatte sich dies noch verstärkt. Aber vorläufig beachtete uns keiner der festlich gewandeten Bürger von Ylkyr sonderlich, abgesehen von einigen teils offen neugierigen, teils verstohlenen Blicken auf meine Haare. Sonst sahen wir alle vier unauffällig genug aus, Growyn und Rynkan hatten für die Dauer der Postkutschenfahrt ihre Gardistenuniformen gegen einfache Reisekleidung eingetauscht und ihre Wappenketten waren nicht zu sehen. Gleiche Zwillingspaare sind so häufig in Ylkan, dass sie kaum auffielen.
Für meinen Teil war ich erleichtert, dass die eintönige Reise in der engen Postkutsche endlich überstanden war. Die Zwillingsschwestern waren zwar unter den Umständen ganz angenehme Reisegefährten für Yenda und mich gewesen, die viel zu erzählen hatten und mich immer höflich und zuvorkommend behandelten. Aber sie waren nicht nur Tarlilel – mit mir ranggleiche Clanangehörige – sondern in erster Linie Myrtarlenel, die ranghöchsten Gardisten, von denen es in jedem Reich nur vier gibt (in Ylkan bis zu acht, weil Zwillinge sich den Posten teilen), und als Clanangehörige somit die Anführer der Königsgardisten. Wie die anderen Myrtanel hatten sie sich ohne Rücksicht auf ihre Clanzugehörigkeit von der untersten Stufe hochdienen müssen und gingen mit Leib und Seele in ihrem Dienst auf. Ich spürte immer wieder, dass sie mir grundsätzlich noch nicht ganz trauten. Auch behielten sie Yenda und mich immer im Auge, als ob wir ihnen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit entwischen könnten. Bei Yenda war dieser Verdacht angesichts ihrer Erfahrungen mit ihm natürlich gerechtfertigt, aber ich konnte das ständige leichte Misstrauen nur schwer ertragen und wünschte mir nichts mehr, als dass ich mit ihrem Bruder alleine hätte reisen können.
Yenda war auf der gesamten Reise sehr still und in sich gekehrt gewesen. Selbst ohne meine Clansgabe einzusetzen konnte ich ihm nachfühlen, wie sehr ihm der Tod seiner Schwester zu schaffen machte. Den ersten Tag der Reise hatte er noch mit dem Abfassen eines ausführlichen Berichtes verbracht, den er dann mit einem Eilboten vorausschickte, doch danach saß er die meiste Zeit schweigsam und in sich gekehrt in einer Ecke oder spielte stundenlang auf seiner Laute. Weil seine Schwestern ständig um uns waren, konnte ich ihm auch nicht helfen und musste ihn mit seinen Qualen alleine lassen. Alles was ich tun konnte, war seine Schwestern möglichst von ihm fern zu halten. Natürlich hatten sie immer wieder versucht, uns darüber auszuhorchen, was alles seit Yendas Flucht geschehen war und ließen nicht locker, so oft ich ihnen auch so viel wie anging von unserer Reise zum roten Berg erzählte. Über das, was im Berg passiert war, bewahrte ich natürlich Stillschweigen, denn solange Yendas Zwillingsväter, seine Mutter und auch der neue Hofmagier nicht eingeweiht waren, konnten und wollten wir beide nichts von den Umständen preisgeben, unter denen Aridys umgekommen war.
Auch ihre deutliche Neugier über den genauen Stand der Beziehung zwischen Yenda und mir blieb ungestillt, weil weder Yenda noch ich einen guten Grund sahen uns darüber auszulassen. Genau genommen waren wir uns beide noch gar nicht darüber im Klaren, wie es weitergehen sollte. Er war faktisch immer noch verheiratet und davon abgesehen sind Liebesbeziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Clans nicht gerne gesehen, weil sie keine Kinder miteinander haben können. Es ist eine einfache, biologische Eigenart, deren Ursprung so lange zurückliegt - vermutlich in der Zeit lange vor der Landung, als die Clans noch zusammengepfercht auf der Verbotenen Insel unter der Herrschaft der Weltgöttin leben mussten - dass es bis heute keinem Heiler, Magier oder Gelehrtem gelungen ist, herauszufinden, wie diese Unfruchtbarkeit zustande kommt. Es wird vermutet, dass sie mit den Clangaben zusammenhängt, aber niemand weiß, ob es sich um eine natürliche Begleiterscheinung bei der Vererbung der Gabe handelt oder ob sie irgendwann gewollt herbeigeführt wurde, um zu verhindern, dass sich die Clans untereinander verbanden, um Nachkommen zu zeugen, die einmal alle Gaben in sich vereinigen würden. Natürlich gab es in der Geschichte des Nohkrans mehrere, oft gewaltsame Versuche von einigen Clans ihre Gaben so zu kombinieren, vor allem während der Tausend-Monde-Kriege, die jedoch allesamt scheiterten. Danach wurden engere Beziehungen zwischen Clans beinahe tabuisiert. Weil in allen Königreichen großer Wert auf eine starke und zahlreiche Königsfamilie gelegt wird und bei den Königswahlen immer verheiratete Mitglieder mit Kindern bevorzugt werden, scheuen sich die meisten Clanangehörigen vor solchen Verbindungen, so dass Heiraten zwischen Königshäusern ausgesprochen selten sind. Yendas Ruf war in Ylkan schon gefährdet genug, als dass wir ohne Grund noch weitere Skandale provozieren wollten.
