Kapitel 12
Kapitel 12
Jahr 399 nach der Landung, Neumondstag des 3. Monds in Anns Jahrviertel, Nachmittag und Abend
"Muss das wirklich so getragen werden??“
Growyn trat einen Schritt zurück und musterte mich prüfend von oben bis unten, während sie nachdenklich auf ihrer Unterlippe kaute.
„Doch, doch, es stimmt schon so. Ich glaube, es sieht bei dir nur etwas komisch aus wegen deinen Haaren. Vielleicht solltest du sie nicht offen tragen, sondern mehr zusammengebunden.“
„In einem Zopf?“
„Wenn das geht?“
„Warum nicht?“
Myrlan, die Schlossverwalterin, mischte sich lächelnd ein. Sie hatte lange in Nakuren gelebt und war auch sonst mehr im Nohkran herumgekommen als viele andere Ylkaner.
„Sie meint, dass sie etwas zu dick dafür sind, oder zu ungebärdig. Die Ylkaner haben alle sehr glatte Haare.“
„Darf ich mal probieren?“ Rynkan trat hinter mich und fummelte nervös an meinen Haaren herum und nach einer Weile gesellte sich Growyn dazu. Myrlan und ich zwinkerten uns zu, während sich die Schwestern abmühten. Gerade als sie es geschafft hatten, drei dicke Strähnen zu bilden, kam Yenda ins Zimmer. Er trug schon das weiße lange Hemd und die engen weißen Hosen, die unter dem Festgewand getragen wurden, und brachte sein Schwertgehänge mit dem Kurzschwert mit. Myrlan strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihn sah, und als sie sich begrüßten, drückte sie ihn fest an sich und strich ihm zärtlich über die Haare. Es war das erste Mal, dass jemand, der nicht zu Yendas Familie gehörte, sich genauso über seine Rückkehr zu freuen schien wie seine Eltern und Geschwister. Die meisten Schlossangestellten, denen wir bisher begegnet waren, hatten Yenda zwar höflich, aber sehr zurückhaltend begrüßt und ich hatte ab und zu auch gesehen, wie einige hinter seinem Rücken verstohlen die Finger spreizten, zur Abwehr von Unglück, vor allem bei den älteren.
Yenda legte einen Arm um Myrlan und sah seinen Schwestern amüsiert zu. Auf unserer Reise zum roten Berg hatte er täglich gesehen, wie ich meine Haare mit einigen wenigen Handgriffen bändigte und je mehr sich seine Schwestern plagten desto witziger schien er es zu finden.
„Gebt es auf“ sagte er schließlich. „Ihr werdet es nie hinkriegen.“
„Wir hatten es fast!“ protestierte Growyn.
„Darf ich mal?“ fragte ich höflich und entzog mich ihnen wieder. Dann schob ich meine Hände unter die Haare in meinem Nacken, teilte sie mit einigen Handgriffen in gleichmäßige Strähnen und drehte alles fest zusammen, viel schneller, als ich es beschreiben kann. Growyn und Rynkan staunten mit offenen Mündern, während Myrlan und Yenda sich kichernd anstießen und kaum beruhigen konnten. Ich nahm Rynkan ein Haarband aus den Händen und befestigte den Zopf damit am Ende.
„So sieht es besser aus“ meinte Myrlan endlich. „Wenn es euch nichts ausmacht, die Haare so zu tragen morgen, Tarlil?“
„Nein, natürlich nicht, es ist mir auch lieber so.“ Ich drehte mich vor dem großen Spiegel, den die Schwestern hinter dem Schrank hervor geholt hatten. Das ylkanische Festgewand sah immer noch sehr fremdartig an mir aus, ich kam mir vor wie verkleidet. Yenda fing an, sein Gewand überzuziehen, es ging natürlich wesentlich schneller als bei mir, weil nichts geändert und neu verknüpft werden musste. Myrlan holte meine Schärpen vom Bett und half mir dabei, sie quer über meiner Brust zu befestigen.
„Yenda, du musst deinen Gürtel enger machen“ sagte Rynkan kritisch. Sein Gewand war ähnlich gestaltet wie meins, nur gehörte zu meinem ein langer steif abstehender Rock, während seines aus einem kurzen Rock oder Kilt über den Beinteilen und kniehohen Stiefeln bestand. Der Kilt wurde in der Taille mit einem breiten, bunt bestickten Gürtel gegürtet, die massive Schnalle war - natürlich - mit dem Drachensymbol verziert. Myrlan kam mit einer Lochzange und stanzte ein weiteres Loch in den Gürtel und danach saß der Kilt besser. Yenda grinste schief und nahm sich seine Schärpe. Als wir nebeneinander vor dem Spiegel standen, sah das Festgewand plötzlich viel normaler an mir aus. Myrlan sah etwas wehmütig drein und ich fragte mich auf einmal, wie oft sie Aridys beim Anlegen des Gewandes geholfen hatte und ob sie die Adoptivprinzessin sehr vermisste. Noch hatte niemand Yendas Schwester in meiner Gegenwart ausdrücklich erwähnt, und doch schien sie noch überall gegenwärtig zu sein, wie ein Geist.