Die Schwestern hatten allerdings auch eine Menge zu erzählen. Obwohl er sich dabei sehr zurückhielt, schien Yenda dabei oft überrascht, ja schockiert zu sein, besonders von ihren Berichten über die heftigen Kämpfe von Gardistentruppen gegen eine mörderische Bande von Gesetzlosen im vergangenen Wyrviertel. Diese Bande hatte die Ylkaner in abgelegenen Bergdörfern schon seit Jahrzehnten terrorisiert, ohne dass es den Landgardisten jemals gelungen wäre, sie dingfest zu machen. Sie unternahmen ihre Raubzüge mit Vorliebe im Winter und Frühling und hatten es immer verstanden zu verschwinden, bevor sie aufgespürt und gestellt werden konnten, so als ob sie den Gardisten immer einen Schritt voraus gewesen wären. Es hieß sogar, dass sie geplant hatten, das Königshaus zu stürzen. Aber zu Beginn des letzten Balviertels war es Yendas Schwestern und ihren Gardistentruppen doch endlich gelungen, das Hauptquartier der Gruppe zu finden und einzunehmen. Ein großer Teil der Mörderbande wurde gefangen genommen und nach Ylkyr gebracht, wo sie sofort abgeurteilt und öffentlich hingerichtet worden waren, die ersten öffentlichen Hinrichtungen in Ylkan seit über sechzig Jahren. „Seid froh, dass ihr nicht dabei sein musstet ...“ war alles was Growyn dazu sagen wollte und ich konnte es ihr nachfühlen. Seit dem Friedenspakt von Nakuren im Jahr 200 nach der Landung sind Hinrichtungen im Nohkran selten geworden, viele Kerlenel brauchen während ihrer ganzen Regierungszeit niemals eine anzuordnen. Ich konnte mich nur an einen Fall in Baleh erinnern, als zwei Kindesmörder hingerichtet wurden, die über Jahrzehnte hinweg Kinder verschleppt, gequält und ermordet hatten. Davor hatte es auch sehr lange keine Todesurteile mehr gegeben. Meine Tante, die natürlich bei der Hinrichtung dabei sein musste, war auf Tage danach kaum ansprechbar gewesen.
Endlich war auch das letzte Gepäckstück gefunden und vom Kutschendach zu uns hinuntergereicht worden, und die Schwestern wurden allmählich genauso nervös wie Yenda.
„Sollte die Schlosskutsche nicht schon hier sein?“ grummelte Growyn. Ich konnte die beiden inzwischen ganz gut auseinander halten, nicht nur mithilfe von Growyns „Muttermal“, wenn ich beide nebeneinander sah. Yenda hatte mir erklärt, dass der Trick darin bestand, die Ähnlichkeit zu ignorieren und nur auf die Unterschiede zu achten. Das erforderte viel Übung, aber allmählich kam ich dahinter. Obwohl die beiden auf ersten Blick völlig gleich aussahen, hatte ich inzwischen erkannt, dass sie sich in ihrem Wesen sehr unterschieden. Rynkan war geduldiger und sanfter als ihre Schwester, im Vergleich zu ihr hatte sie fast etwas Mütterliches. Beide waren verheiratet, und Rynkan hatte vier Kinder - zwei Zwillingspaare natürlich, 14 und 9 Jahre alt, - und Growyn zwei (8 Jahre) und wollte man ihren ständigen Beteuerungen glauben, dann würde es auch bei dem einen Paar bleiben.
„Vielleicht sollten wir eine Kutsche nehmen und ihnen entgegenfahren?“ schlug Yenda vor.
„Und wenn wir sie verpassen?“ Rynkan sah skeptisch drein. „Wir können uns in die Station setzen und dort warten. Und etwas trinken ...“ fügte sie hoffnungsvoll hinzu. „Barys kennt unser Drachenfeuer noch nicht ...“ Growyn grinste und Yenda verzog das Gesicht.
„Sei vorsichtig“ warnte er mich. „Wenn du es nicht kennst, liegst du nach einem halben Glas unter dem Tisch.“
„Aber sie kommt doch aus einem Weinland“ protestierte Rynkan.
„Das ist nicht dasselbe“ sagte ich. „Außerdem trinke ich seit dem Traummagiestudium nur ganz wenig, es verträgt sich einfach nicht.“
„Aber probieren könntest du doch trotzdem ...“ Growyn unterbrach sich, weil wir jetzt alle das Hufgetrappel von mehreren Pferden hören konnten und dann, wie zur Bestätigung, ein Hornsignal.
„Na endlich“ sagte Rynkan erleichtert. „Da kommen sie! Oh, gut, sie haben eine Eskorte, dann geht es schneller mit dem Aufladen. Ich glaube, die sind aus deiner Truppe, Ylma...“ fügte sie hinzu, während sie die berittenen Gardisten kritisch musterte.
Die Eskorte bestand aus acht Reitern, alles bis an die Zähne bewaffnete Gardisten in voller Montur mit Waffenröcken und kurzen blauen Umhängen, auf denen der doppelköpfige Drachen silberweiß prangte. Yenda nickte einigen von ihnen zu und winkte dem Kutscher, der grinsend salutierte. Die Kutsche hielt so vor uns an, dass den Ylkyrern auf dem Platz die Sicht verdeckt wurde, und während der Kutscher und sein Beifahrer unverzüglich mit dem Aufladen des Gepäcks begannen, formierte sich die Eskorte rasch mit seitlich gesenkten Speeren in einem weitem Halbkreis um die Kutsche herum. Yenda kam nicht mehr dazu, mit dem Kutscher ein Wort zu wechseln, denn kaum war die Kutsche zum stehen gekommen, flog die uns zugewandte Tür schon auf und zwei kleine hellhaarige Gestalten schossen heraus, geradewegs auf ihn zu, während sie aus vollem Hals durchdringend „Paaaaappaa“ schrieen. Yenda schien kaum begreifen zu können, wie ihm geschah, während seine Schwestern sich schier ausschütten wollten vor Lachen. Er nahm seine Söhne hoch, auf jeden Arm einen, ächzte dabei gut hörbar „Oh Drachen, was seid ihr schwer geworden“ und schwenkte die strampelnden und krähenden Kleinen im Kreis herum. Die beiden klammerten sich um seinen Hals und redeten gleichzeitig und durcheinander auf ihn ein.