Yendas Augen begegneten meinem im Spiegel und er lächelte schwach und nahm meine Hand. Für einen Moment spürte ich einen Anflug von Trauer und Bitterkeit von ihm ausgehen, bevor seine Schilde ihn wieder vor mir abschlossen. Dann nahm er meine andere Hand und wechselte sie so, dass wir über Kreuz die Hände hielten und dann wirkte es auf einmal so, wie es sein sollte. Myrlan strahlte und Growyn und Rynkan waren begeistert.
„Wir üben die Tanzschritte am besten im großen Saal“ meinte Rynkan. „Hier ist zuwenig Platz und im Saal wird nicht mehr gearbeitet.“
„Tanzschritte?“ fragte ich entsetzt. „Ich kann überhaupt nicht tanzen!“
„Doch, das kannst du“ beruhigte mich Yenda. „Es sind nur ein paar einfache Figuren, wie bei einem Gruppentanz - und ich hab dich gesehen bei dieser Hochzeit - wo war das noch mal? Brundar?“
„Ja, aber die waren wirklich simpel, und ähnlich wie die in Baleh.“
„Die hier sind auch nicht schwerer. Du musst eigentlich nur neben mir hergehen. Wir üben das ein bisschen und dann geht das schon.“
Der Thronsaal war wirklich beeindruckend. Er befand sich im hinteren Teil des Schlosses und reichte über die ganze Rückseite des Gebäudes, von einem Flügel zum anderen und in der Höhe bis zum zweiten Stock. Die Außenwände waren von mehreren riesigen Fenstern durchbrochen, deren Scheiben teilweise mit Glasmalereigemälden verziert waren. In den Ecken führten schmale Treppen zu einer Galerie hinauf, die in Höhe des ersten Stockwerks um den ganzen Thronsaal herum lief. Von der Decke hingen mehrere riesige Kandelaber mit jeweils hunderten von Kerzen herunter. An einem Ende des Raumes stand der große Zwillingsthron, der aus einem mächtigen holzgeschnitzten doppelköpfigem Drachen bestand, der die zwei Sitze in seinen Vorderpranken hielt, und dessen vier goldrote Augen jeden der Anwesenden im Saal zu fixieren schienen, egal wo er stand.
Der Thronsaal war schon festlich geschmückt, aber es wurde immer noch an den letzten Vorbereitungen gearbeitet. An einem Kandelaber wurden die Kerzen erneuert und mehrere Schlossbedienstete brachten den Festschmuck an den Geländern der Galerie und der Treppen an. Vor dem Thron berieten zwei Tarlonel mit blaugoldenen Zwillingsschärpen über einem ausgerollten Plan. Von alleine hätte ich sie kaum als Yendas Brüder erkannt, denn anders als seine Schwestern sahen sie ihm überhaupt nicht ähnlich. Der eine war eher breitschultrig und untersetzt und hatte für ylkanische Verhältnisse schon dunkle Haare, nur etwas heller als meine, die über der Stirn bereits schütter wurden. Der andere war größer und schmaler und trug seine fast weißblonden Haare so kurz geschnitten, dass sie wie eine Bürste steif von seinem Kopf abstanden. Als wir in den Thronsaal kamen, wandten sie sich um, winkten uns zu und rollten den Plan auf, dann kamen sie breit grinsend zu uns, umarmten Yenda brüderlich und klopften ihm auf die Schultern. Ich konnte deutlich spüren, wie unbehaglich ihnen zumute war, und wie sie krampfhaft versuchten, es durch besonders forsches Gehabe zu überdecken. So als wäre Yenda nur kurz verreist gewesen.
„Yenschi! Unser Kleiner! Da bist du ja wieder! Wir hatten dich schon aufgegeben!“
„Wo hast du bloß gesteckt. Aber Unkraut vergeht nicht, das haben wir doch schon immer gesagt. Oder?“
„Wir waren nicht sicher, ob du beim Fest mitmachen wirst, aber wir dachten uns halt, es kann nicht schaden…
“.. und da haben wir dich trotzdem mit eingeplant. Du machst doch mit, oder?“
Yenda machte sich grinsend los und stellte mir seine Brüder vor. Ich wusste bereits, dass sie die beiden ältesten Kinder von Dariv und Isan waren, drei Jahre älter als Rynkan und Growyn und acht Jahre älter als Yenda. Helkryn war der mit den dunkleren Haaren und Erlda der mit dem hellen Bürstenschnitt. Sie hatten ein großes Landgut etwas außerhalb von Ylkyr und organisierten seit Jahren den Ablauf des Königsballs am Abend des Drachenfestes, keine geringe Aufgabe bei den insgesamt hundertdreiundzwanzig Clanmitgliedern (ohne Aridys), über dreihundert geladenen Gästen und um die zweihundert Schlossbediensteten. Während die Brüder mich begrüßten und Floskeln austauschten, sah sich Yenda den Plan, über dem die beiden eben noch diskutiert hatten.
„Sieh dir lieber nicht das Musikprogramm an“ warnte Helkryn noch, aber Yenda verzog schon das Gesicht und stöhnte.