„Papa, Papa, bleibst du jetzt immer hier, Papa ... Papa, kommst du mit zum Ssloss ... kommst du auf das Fest ... Papa, dürfen wir ssugucken ...“
Ich sah aus dem Augenwinkel, dass noch jemand aus der Kutsche stieg und bemerkte so als erste, dass Keralil Isan mitgekommen war. Sie blieb bei der Kutsche stehen und sah lächelnd zu, wie Yenda vergeblich versuchte, seine Söhne zu bändigen. Als ich mich ihr zuwandte, lächelte sie mich nur an und legte einen Finger auf die Lippen. Sie sah noch fast genauso aus, wie ich sie vom letzten Friedensfest in Erinnerung hatte, so groß wie ich und eher zierlich gebaut, mit diesem leicht abwesendem und gedankenverloren wirkendem Ausdruck in den hellgrünblauen Augen, den kurzsichtige Menschen oft bekommen. Ihr langes glattes Haar, von derselben Farbe wie Yendas, war an den Schläfen inzwischen ergraut und hing ihr fast bis zu den Hüften herunter. Sie hatte noch keine Festkleidung angelegt, und war nur durch das königliche Stirnband mit dem goldenen Drachensymbol als Königsgemahlin zu erkennen.
Yenda bemerkte sie, als er einen seiner Söhne mit ausgestreckten Armen über seinen Kopf hielt. Er setzte ihn schnell ab, kam mit langen Schritten zu ihr und nahm sie wortlos fest in die Arme. Isan lachte und japste nach Luft, als er sie anhob und herumschwenkte, kaum weniger stürmisch als eben seine Söhne, und dann nahm sie seinen Kopf in beide Hände und bettete ihn an ihre Brust. So blieben sie eine Weile stehen, bis es seinen Söhnen zu lang wurde und sie sich wieder an ihn klammerten und versuchten an ihm hochzuklettern. Yenda ließ seine Mutter widerwillig los, ging in die Hocke und zog sie beide wieder an sich. Isan wandte sich mir zu, streckte mir beide Hände entgegen und ließ mich nicht die Begrüßungskniebeuge vollenden.
„Barys, ich freue mich so, dass du gekommen bist. Willkommen in Ylkan, ich hoffe es gefällt dir hier ...“ und ich spürte durch ihre Hände hindurch eine warme Welle von überschwänglicher Zuneigung auf mich überströmen. Später erkannte ich, dass dies Isans Natur war, sie begegnete jedem Menschen immer völlig offen und herzlich und hielt sich niemals mit ihren Gefühlen zurück. Bei dieser Begrüßung war ich noch nicht darauf vorbereitet und wurde fast von ihrer Herzlichkeit überwältigt. Ich sah wie Rynkan und Growyn grinsten und Yendas Söhne mich neugierig aus kugelrunden grüngrauen Augen anstarrten, mit den Fingern im Mund. Yenda stand wieder auf.
„Das ist Tarlil Barys“ erklärte er ihnen. „Sie kommt aus Baleh. Barys, das sind meine Jungs - hmm, ich glaube, ich kann euch gar nicht mehr auseinander halten…“ und er beugte sich zu ihnen herunter und musterte sie prüfend, während sie kreischend protestierten. „Schsch, nein wartet, nicht verraten, ich schaffe es schon, ich hab euch nur so lange nicht mehr gesehen und ihr seid so groß geworden… Also, du bist Ursyn, richtig? Wusste ich’s doch ... und du bist Talyn ...“ Ich konnte mir absolut nicht erklären, wie er das fertig gebracht hatte, die Kinder ähnelten sich wie ein Ei dem anderen und er hatte sie immerhin seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.
„Wir sollten aufbrechen“ mahnte Growyn. Unser Gepäck war fertig verstaut und vor der Barriere der Eskorte sammelten sich immer mehr Neugierige, so kletterten wir nacheinander in die Kutsche. Yenda setzte sich zu seiner Mutter und jeder nahm ein Kind auf den Schoß, während ich mich mit den Zwillingsschwestern ihnen gegenüber setzte. Die Eskorte formierte sich wieder um die Kutsche herum und die Pferde zogen an und wendeten die Kutsche in einem engen Bogen. Es gab einige schwache Hochrufe vom Platz und einige Leute rannten hinter der Kutsche her. Isan sah aus dem Fenster und winkte und dann bogen wir in eine Strasse ein und ließen den Platz hinter uns.
Ich bemerkte wie Yendas Zwillingssöhne mich unverwandt anstarrten und lächelte ihnen zu, worauf sie sich prompt enger an ihren Vater klammerten. Der auf Yendas Schoß - ich wusste nicht mehr welcher es war - rang sich schließlich eine Frage ab.