„Wenigstens kann dich keiner dafür verantwortlich machen“ tröstete Rynkan ihn. „Letztes Jahr wussten sie sich schon nicht besser zu helfen. Wir haben einfach nicht genug Musiker hier.“
„Was ist mit Terbalyn? Ist sie nicht mehr hier?“
Growyn zuckte die Schultern. „Sie hat sich mit Kapellmeister Tarda gestritten und vor zwei Wochen ist sie abgereist. Ich habe gehört, sie hätte ein Angebot aus Nakuren bekommen.“
„Freut mich zu hören, aber für uns ist es eine Katastrophe.“ Yenda blickte angewidert auf das Programm und zuckte schließlich die Schultern. „Am besten stopfe ich mir morgen Wachs in die Ohren.“
„Den Gästen ist es sowieso egal, solange sie nur tanzen können.“ Erlda nahm seinem Bruder das Programm wieder ab. „Und wo wir dabei sind, Helk und ich wollen dieses Jahr wieder den Königsdrachen versuchen. Ihr macht doch mit, ihr beide, oder? Vielleicht gleicht das die Musik ein wenig aus?“
„Den Königsdrachen mit Barys, seid ihr verrückt? Das ist viel zu gefährlich, was ist, wenn ihr etwas passiert dabei?“
Helkryn starrte ihn verwundert an. „Was soll denn passieren? Wir proben doch vorher. Aridys hat das doch auch…“ Er brach ab, als Yenda ihn wütend anstarrte und es entstand eine kleine Pause. Erlda räusperte sich.
„Yenda, sie ist doch an ihrer Stelle hier… Die Leute erwarten doch...“
„Ihr seid völlig verrückt. Ich mache das nicht mit, schon gar nicht wegen der Leute!“
Ich spürte, dass Yenda durch die Belastung der letzten Wochen viel heftiger reagierte als nötig und mischte mich ein, bevor der Streit eskalieren konnte.
„Worum geht es denn überhaupt? Was ist der Königsdrachen?“
Die Zwillingsbrüder grinsten mich erleichtert und leicht betreten an. Erlda holte eine kleine Pergamentrolle und breitete sie aus.
„Hier ist es – der Königsdrache ist ein Formationstanz für eine Gruppe von mindestens sechzehn Leuten. Das sind die Tanzschritte - im Grunde ganz einfach, hier sind die Vorderbeine und da die Hinterbeine, die beiden Schwänze - und das muss immer eingehalten werden, die Beine bewegen sich versetzt und die Schwänze bewegen sich mal aufeinander zu, dann voneinander weg ..“
Ich sah mir den Plan an und wurde nicht schlau draus. „Was ist nun das Schlimme daran?“
Yenda schnaubte und zeigte auf den vorderen Teil des Drachens. „Da - die beiden Tänzer, die die Köpfe sind, müssen auf den Schultern der Vier hier stehen.“
„Ja, und? Oh - müssen wir das machen?“
„Irgendwann schon. Alle Positionen werden laufend gewechselt, solange der Drachen sich bewegt. Jeder kommt einmal dran - außer den vieren, die die Kopftänzer auf die Schultern nehmen, das ist zu gefährlich, wenn die auch ständig gewechselt werden.“
„Da ist wirklich nichts dabei“ versicherte Helkryn eilig. Als Yenda ihn vernichtend ansah, wurde er rot. „Aridys konnte das doch auch…“
„Aridys ist nicht hier, kapier das doch endlich!“
„Yenda!“ sagte Growyn scharf und packte ihn an den Schultern. „Wir wissen, dass sie nicht hier ist.“ Erlda und Helkryn sahen betreten zu Boden. Ich spürte eine Welle von Trauer von den Geschwistern ausgehen, grau und kalt wie Nebel, und versuchte schnell abzulenken.
„Wurde das da nicht auch auf dem letzten Friedensfest getanzt, bei der Eröffnung? Wenn es das ist, dann schaffe ich nie und nimmer, mir wurde ja schon beim Zuschauen schwindelig!“
Die Zwillinge sahen mich verblüfft an. „Beim Friedensfest, der Königsdrachen? Ach so, nein, dass war der große Drachentanz, das ist etwas ganz anderes. Im Prinzip ist es schon der gleiche Tanz, aber ganz anders aufgebaut und mit viel mehr Tänzern, über hundert. Die Teilnehmer an dem Tanz werden unter den besten Tänzern des Landes ausgewählt und sie müssen jahrelang dafür üben. Der Königsdrachen ist nur die einfache Version, die auch ungeübte tanzen können, eigentlich heißt er auch nur ‚der kleine Drachen’, aber wir nennen ihn hier den Königsdrachen, weil nur Familienmitglieder mitmachen.“
„Den großen Drachentanz wirst du morgen noch einmal zu sehen bekommen“ ergänzte Growyn. „Er wird auf dem Marktplatz in der Stadt aufgeführt, zum Abschluss der großen Parade. Da kannst du den Unterschied sehen, beim großen Drachentanz stehen allein im Mittelteil immer drei Leute übereinander und vorne an den Köpfen sogar vier. Hier bei der kleinen Version klettern immer nur zwei Leute von der zweiten Position aus auf die Schultern der vier in der vordersten Reihe.“
„ Und wir dachten, wir richten es so ein, dass ihr beide die letzten Kopftänzer seid, wenn der Drache vor dem Thron zum stehen kommt“ erklärte Helkryn eifrig. „Der Ehrengast als Drachenkopf - das wird bestimmt eine Sensation, oder?“ Er sah mich hoffnungsvoll an. „Könnten wir es nicht wenigstens mal probieren?“
Yenda sah immer noch skeptisch drein. „Haben wir denn genug Leute? Und sind alle genug in Übung? Und wir brauchen einen wirklich guten Trommler dazu, sonst kommen wir völlig aus dem Takt dabei.“
„Ist schon alles geplant. Mit euch beiden wären es sechzehn Leute, genau so viele wie nötig.“
Als alle mich ansahen, zuckte ich mit den Schultern. „Wir können es gerne probieren, ich möchte nicht, dass es wegen mir scheitert. Aber ich kann nicht versprechen, dass es klappt.“
Die Brüder strahlten und Rynkan umarmte mich. Yenda lächelte und sagte nichts, aber ich spürte, dass sich seine Laune wieder besserte.
„Dann mal los! Holt schon mal die anderen Tänzer zusammen und die Trommler und wir üben derweil die anderen Tänze mit Barys. Wir haben nicht mehr so viel Zeit, in zwei Stunden geht die Sonne unter.“ Die Zeit reichte tatsächlich noch gerade für ein halbes Dutzend Durchläufe des Königsdrachens aus. Anders als erwartet fand ich das Balancieren auf den Schultern der beiden Kopfträger auf meiner Seite nicht so schwierig - was mir wirklich Mühe bereitete, war von hinten aufzusteigen, ohne mich am Festgewand der Träger zu verfangen und, wenn das gelungen war, Schärpe und Rock so zu raffen, dass nichts hängen blieb, wenn die Kopfträger mich herunterhoben. Und das alles auch noch, ohne aus dem Rhythmus der Trommeln zu kommen. Die Kopfträger, die immer an ihrem Platz blieben, trugen spezielle Schulterpolster, die den Füßen Halt gaben und hatten für die Dauer des Tanzes sämtlichen Kopfschmuck abgelegt, aber die anderen Tänzer durften von ihren Kostümen nichts abnehmen. Ich blieb mit dem Rocksaum einmal beinahe an Helkryns Kopf hängen und meine Schärpe verfing sich zweimal an seinem Gürtel, dann hatte ich den Trick endlich heraus. Yenda passte seinen Auf- und Abstieg an meinen an und achtete darauf, dass wir im Rhythmus blieben. Zwischen den Durchgängen ging er immer wieder zu der Musikerempore an der Längsseite des Saales hinüber, um mit den Trommlern zu sprechen. Während der erste Trommler an der großen Basstrommel Yenda höflich und respektvoll anhörte, sah ich wie einige andere Musiker wieder verstohlen die Finger spreizten. Yenda ignorierte es völlig, vielleicht merkte er es auch schon gar nicht mehr.
Vor dem sechsten Durchgang war ich unter dem Kostüm klatschnass geschwitzt und ziemlich außer Atem, während den anderen Teilnehmern – alles Clanangehörige natürlich - kaum etwas anzumerken war, aber die allgemeine Begeisterung riss mich mit. Als ich gegen Ende des sechsten Durchgangs ohne Probleme hinaufgekommen war und Yendas Hand ergriff, grinste ich ihn triumphierend an, aber er blickte gerade zu einer Gruppe Zuschauer hinüber, die sich im Thronsaal eingefunden hatte und seine Finger schlossen sich fester um meine Hand. Und dann sah ich Mendy. Ich weiß nicht, woran ich sie sofort erkannte, vermutlich an Yendas Reaktion und weil sie fast genauso aussah, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war etwas kleiner als Yenda und obwohl sie schlank und zierlich gebaut war, wirkte sie doch leicht rundlich, als ob ihre Formen keine Ecken und Kanten zuließen. Ihre Haare waren typisch ylkanisch, honigfarben und sehr glatt reichten sie ihr lose mit einer silbernen Spange zusammengefasst bis unter die Schulterblätter. Obwohl sie mitten in der kleinen Zuschauergruppe stand, schien sie nicht dazu zugehören, ich konnte auch niemanden entdecken, der die gleichen Farben auf seiner Schärpe hatte. Sie achtete nicht auf Yenda oder die anderen Tänzer, sondern starrte nur mich unverwandt an und als die Trommel aussetzte, beteiligte sie sich am allgemeinen Applaus und lächelte mir schüchtern zu. Ich wand meine Hand aus Yendas Griff und konzentrierte mich auf den Abstieg und als ich endlich wieder auf dem Boden stand, kam sie zu mir und sprach mich an.
„Willkommen in Ylkan, Tarlil. Ich bin so froh, dass ihr gekommen seid und an dem Fest teilnehmt. Ich bin Laryan-hel Mendwyn.“
Selbst ohne meine Clangabe hätte ich ihre Nervosität gespürt. Ich war selbst ein wenig verwirrt, von ihrer Herzlichkeit und weil mir bis dahin nicht klar gewesen war, dass Mendy nur eine Abkürzung war.
„Ich freue mich auch euch kennenzulernen. Yenda und die anderen haben mir viel von euch erzählt - nur nicht, dass Mendy nicht euer voller Name ist.“
Yenda, der neben mir stand, verzog keine Miene, und Mendy lächelte verlegen.