„Papa, was iss denn Ba… Badeh ..?“
„Es heißt Baleh, Ursyn. Das ist ein Land. Es liegt im Nohkran, aber es ist sehr weit weg.“
„Und es sieht ganz anders aus als hier“ fügte ich hinzu. „Da gibt es keine Berge.“
Ursyn blieb der Mund offen stehen. „Keine Berge??“
„Nein, nur da wo Baleh aufhört sind welche. Sonst ist es ganz flach und überall sind Weinfelder.“
„Weinfedder..?“
„Ich zeige euch nachher in einem Buch, wie Baleh aussieht“ versprach Yenda. Ursyn schien erstmal zufrieden zu sein, aber Talyn sah mich weiterhin durchdringend an.
„Wo issen dein Yl-lemm?“
„Mein was??“
Yenda grinste und fuhr ihm durch die Haare. „Das heißt Ylm, Talyn. Und sie hat keinen Zwilling“ erklärte er seinem Sohn. „In Baleh gibt es nicht so viele Zwillinge wie hier.“
„Aber ich habe andere Geschwister“ sagte ich, fast als müsste ich mich dafür verteidigen. „Zwei Brüder und eine Schwester, und sie haben alle Kinder - aber keine Zwillinge darunter, in meiner Familie gibt es wirklich keine.“
„Deine Haare sinn so komiss ...“
„Talyn!!!“ protestierten alle gleichzeitig. Isan hob ihn zurück auf ihren Schoß und drückte ihn leicht mahnend, und ich lachte und beugte mich etwas vor.
„Ja, das stimmt schon, aber in Baleh haben viele solche Haare. Hier, fühl mal, es sind richtige Haare, sie sehen nur anders aus als deine.“
Talyn traute sich nicht, aber Ursyn ließ sich dazu herab eine Locke anzufassen, ließ sie dann aber schnell wieder los und schmiegte sich verlegen grinsend an seinen Vater.
„Du siehst deiner Tante sehr ähnlich …“ sagte Isan.
„Nein, nicht wirklich“ protestierte ich. „Sie hat viel dunklere Haare und Augen als ich.“
„Trotzdem“ sagte Yenda. „Das gleiche hab ich auch gedacht, als ich sie zum ersten Mal sah.“
„Und sie ist ganz anders als ich - viel ... ich weiß nicht, energischer? Lebhafter?“
Isan lächelte wieder ihr verträumtes, leicht abwesendes Lächeln. „Nun, sie ist die Kerlil, und allein dabei, da muss sie wohl so sein, es kann nicht leicht sein für sie ...“
Talyn unterbrach uns, er war von Isans Schoß herunter gerutscht und starrte gebannt aus dem gegenüberliegenden Fenster. „Da! Ziegen!“
„Gämsen“ verbesserte Growyn. „Siehst du, sie tragen keine Glocken und die Hörner sind größer.“
Die Gardistin auf der Seite der Kutsche nahm ihr Pferd ein wenig zurück, um uns die Sicht freizugeben, und nun konnte ich die drei Tiere auch sehen, sie kletterten auf einem unmöglich steil erscheinendem Felsabhang herum, der durch eine Lücke in dem Wald zu beiden Seiten des Weges zu sehen war, und starrten uns unbeteiligt aus gelben Augen an. Während ich mit den Schwestern und den Kindern hingerissen die Gämsen bestaunte, benutzte Yenda die Gelegenheit, um mit seiner Mutter ein paar halblaute Worte zu wechseln. Ich fing den Namen Mendy auf und konnte mir den Rest denken, aber Isans Antwort war für mich unhörbar und als wir die Gämsen aus den Augen verloren hatten und zu unseren Plätzen zurückkehrten, ließ sich aus Yendas Gesicht, wie meistens, nichts ablesen.

Wir erreichten das Drachenschloss wenig später, nach einer knappen halben Stunde Fahrt. Ylkyr liegt in einem weiten Talkessel etwa zwei Tagereisen hinter der Grenze zu Anndra-Tel und das Schloss wurde hoch über dem Tal, etwa auf halber Höhe des Abhangs errichtet, so dicht am Berg, so dass es wie in ihn hinein gebaut erscheint. Der Berg ist so steil, dass das Schloss vom Tal aus nur über einen in mehreren Serpentinen verlaufenden Weg zu erreichen ist. Nach der letzten Wende wurde die Sicht auf das Schloss frei, das vorher von dem dichten Tannenwald verdeckt worden war. Auf ersten Blick kam es mir mit seinen mächtigen und wehrhaften Burgmauern mit den breiten Zinnen und den beiden riesigen Wachtürmen an den dem Berg abgewandten Seiten wie eine Festung vor. Das weiße Schloss mit den vielen zierlichen Türmen und der breiten Treppe an der Vorderseite wirkte fast unwirklich gegen die plumpen Mauern. Von dem höchsten Turm wehte die Fahne mit dem doppelköpfigen Drachen, der hier auf jedem Kopf ein silbernes Königsstirnband trug. Als wir näher kamen, sah ich, dass auch Schloss und Burgmauern bereits festlich geschmückt waren, selbst die mächtigen Torflügel waren mit Blumen und Girlanden verziert und von den Wachtürmen hingen Lampions.