„Alle nennen mich Mendy. Ich habe auch schon viel von euch gehört und ich finde es wunderbar, dass ihr bei dem Drachentanz mitmacht.“
„Wollt ihr euch nicht auch dran beteiligen?“ Ich konnte ihre Gefühle immer noch nicht klar erkennen, es war zuviel miteinander vermischt, ich spürte Nervosität mir und Yenda gegenüber, Unruhe, aber auch Erleichterung und eine Art Ungeduld oder Sehnsucht.
„Oh nein, das geht nicht, das ist nur für Clanzwillinge. Außerdem hat mein Bruder ein Rückenleiden, er weiß noch nicht einmal, wie lange er morgen Abend bei dem Ball dabei sein kann.“ Ich konnte deutlich spüren, dass sie darüber nicht ganz so unglücklich war wie sie vorgab. „Sonst würde ich gerne mitmachen, früher habe ich den Drachen sehr oft getanzt. Zumindest zuhause, bei meinen Eltern ...“ fügte sie hinzu, als Yenda den Kopf leicht schief legte. Während ich noch nach einer Antwort suchte, kam Growyn zu uns herüber und begrüßte ihre Schwägerin mit einem knappen Kopfnicken.
„Wie ist es, Yenda, noch ein Durchgang oder reicht es?“
Yenda zuckte die Schultern. „Von mir aus gerne, wenn Barys noch kann?“
„Ich glaube, einen schaffe ich noch“ meinte ich resigniert. Mendy lächelte mitfühlend und wandte sich zum ersten Mal, seit sie mich angesprochen hatte, direkt an Yenda.
„Die Jungs fragen nach dir, sie behaupten, du hättest versprochen, ihnen etwas vorzuspielen, bevor die blinde Nacht anfängt und sie schlafen müssen.“
„Yl und Wyr, ja, ist es schon so spät? Und ich hab meine Laute im Turm gelassen...“
„Wir haben im Schlafraum noch eine Laute gefunden, die muss auch von dir sein.“ Mendy sah mich wieder an. „Könntet Ihr auch mitkommen? Sie sind ganz neugierig darauf, etwas von Baleh zu erfahren.“
Ich merkte jetzt erst, dass es draußen schon dämmerte und im Thronsaal die Fackeln und einige der Kronleuchter angezündet worden waren. Nur ein paar, in der blinden Nacht blieb der Thronsaal unbenutzt und es machte keinen Sinn, die Kerzen schon vorzeitig abzubrennen.
„Dann komme ich gerne mit. Ich hoffe nur, dass sie keine balehsischen Lieder von mir erwarten...“
Yenda grinste. „Kein Problem, ein paar kenne ich auch noch. Du kannst mir mit der Aussprache helfen… Gut, ein Durchgang noch, und dann kommen wir.“
Es war eine gute Stunde später, und die Nacht war endgültig angebrochen, als Yenda und ich zum blauen Zimmer gingen. Talyn und Ursyn waren wirklich nicht leicht zufrieden zustellen gewesen. Erst nachdem wir ihnen einige balehsische Lieder vorgesungen - Yenda als Barde kannte natürlich die Nationalhymne und dann tatsächlich noch einige bekannte Weinleselieder und Balladen - und alle Bilder im balehsischem Kapitel des großen Buches „Alle Länder im Nohkran“ gezeigt und erklärt hatten, waren sie endlich eingeschlafen. Mendy hatte sich schon vorher zurückgezogen und das Schloss wirkte wie ausgestorben, als wir durch die halbdunklen Gänge gingen. Ich konnte aus dem Burghof und dem Platz vor dem großen Tor schwach den Lärm von den Feiern hören, die bei Sonnenuntergang begonnen hatten, aber im Schloss selbst war es totenstill. Yenda nahm meine Hand und zog sie an seine Wange.
„Bist du müde?“ fragte er besorgt. Ich schüttelte den Kopf.
„Es geht. Meinst du, die Besprechung dauert länger?“
„Wohl kaum, meine Eltern werden auch müde sein und morgen wird ein langer Tag.“
Wir gingen Hand in Hand den Gang hinunter zu der großen Treppe. Im flackernden Licht der gläsernen Öllampen an den Wänden wirkte der große doppelköpfige Drache über der Treppe fast wie lebendig. Ich fühlte förmlich den Blick der vier goldenen Augen auf mir ruhen, während wir die Stufen hinuntergingen. Yenda folgte meinem Blick und runzelte die Stirn.
„Normalerweise werden die Drachenfiguren in der blinden Nacht verhüllt“ sagte er. „Jemand muss es vergessen haben.“
Das blaue Zimmer befand sich im Erdgeschoß im hinteren Teil des linken Flügels, gleich neben der Bibliothek. Als wir eintraten, saßen die beiden Könige an einem Arbeitstisch in der Mitte des Raumes, einer am Kopfende und einer an einer Längsseite, mit Isan zwischen ihnen. Am anderen Kopfende saß eine schlanke, elegante Frau mittleren Alters in der dunkelgrünen Robe der nohkresischen Traummagier. Ihre schwarzen eng anliegenden Haare und dunklen Augen sowie ihre nussfarbene Hauttönung ließen mich vermuten, dass sie aus einem der Länder im Nordwesten des Nohkran stammte - vielleicht Nyl oder Salbal. Als ich an den Tisch trat, spürte ich ihre Ausstrahlung wie ein leichtes Prickeln auf meiner Haut, sie musste über sehr starke Traummagiekräfte verfügen.
Isan strahlte über das ganze Gesicht, als sie Yenda und mich nebeneinander in den Festgewändern sah. Wir waren nicht mehr dazu gekommen, uns umzuziehen.
„Ihr seht so wunderbar aus zusammen...“ sagte sie leise und die Könige grinsten und bedeuteten uns Platz zu nehmen.
„Ich hoffe wir sind nicht zu spät...“ fing Yenda an, aber Dariv - der am Kopfende saß - winkte nur ab.
„Mach dir keine Gedanken, das hier wird nicht lange dauern. Du brauchst uns nichts mehr zu berichten, aus deinem Brief wissen wir schon alles, was passiert ist. Aber wir haben euch einiges zu sagen. Gleich nach dem Drachenfest müssen wir über die nächsten Schritte beraten.“ Dariv sah zu der Hofmagierin hinüber. „Yenda, Barys, das ist Mayg Neliann von der Traummagieuniversität in Nakuren. Sie wurde zu uns geschickt, als Mayg Berlkor von seinem Amt zurück trat. Sie hat uns geholfen herauszufinden, warum Aridys entführt wurde.“
Yenda sah die Magierin verblüfft an und deutete eine Verbeugung an und sie lächelte uns beiden zu und hob zum Gruß beide Hände mit den Handflächen nach außen gekehrt. Yenda setzte sich seiner Mutter gegenüber an den Tisch. Ich nahm zwischen ihm und der Magierin Platz und versuchte ihre Ausstrahlung zu ignorieren. Sie sah uns prüfend an und ich merkte, wie sie mich und auch Yenda mental leicht und routinemäßig abtastete und sich höflich wieder zurückzog, als sie auf unsere Schilde stieß.
„Und .. warum nun? Was habt ihr herausgefunden?“ fragte Yenda zögernd. Rodan räusperte sich.
„Growyn und Rynkan haben es euch sicher schon erzählt? Dass wir diese Mörderbande endlich gefangen haben…?“
„Und von den Hinrichtungen, ja. Das hat damit zu tun?“
„Ja. Wir konnten nicht die ganze Bande gefangen setzen, einige von ihnen konnten fliehen. Wir glauben, dass es die Anführer und ihre Leibwächter waren. Zwei Anführer, ein Mann und eine Frau, vielleicht ein Paar, oder Geschwister oder sogar Zwillinge. Wir nehmen an, dass es Magier sind. Keine Traummagier natürlich, Mayg Nellian hat uns versichert, dass an der Universität nichts von so einem Paar bekannt ist, aber vielleicht verfügen sie über Kenntnisse der Magie der Kyakadrin.“
„Kyakadrin?“ fragte ich verwirrt. „Das verschwundene Volk, das vor der Besiedlung durch die Clans hier lebte? Ich dachte, sie wären alle an dieser Seuche gestorben, lange vor der Landung!“
„Doch, es gibt immer noch einige wenige Nachkommen. Sie leben als Nomaden hoch in den Bergen nahe der Schneegrenze, am westlichen Rand des Nohkran“ erklärte Dariv. „Natürlich gehören sie nicht zum Nohkran und auch zu keinem anderen Reich. Sie sind kein richtiges Volk, nur noch einzelne verstreut lebende Gruppen und Stämme, und sie scheinen keinen gemeinsamen König oder Anführer zu haben. Es ist ein sehr kleines Volk, und sie kommen nie von den Bergen herunter. Darum gibt es auch keinen Kontakt zwischen ihnen und den Reichen des Nohkran, sie halten sich von uns fern. Ein paar von ihnen behaupten, wir hätten ihnen den Lebensraum geraubt und sie in die Berge getrieben, aber das ist nicht wahr. Ihre Vorfahren lebten schon lange vor der Landung der Clans nur in den Bergen nahe der Schneegrenze und es sind nur einige wenige Rebellen, die sich überhaupt ein Leben in den Tälern wünschen.“
„Solche Rebellen hat es immer schon bei ihnen gegeben“ fuhr Rodan fort. „Alle Länder an und in den Bergen haben mit ihnen zu tun. Meist sind es nur unzufriedene junge Leute, die Anspruch auf das Land ihrer Ahnen erheben. Die Gesetzlosenbande, die wir jetzt besiegt haben, setzte sich zum größten Teil aus solchen Rebellen zusammen. Sie nannten sich die „Schneekrieger“. Es waren auch ein paar Ylkaner dabei, aber die meisten von ihnen waren tatsächlich Kyakadrin.“
Yenda sah zwischen seinem Vater und seinem Onkel hin und her, eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen. „Schön. Aber was hat das alles mit Aridys zu tun?“
Rodan wich seinem Blick aus und räusperte sich.
„Aridys hat sich vor einigen Jahren diesen Schneekriegern angeschlossen.“
„Aridys – gehörte zu – zu denen? Wie kann das denn sein? Warum hätte sie das tun sollen?“
Die beiden Könige sahen sich an und holten gleichzeitig Atem, aber es war Isan, die antwortete.