Obwohl ich gesehen hatte, dass der Beifahrer des Kutschers ein riesiges Jagdhorn bei sich hatte, kam das Hornsignal von ihm so unerwartet, dass ich erschreckt zusammenfuhr. Yendas Schwestern kicherten und die Kinder lachten laut, während Isan sanft und abwesend lächelte. Yenda grinste schief und sah aus dem Fenster, und an der Art, wie er die Hände hielt, konnte ich sehen, wie nervös er war. Die Wachposten auf dem uns näherem Wachturm bliesen die Antwort und als wir die Mauern erreichten, öffnete sich das riesige Tor für uns. Die Gardisten formierten sich zu einer Linie im Burghof und die Kutsche kam vor der Eingangstreppe des Schlosses zum stehen, wo schon Schlossbedienstete auf uns warteten. Es gab keinerlei Begrüßungszeremoniell, die Bediensteten verbeugten sich nur tief vor Isan, die als erste ausstieg und Yenda half, seine Söhne aus der Kutsche zu heben, und dann wurden wir alle ohne großes Aufhebens die Treppe hinauf in das Schloss geleitet. In der Eingangshalle nahmen Yenda und Isan mich in ihre Mitte, nachdem Yenda seinen Söhnen fest versprochen hatte, nach ihnen zu sehen, sobald es ging. Eine Schlossverwalterin ging voraus und ließ uns in den Raum auf der rechten Seite der Halle eintreten, ein Beratungszimmer wie es mir schien. Ich hatte das Gefühl wie ein Käfer in einen Ameisenhaufen geraten zu sein, alle Schlossbewohner, die ich sah, schienen es eilig zu haben und das ganze Schloss hallte wieder vom Lärm der Vorbereitungen auf das Fest. In dem Beratungszimmer berieten mehrere Hofswürdenträger in festlichen Roben über wirr auf einer großen Tafel verstreuten Listen und Plänen. Yendas Zwillingsväter, die Kerlonel von Ylkan standen nebeneinander mit dem Rücken zu uns an einem Ende des Tisches und drehten sich nun gleichzeitig zu uns um. Obwohl ich mich allmählich an den Anblick von gleichen Zwillingen gewöhnt hatte und mich auch vom letzten Friedensfest her noch vage an die Kerlonel erinnerte, verblüffte mich ihr Anblick doch wieder aufs Neue. Vielleicht lag es auch daran, dass ich nun erst richtig sah, wie ähnlich Yenda ihnen war. Sie waren zwar größer als er, aber ähnlich hager und sehnig gebaut und abgesehen von ihren leuchtend blauen Augen und den etwas längeren Haaren sahen sie wie eine doppelte Ausgabe von ihm aus – wie er in etwa zwanzig Jahren.
Auch hier gab es kein besonderes Begrüßungszeremoniell. Isan und Yenda schoben mich leicht vor und die freundlich grinsenden Könige streckten mir beide eine Hand entgegen - jeweils die innere - und ich erinnerte mich noch vom Friedensfest her, dass ich sie beide gleichzeitig ergreifen musste. Wie Isan ließen sie mich kaum die Begrüßungskniebeuge vollenden und hielten meine Hände fest, während sie die traditionelle Begrüßung sprachen, beide zusammen in vollkommener Harmonie, mit völlig gleichen Stimmen.
„Willkommen in Ylkan, Tarlil Hyara-ne-Kargon-hel Barys, möge der Drachen über euch wachen und eure Wege hüten.“
Sogar ihre Stimmen klangen der von Yenda ähnlich, und beide grinsten mich auf die gleiche Weise an wie er. Aber während ich immer noch nicht wusste, welcher von beiden Dariv und welcher Rodan war, spürte ich über ihre Hände in meinen, wie unterschiedlich vom Wesen sie waren. Der König, der meine rechte Hand hielt, war eindeutig der dominante Zwilling, ruhig und besonnen zwar, aber sehr selbstsicher und entschieden in seinem Wesen, während von dem Zwilling an meiner linken Hand unter der Freundlichkeit und dem Wohlwollen ein Unterstrom von ständiger leidenschaftlicher Anspannung und Unruhe auf mich überfloss. Ein wenig erinnerte es mich an Yendas Gefühle, wie ich sie in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft von ihm gespürt hatte und ich war mir fast sicher, dass dies sein Vater war. Doch dann trat Isan neben den Zwilling, der meine rechte Hand hielt und legte ihm liebevoll eine Hand auf die Schulter. Die Könige verbeugten sich und ließen mich los, und als sie sich wieder aufrichteten, trat eine tiefe Stille ein. Beide verschränkten die Arme vor Brust und sahen Yenda, der nunmehr allein vor ihnen stand, abwartend an, mit einem fast identischen, recht grimmigen Ausdruck in den Gesichtern.
Für einen Moment war ich völlig verwirrt, und dann fiel mir plötzlich ein, dass Yenda sich ohne Erlaubnis vom Königshof entfernt und das Land verlassen hatte. Weder er noch seine Schwestern hatten irgendwie auch nur angedeutet, dass ihm dafür irgendwelche ernsthaften Konsequenzen drohten, umso überraschender war nun dieser abrupte Stimmungswechsel. Ich sah mit angehaltenem Atem ringsum in die unbewegten Gesichter und gelangte zu der Überzeugung, dass die Könige ihren verlorenen Sohn und Neffen umgehend wieder vor die Tür setzen würden. Yenda stand aufrecht da und entgegnete dem Blick ruhig und beinahe trotzig mit verschlossenem Gesicht. Die Stille dehnte sich und die Spannung war fast schon körperlich zu spüren, als Isan endlich entnervt seufzte und ihren Mann fest in die Seite knuffte. Dariv und Rodan sahen sich an und ihre Mundwinkel zuckten und dann lachten sie beide lauthals, gingen auf Yenda los und nahmen ihn beide gleichzeitig in die Arme.
„Unser Ausreißer ist wieder da! Was hast du dir nur gedacht? Noch einmal entwischst du uns aber nicht mehr!“
„Dass du dich überhaupt wieder hertraust! Wie ist es dir ergangen?“
„Was hast du uns für Sorgen gemacht ...“
„Hast du denn alles gut überstanden?“
„Ihr kommt wirklich in letzter Minute“ sagte Dariv schließlich. „Es ist immer dasselbe, wahrscheinlich schaffen wir es wieder nicht fertig zu werden – aber die Hauptsache ist, dass du wieder hier bist.“
„Ich bin auch froh wieder hier zu sein“ sagte Yenda etwas lahm. Ich spürte, dass er einen ganz anderen Empfang erwartet hatte und von der Herzlichkeit noch völlig verwirrt war. Rodan tätschelte ihm unbeholfen über den Kopf.