„Aridys war von kyakadrinischer Abstammung. Als sie zu uns gebracht wurde, konnte man es ihr noch nicht ansehen, und später - nun, wir haben es immer vermutet, aber dachten, es wäre nicht mehr wichtig. Hätten wir es ihr nur früher gesagt, bevor sie es von - von denen erfuhr ...“ Sie brach ab und biss sich auf die Lippen. Dariv und Rodan griffen gleichzeitig nach ihrer Hand und tätschelten sie beruhigend.
Yenda war bleich geworden und ich konnte seine Verwirrung und Anspannung beinahe körperlich spüren. Wie ich hatte er etwas völlig anderes erwartet.
Rodan räusperte sich erneut. „Yenda .. wir können nur ahnen, was du durchgemacht hast, als Aridys verschwand. Damals konnten wir es nicht verstehen, da wussten wir noch nicht, was wir heute wissen. Erst als du – nun, fort warst, bekamen wir nähere Hinweise auf diese Schneekrieger und dieses Anführerpaar und fingen an Nachforschungen anzustellen. Und erst als wir sie gefangen hatten, erfuhren wir, was sie Aridys angetan hatten. Wir hätten sie nicht für tot erklären dürfen und vor allem dich nicht damit alleine lassen sollen.“
„Aber was haben diese Schneekrieger denn mit Aridys’ Verschwinden zu tun? Wurde sie doch nicht von dem Jenseitigen entführt?“ fragte Yenda verwirrt.
Neliann legte ihre Hände mit den Fingerspitzen aneinander vor sich auf dem Tisch. Ihre Stimme war ruhig und sehr weich.
„Es war Teil ihres Plans. Ein Plan der Schneekrieger, das Königshaus von Ylkan zu stürzen. Aridys war ihr auserwähltes Werkzeug, von Anfang an, vermutlich schon als sie geboren wurde.“
„Das kann nicht sein.“ Yendas Stimme war heiser. „Nicht meine Schwester. Das hätte sie nie getan.“
„Natürlich nicht.“ Isan streckte ihre Hände aus und umfasste Yendas Hand. „Sie wusste nichts davon. Diese - Verbrecher - haben sie nur benutzt.“
Yendas Schultern entspannten sich wieder etwas. Isan sah ihm fest in die Augen.
„Du weißt doch, sie wollte immer herausfinden, wer ihre richtigen Eltern waren. Egal wie oft wir ihr versicherten, wie sehr wir sie liebten, dass es in unseren Augen überhaupt keine Rolle spielte, dass sie nicht unser richtiges Kind war - sie hatte immer das Gefühl, ihr Leben wäre eine Lüge. Und sie war besessen von dem Schicksal ihrer richtigen Eltern. Wir dachten damals, diese Suche könnte nur in einer Enttäuschung enden, dass die Wahrheit sie nicht zufrieden stellen würde und wir versuchten sie davon abzubringen. Aber sie machte allein weiter. Und dann traf sie auf diese Magier.“
Yenda stützte den Kopf in seine Hände. „Ja. Ich weiß. Aber warum nur hat sie mir nie etwas gesagt? Ich weiß, ich hatte meine eigenen Sorgen in dieser Zeit, aber wenn sie nur einmal etwas gesagt hätte ...“
„Ihr hättet nichts ausrichten können, Tarlon“ sagte Neliann sanft. „Diese beiden Anführer der Schneekrieger sind offenbar mächtige Magier. Sie arrangierten, dass Aridys in Kontakt mit einigen ausgesuchten Mitgliedern kam und diese ihr allerlei Versprechungen machten. Und als sie sie in ihrer Gewalt hatten, veränderten sie mithilfe von Magie ihr Bewusstsein und ihre Erinnerungen, solange, bis sie alles tat, was sie wollten. Als sie das Ritual durchführten, um Aridys mit dem Jenseitigem zusammen zubringen, war sie schon nicht mehr Herrin ihrer selbst.“
„Aber warum Aridys? Warum nicht ein anderes Mitglied der Familie?“
„Wegen ihrer Abstammung, weil sie kein echtes Mitglied der Familie und dazu auch noch eine Kyakadrin war. Beides war entscheidend für den Plan der Schneekrieger. Wir wissen erst seit kurzem, dass sich dieses Volk durch die Jenseitigen immer noch besonders bedroht fühlt. Darum leben sie heute noch so hoch oben in den Bergen, nahe der Schneegrenze – so weit weg von den Jenseitigen wie nur möglich. Die Jenseitigen halten sich nur tief im Erdinneren auf. Mehr als hundert Jahre bevor die Clans sich auf die Reise hierher begaben, erforschten Abgesandte der Weltgöttin schon einmal das Land und berichteten bei ihrer Rückkehr, dass alle Bewohner offenbar mit einer tödlichen Seuche infiziert waren, die von den Jenseitigen stammen sollte. Nakur studierte diese Berichte und kam zu dem Schluss, dass die Seuche durch ein fehlgeschlagenes Experiment verursacht wurde. Einige Kyakadrin hatten offenbar versucht, die Jenseitigen zu missbrauchen, um magische Kräfte zu erlangen oder eine mächtige Vernichtungswaffe, oder beides. Dabei kam es zu einer schrecklichen Katastrophe, bei der fast alle Kyakadrin umkamen, so dass Nakur das Land von der Küste bis zu den Bergen leer und unbewohnt vorfand, als er mit den Clans hier landete.“
„Und diese Magier wollten mit Aridys’ Hilfe das Experiment wiederholen? Und Ylkan zu vernichten, wenn es ihnen gelingen sollte?“ Das war das erste Mal, dass ich etwas sagte und alle am Tisch zuckten zusammen, als hätten sie meine Anwesenheit fast vergessen. Neliann nickte bedächtig.
„Ja, erst Ylkan, und dann den ganzen Nohkran. Vielleicht nicht vernichten, sondern nur unterwerfen, die Clans auslöschen, um das Land dann selbst zu beherrschen. Ich bezweifle, dass sie Aridys wirklich auf Dauer hätten kontrollieren können, aber anscheinend war das ihr Plan.“
„Dass es ihnen nicht gelang, ist dir zu verdanken“ sagte Rodan zu Yenda. „Dir und Barys. Wenn Aridys aus dem Berg freigekommen wäre, hätte niemand sie mehr aufhalten können.“ Er räusperte sich und presste seine Hände zusammen. „Nicht nur wir stehen in eurer Schuld.“
Yenda schüttelte nur müde den Kopf. „Ich verstehe es immer noch nicht. Warum gerade Aridys??“
„Wir können es nur vermuten“ sagte Neliann ruhig. „Auch wenn die Jenseitigen nur wenig oder gar keinen Anteil am Schicksal der Menschen nehmen, so muss diese Katastrophe doch etwas bei ihnen bewirkt haben, so dass sie danach keinen Kyakadrin mehr in ihre Nähe ließen. Es gibt keine Aufzeichnungen mehr darüber, aber einige unserer Traummagier in Nakuren versuchen jetzt mithilfe von Wahrträumen die Vergangenheit zu erforschen. Sicher ist, dass es Nakur gelang bei seiner ersten Reise zu den Jenseitigen mit ihnen in Verbindung zu treten. Er schloss einen Pakt mit ihnen, um uns vor ihnen zu schützen – aber auch die Jenseitigen vor uns. Das erklärt, wie Aridys zu dem Jenseitigen im roten Berg gelang. Er hielt sie für eine nohkresische Clanstochter und damit für ungefährlich, genau wie es die Schneekrieger geplant hatten.“
„Also waren wir nie in irgendeiner Gefahr?“ Irgendwie konnte ich es kaum glauben.
Neliann wiegte den Kopf. „Wie man es nimmt. Wir wissen immer noch viel zu wenig über die Jenseitigen. Wenn dieser besondere Jenseitige im roten Berg Aridys freigegeben oder vielleicht einfach nichts getan hätte, wäret ihr nicht mehr aus dem Berg herausgekommen. Es war ein sehr gefährliches Unternehmen und ihr habt viel Glück gehabt - beide, aber ganz besonders Ihr, Tarlon.“
Yenda hielt sich die Hände vor das Gesicht, dann ließ er sie wieder sinken und blickte seine Eltern an.
„Glück? Vielleicht, aber ich konnte meine Schwester nicht retten.“ Er kehrte seine Handflächen nach oben. „Ich konnte noch nicht einmal irgendetwas von ihr bergen. Die Flamme hat alles von ihr verbrannt, selbst ihre Kleidung und Wappenkette. Sie wurde restlos ausgelöscht. Und ich lebe immer noch -“
Isan umfasste seine Hände mit ihren. Ich sah, dass sie nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte.
„Yenda – nein, so ist es nicht. Nur das von Aridys, was in dem Berg war, wurde ausgelöscht, das wesentliche von ihr, ihr Innerstes, ihre Seele. Die Magier fanden einen Weg, ihren Geist erst von ihrem Körper zu trennen und ihn dann mit dem Dämon zu verbinden. Ihr Körper blieb zurück.“
„Aber .. das ist nicht möglich. Ich habe sie gespürt, sie berührt - sie war dort!“
„Das beweist nur, wie mächtig sie schon war“ sagte Neliann ruhig. „Ihr Geist, ihre innerste Energie war bereits fähig, körperliche Gestalt anzunehmen. Nicht mehr lange und sie hätte sich von dem Jenseitigem lösen können und dann wäre sie unbesiegbar gewesen. Sie hätte ihren ursprünglichen Körper auch nie mehr gebraucht, aber vielleicht glaubten die Magier, sie später durch ihn noch kontrollieren zu können.“
Yenda umklammerte die Hände seiner Mutter und wandte nicht den Blick von ihr. Ich spürte wie sich eine kalte Stelle zwischen meinen Schulterblättern bildete.
„Wie kontrollieren? Ist sie - ihr Körper - noch am Leben?“
Für einen endlosen Moment war alles still. Eine Träne löste sich aus Isans Auge und lief über ihre Wange.
„Wir wissen es nicht“ sagte sie schließlich leise. „Aber du lebst noch. Könnte es da nicht sein, dass sie auch noch lebt? Irgendwie?“
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