„Wir haben deinen Bericht bekommen, aber jetzt können wir nicht darüber reden, es ist einfach keine Zeit. Aber heute Abend machen wir das, nach Sonnenuntergang im blauen Zimmer. Wir haben eine Menge Neuigkeiten für euch, aber nun müssen wir hier weitermachen, damit wir irgendwie zu Ende kommen, bevor die blinde Nacht anfängt.“
Dariv wandte sich mir zu. „Ich bin froh, dass Yenda durch Euch teilnehmen kann“ sagte er. „Wir hatten noch nie einen Fall, dass ein Gast für einen, ähm, fehlenden Zwilling eingesprungen ist. Unsere Hofchronistin wird begeistert sein. Wir stehen in Eurer Schuld, Tarlil.“
„Bitte - nur Barys“ erwiderte ich, völlig verwirrt von seinem Lächeln, dass dem von Yenda so ähnlich war. „Und es ist mir eine Ehre teilnehmen zu dürfen. Ich war noch nie in Ylkan, und dann gleich am Fest teilnehmen zu dürfen anstatt nur zuzusehen ...“
Rodan blickte zum Tisch, wo die Hofswürdenträger geduldig warteten und sein Bruder besann sich wieder auf seine Pflichten.
„Wir brauchen dich auch hier, Ylmavig“ sagte er zu Isan, die uns hinaus begleiten wollte. Sie lächelte nur und schüttelte den Kopf.
„In ein paar Minuten, Liebes. Ich muss noch etwas erledigen.“ Und damit folgte sie uns in die Eingangshalle, wo Growyn und Rynkan auf uns warteten.
„Wir haben Barys’ Gepäck in Aridys’ altes Zimmer bringen lassen“ sagte Isan zu Yenda. „Deins ist in deinen Turm, aber du kannst natürlich auch mit den Jungs in deinem alten Zimmer schlafen.“ Yenda zuckte nur die Schultern.
„Das ist mir egal. Aber gab es kein anderes Zimmer für Yo- für Barys?“
Isan schüttelte den Kopf. „Wir haben zu viele Gäste. Und du weißt doch selbst, dass Aridys ihr Zimmer schon lange nicht mehr benutzt hat. Es sind keine Sachen mehr von ihr da drin, nur noch die Möbel.“
„Es macht mir nichts aus“ sagte ich schnell. Ein eigenes Zimmer, ganz gleich wem es gehört hatte, war immer noch besser, als weiter mit Yendas Schwestern zusammen zu logieren. Nach der viertägigen Reise in ihrer Gesellschaft verspürte ich ein dringendes Bedürfnis danach allein zu sein.
Rynkan und Growyn gingen uns voraus die Freitreppe in den ersten Stock hoch und dann zum linken Flügel. Die Wände entlang der Stufen waren mit breiten Wandteppichen bedeckt, auf denen die Landung der ersten Schiffe, die Gründung des Nohkran und Szenen aus dem Tausend-Monde-Krieg dargestellt waren. Am Geländer im ersten Stock war ein riesiger aus Holz geschnitzter Drachen befestigt, dessen Köpfe nach außen den jeweiligen Treppen zugewandt waren.
„Außer ihrem Festgewand ist wirklich kaum noch etwas von Aridys hier“ sagte Isan bekümmert. „Das müssen wir jetzt für dich abändern, hoffentlich schaffen wir es noch.“
„Wieso abändern?“ fragte ich verwirrt. Yenda grinste.
„Die Festgewänder für jedes Mitglied der Familie werden nur einmal angefertigt und dann jedes Jahr nur geändert, soweit nötig. Wenn du Aridys’ Stelle einnimmst, musst du auch ihr Gewand übernehmen, schon weil es das Gegenstück zu meinem ist.“
„Aber sie war doch viel größer als ich - und viel dünner!“
„Das geht schon, du wirst es sehen“ beruhigte mich Isan. „Die Gewänder bestehen aus mehreren Teilen, die immer wieder neu aneinander angepasst werden. Unsere wurden schon vor Tagen angepasst, aber bei dir und Yenda müssen wir es eben jetzt noch schnell machen.“
„Wo ist meins?“ fragte Yenda. Seine Schwestern waren vor einer Tür auf der linken Seite stehen geblieben und Rynkan schloss sie auf und ließ mir und Isan den Vortritt.
„Auch hier drin, Liebes. Du kannst es gleich mitnehmen, aber wahrscheinlich muss bei dir auch ein wenig geändert werden - du bist so dünn geworden ...“ und sie strich ihm zärtlich-besorgt über die Haare. Yenda legte einen Arm um sie und schnitt seinen grinsenden Schwestern eine genervte Grimasse über ihre Schultern hinweg. Sein angeblicher Gewichtsverlust war ein ständiges Gesprächsthema der letzten Tage gewesen, obwohl ich, die ich Yenda von Anfang an nur so mager und sehnig kennen gelernt hatte, ihn mir gar nicht anders vorstellen konnte.
Aridys’ Zimmer war großzügig angelegt. Gegenüber der Tür befanden sich zwei Fenster, von denen man bis ins Tal hineinsehen konnte und in der Mitte des Raumes stand ein großes Doppelbett mit hohem Rahmen und Vorhängen. Es gab einen riesigen Kleiderschrank und zwei Wäschetruhen, einen Ankleidetisch mit Spiegel, und vor einem der Fenster stand ein großer Schreibtisch. Ich sah auch ein Bücherregal, in dem aber nur noch sehr wenige Bücher und Schriftrollen lagen. Hinter dem Bett befand sich eine Tür, die zum Waschraum und Yendas altem Zimmer dahinter führte.
Die Vorhänge des Bettes waren zurückgezogen und die beiden Festgewänder lagen nebeneinander über dem Bett ausgebreitet, mit den Schärpen quer darüber. Yenda grinste, als er die Farben sah, dunkelgrün und goldgelb, die Farben des balehsischen Clans. Isan lächelte.
„Ich habe die Farben für euch reserviert, nachdem ich den Brief von deiner Tante bekam. Und hier ist noch etwas, das sie mitgeschickt hat.“ Sie nahm eine kleine Schatulle vom Nachttisch und hielt sie mir und Yenda hin. In der Schatulle lagen unsere Wappenketten und Siegelringe, die wir in Baleh gelassen hatten. Yenda nahm seine Kette heraus und starrte seine Mutter ungläubig an.
„Wie konnte sie wissen, dass wir hierher kommen würden?“
„Wir haben uns seit dem Friedensfest einige Male geschrieben und ich habe ihr von dem Drachenfest erzählt, da hat sie wohl geahnt, dass ihr zumindest versuchen würdet, rechtzeitig hier zu sein. Der Rest war wohl Glück.“
„Mich wundert es überhaupt nicht“ sagte ich und legte meine Kette wieder um. „Das ist ganz typisch für meine Tante, sie weiß fast immer, was geschehen wird und dann trifft es auch immer ein.“
Growyn hatte einen Kleiderständer hinter dem Bett hervorgeholt und drapierte eines der Festgewänder darauf. Ich sah jetzt, was Isan gemeint hatte, das Gewand bestand tatsächlich aus mehreren Teilen, die durch viele Riemen, Schnüre, Knöpfe und Haken mit einander verbunden werden konnten. Die einzelnen Teile waren kunstvoll aus geflochtenen und verknüpften Lederriemen gefertigt und mit schmalen, golddurchwirkten Stoffstreifen verziert. Auf dem Brustteil prangte das Wappen von Ylkan mit dem dunkelblauen Drachen auf silbernem Hintergrund. Es gab noch ein separates Kopfteil mit einem gewaltigen Federbusch, einen langen Umhang und Fußteile, die aussahen, als ob sie über die Stiefel gezogen würden. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich in dieser Konstruktion aussehen würde.
Isan wandte sich zur Tür. „Ich lasse euch etwas zu essen rauf bringen“ sagte sie zu Yenda und mir. „Und Myrlan wird euch dann beim Ändern helfen, sobald sie in der Halle fertig ist. Ich muss jetzt zu deinen Vätern. Wir sehen uns heute Abend dann im blauen Zimmer.“
Als sie das Zimmer verließ, sahen die Zwillingsschwestern einander unschlüssig an. „Wir sollten auch bei uns nach dem Rechten sehen…“ meinte Rynkan zögernd und Growyn nickte.
„Sind denn Maryn und Gyrda hier?“ fragte Yenda.
„Natürlich, wo sollen sie sonst sein? Kommt ihr denn für eine Weile alleine zurecht?“
Yenda und ich grinsten uns nur an und schließlich ließen uns die beiden tatsächlich allein. Yenda atmete hörbar auf, dann legte er seine Arme um mich und drückte sich fest an mich.
„Mmhm, ma chryng, meine arme Yonann… das muss alles ziemlich viel auf einmal für dich sein. Möchtest du dich etwas ausruhen?“
„Nein, es geht noch. Du vergisst, dass ich auch eine große Familie habe, ich bin an so etwas gewöhnt. Jetzt würde ich lieber etwas essen ...“
Yenda grinste. „Ann und Bal, ja, es muss schon lange nach Mittag sein. Wenn schon alle finden, dass ich zu dünn geworden bin, sollten sie auch mehr dagegen tun.“
„Warst du wirklich vorher dicker?“
„Nein, nicht wirklich, es kommt ihnen nur so vor, weil sie mich über ein Jahr nicht gesehen haben. Du hast im Vergleich viel mehr abgenommen im roten Berg, noch mehr als ich dachte. Doch, doch, glaub mir ruhig.“
„Dadurch werde ich aber auch nicht besser da reinpassen“ sagte ich und nickte mit dem Kopf zu dem Festgewand hin. Yenda grinste und streichelte mir über die Haare. Ich drückte mich an ihn und schloss die Augen, es tat so gut ihn wieder so nah bei mir zu spüren.
„Yenda, was meinte dein Onkel mit der blinden Nacht?“
„Das ist die Nacht vor dem Drachenfest. Sie ist „blind“ weil Yl sich in der Nacht vor Beginn seines Jahrviertels noch einmal ausruht und die Augen für eine Nacht geschlossen hält. Dann vermischen sich Traum und Wirklichkeit und darum sollen die Menschen, die Yl geweiht sind, wach bleiben, außer den Clanangehörigen, die dürfen – und sollen sogar – genauso schlafen wie Yl. Inzwischen ist es - wie soll ich erklären – zu einer Art freien Nacht für alle geworden. Bei Anbruch der Nacht darf jeder tun was er will, bis zum Morgengrauen, alles ist erlaubt. Es kann ziemlich wild zugehen dabei, weil es keine Regeln geben darf.“
„So wie bei unserem Balfest? In der Nacht nach der Wahl des Weinkönigspaars geht es ähnlich zu, es ist ein Maskenfest und jeder darf tun, was er will.“
„Auch die Mitglieder des Clans?“
„Natürlich. Dafür sind die Masken da.“
„Das geht hier nicht“ sagte Yenda bedauernd. „Der Clan muss in dieser Nacht wirklich ganz untätig bleiben. Selbst das Königspaar hat in dieser Nacht keine Autorität, sondern muss die Herrschaft für diese eine Nacht an ein Gegenkönigspaar übergeben – ein Zwillingspaar aus dem Volk, das jedes Jahr neu gewählt wird. Es ist eben die Tradition, dass in der blinden Nacht, wenn Yl schläft, das Königspaar und die Familie - die ja Yls erwählte Nachkommen sind - auch untätig sein müssen. Und das gilt für fast alle Tätigkeiten, und natürlich ganz besonders - „und hier grinste er schief „halt alles was irgendwie Spaß macht. Eigentlich ist wirklich nur schlafen erlaubt - alleine natürlich.“
„Oh je. Und wenn jemand trotzdem ..?“
Yenda verzog das Gesicht. „Das bringt Unglück. Ich weiß, dass es sich seltsam anhört, aber es ist nun mal die Tradition und in Ylkan wird da sehr streng drauf geachtet. Nur als Beispiel, viele Leute hier glauben, ich wäre in der blinden Nacht gezeugt worden und das sei der Grund, warum ich ohne Zwilling geboren wurde – weil Yl nicht über uns gewacht hat.“
„In der blinden Nacht? Kommt es denn zeitlich hin?“
„Leider ja, sonst hätte das Gerücht ja nicht entstehen können. Natürlich ist es viel wahrscheinlicher, dass es kurz vor oder nach dem Drachenfest passiert ist, aber wer will das schon hören? Die Ylgumin jedenfalls nicht.“
„Die Ylgu- was?“
„Die Drachentreuen.“ Yendas Gesicht verschloss sich wieder. „Eine Gemeinschaft von besonders gläubigen Yl-Anhängern, die sich berufen fühlen, über die Einhaltung der Gesetze und Traditionen zu wachen. Es müssen keine Priester oder Rechtsgelehrte sein, jeder darf ihnen angehören. Sie haben nicht viel Einfluss, vor allem nicht, seit meine Zwillingsväter gewählt wurden, aber sie machen sich trotzdem ständig bemerkbar. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte man mich gleich nach meiner Geburt wieder sterben lassen. Sie sind davon überzeugt, dass ich Unglück über Ylkan bringe und verlangen ständig, dass ich ihnen Rechenschaft über alles ablege, was ich tue. Vor meiner Flucht bekam ich immer wieder Briefe und Botschaften aus ihren Kreisen, besonders nachdem Aridys verschwunden war. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Briefe es jetzt geben wird, wenn bekannt wird, dass ich wieder hier bin.“
„Können sie denn wirklich etwas ausrichten damit?“
„Meine Zwillingsväter haben mich bis jetzt immer beschützt. Aber du verstehst doch, dass ich ihnen nicht noch zusätzlich Stoff für neue Predigten geben will -“
„Natürlich, bei mir ist es doch ähnlich. Nicht so schlimm, aber unangenehm genug.“
Yenda lächelte schwach. „Eigentlich wollte ich dir ja auch nur erklären, was es mit der blinden Nacht auf sich hat. Es hat ja auch sein Gutes, so sind wir alle am Tag des Drachenfests ausgeruht. An deiner Stelle würde ich genau das tun, mich nur ausruhen.“
„Hört sich vernünftig an“ gab ich zu. „Aber die Beratung mit deinen Eltern und deinem Onkel? Fällt das nicht unter die Bestimmungen?“
Yenda grinste schief. „Es ist ja kein Vergnügen… Und nach Sonnenuntergang sind alle im Schloss anderweitig beschäftigt, da wird es kaum auffallen.“
Wir blieben eine Weile dicht beieinander stehen und ich legte das Gesicht in seine Halsbeuge. Seit wir vom roten Berg wieder abgereist waren, hatten wir keine Gelegenheit mehr gefunden um allein zu sein und zu reden oder Zärtlichkeiten auszutauschen. Ich spürte, wie Yenda sich entspannte und seine Schilde, die er fast gewohnheitsmäßig aufrechterhielt, sich ein wenig senkten, aber irgendetwas schien ihn immer noch zu beschäftigen.
„Ich weiß ...“ kam ich ihm zuvor, als ich fühlte, wie er tief einatmete, um zum reden anzusetzen. „Da ist noch etwas, was du erledigen musst. Und du willst es hinter dich bringen.“
Ich spürte seinen Atem an meinem Hals, als er die Luft wieder ausstieß und ein trockenes Lachen unterdrückte.
„Ja. Es ist Mendy. Sie ist hier. Ich denke, ich sollte mit ihr reden, ob ich nun will oder nicht.“
„Natürlich. Sie wird es vermutlich auch nicht gerne wollen, aber es muss wohl sein.“
Yenda nahm meinen Kopf in seine Hände. „Nach dem Essen dann. Mit leerem Magen möchte ich mich nicht mit ihr anlegen. Und die Jungs haben dann ihren Mittagsschlaf.“
Er küsste mich und ich hielt ihn fest und erwiderte den Kuss und natürlich musste es gerade dann an der Tür klopfen, als es begann interessant zu werden. Yenda zuckte zusammen und ließ mich abrupt los, als ob er erwartete, dass eine Abteilung von Ylgumin ihn abführen wollte. Es war aber nur unser Mittagessen.

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