Babas Welt
Dienstag, 15. Dezember 2009
15. Kapitel

15. Kapitel

Jahr 399 nach der Landung, 2. Tag im 1. Mond in Yls Jahrviertel

In dieser Nacht begegnete ich nicht dem Traumbruder. Für lange Zeit schlief ich so leicht, dass ich noch im Schlaf mit der wirklichen Welt verbunden blieb und sich die Ereignisse des Tages in meinen Träumen wiederholten und vermischten und schließlich ganz verwirrten. Aber am meisten träumte ich von Yenda, wie wir uns im roten Berg umarmten und erst auf dem Boden in der Dunkelheit und dann in seinem Bett bei Kerzenschein liebten, wie wir beim tanzen die Hände hielten und uns zulächelten. Wir saßen auf der Tribüne auf dem Marktplatz und alle Menschen auf dem Platz starrten uns an und ich überlegte, wie ich mein Festgewand wieder beschaffen sollte, das mir unterwegs irgendwie abhanden gekommen war. Yenda brachte mir das Gewand und half mir beim anziehen, und dann verbargen wir uns in einer Kammer vor seinen Schwestern, die uns suchten. Yenda und ich hielten uns an den Händen und gingen entlang der Straße, auf dem schmalen staubigen Pfad durch die Weinfelder, die sich bis zum Horizont erstreckten und allmählich in Hügel und dann in Berge übergingen, steile, hoch aufragende abweisende Felsen, hinter denen die Sonne unterging, und dann wurde es dunkel. Yendas Hand hatte sich von meiner gelöst und er bewegte sich von mir fort und drehte sich nicht um. Ich wollte ihn rufen und ihn einholen, aber ich war wie gelähmt und bekam kein Wort heraus, es würgte mir im Hals und ich weinte, weinte Tränen, die mir wie Blut aus den Augen flossen, weil ich allein im Dunkeln war und das, was ich suchte, auf immer verloren hatte.
Als ich aufwachte, schien die Sonne in das Zimmer. Ich erwartete halb mein Gesicht tränennass und das Kopfkissen feucht vorzufinden, aber scheinbar hatte ich auch das Weinen nur geträumt. Der Traum hob sich wie eine dunkle Last von meiner Seele und ich streckte mich genussvoll aus, froh, dass es nur ein Traum gewesen war. Yenda lag neben mir auf dem Rücken, ich sah seine Schulter und die hellen Haare auf dem Kissen. Er rührte sich nicht und nach einer Weile hob ich den Kopf und richtete mich leicht auf, um nach ihm zu sehen. Er lag mit dem Kopf von mir abgewandt, einen Arm angewinkelt mit der Hand neben seinem Kopf auf dem Kissen, ganz regungslos. Auch seine Augen bewegten sich nicht unter den Lidern. Ich streckte eine Hand nach ihm aus, fröstelnd von undeutlicher Vorahnung und berührte ihn. Er war warm und atmete auch, wenn auch sehr langsam, aber er wachte nicht auf und regte sich nicht, auch als ich ihn fester anfasste und erst leicht und dann heftiger schüttelte. Selbst als ich seinen Kopf leicht anhob und ihm mit dem aus der Waschschüssel angefeuchteten kalten Lappen über das Gesicht und den Nacken fuhr, reagierte er nicht. Ich wusste, dass er normalerweise einen leichten Schlaf hatte und so war es noch unerklärlicher für mich, dass ich nichts von ihm spüren konnte, nicht die Spur von Gefühlen. Es war, als hielte ich nur noch seinen Körper in meinen Armen, ganz so, als sei sein Geist von ihm getrennt worden, so wie bei seiner Schwester.

Nur die mühsam erworbene Disziplin aus meinem Traummagiestudium bewahrte mich davor vollends in Panik zu geraten, doch ich kam sehr nahe daran den Kopf zu verlieren und mich nur wimmernd in mich selbst zurückzuziehen. Eine Weile saß ich bei Yenda im Bett, unfähig zu begreifen, was geschehen war und völlig hilflos in meiner Verständnislosigkeit. Es durfte einfach nicht sein, es war ein grausamer Irrtum, noch vor Stunden war er völlig normal gewesen, es war nur ein böser Traum, er brauchte Hilfe, wie ihm helfen, wie nur, wer außer mir konnte helfen ... Schließlich nahm ich meine ganze Kraft zusammen, versuchte mich zu sammeln und mithilfe einer Atemübung zu beruhigen, dann unternahm ich einen letzten Versuch zu Yenda durchzudringen. Es half nichts, ich vermochte immer noch nicht irgendetwas in ihm zu wahrzunehmen. Ich gab es auf, kam mit zitternden Knien zum stehen und begann mich beinahe automatisch anzuziehen, nur noch von einem Gedanken besessen, Hilfe zu holen. Nur in Tunika und Hose, mit Socken an den Füßen, weil ich keine Schuhe hatte, verließ ich Yendas Zimmer, stieg die Treppe hinunter und öffnete die Eingangstür zum Turm. Schon auf der Treppe hatte ich von draußen auf der Terrasse Stimmen gehört und sah nun, ins Licht der Morgensonne blinzelnd, dass sie zwei jungen Palastangestellten gehörten, die in graue Kittel gewandet die Terrasse fegten und dabei über irgendeinen der gestrigen Wettkämpfe diskutierten. Als sie mich sahen, verstummten sie schlagartig und starrten mich verblüfft an. Ich konnte mir vorstellen, wie seltsam ich ihnen erscheinen musste mit meinen aufgelösten wirren Haaren und versuchte mein Bestes mich zu sammeln und so ruhig wie möglich zu erscheinen.
Das Mädchen fasste sich zuerst und trat ein paar Schritte auf mich zu, während ihr Bruder - der Ähnlichkeit nach mussten es wohl - wie auch sonst - Zwillinge sein - mich weiter halb bestürzt, halb neugierig anstarrte. Ich atmete noch einmal tief und trat aus der Eingangstür heraus, behielt aber den Türgriff in der Hand.
„Tarlil? Geht es euch nicht gut? Ist etwas passiert? Braucht ihr Hilfe?“ Sie kam näher, bis sie dicht vor mir stand und als ich versuchte zu lächeln, wurde ihr Gesicht noch besorgter.
„Nein .. mir geht es gut“ brachte ich heraus, irgendwie wollte meine Stimme mir nicht gehorchen. „Aber Yenda .. ich weiß nicht, was es ist. Ich brauche Neliann. Könnt ihr sie holen?“
„Wer? Neliann?“ Der Bruder war inzwischen auch näher gekommen und die beiden sahen sich mit offenem Mund verblüfft an.
„Mayg Neliann .. die neue Hofmagierin. Ist sie hier? Wisst ihr, wo sie ist?“
„Oh. Ja .. doch, Tarlil, sie müsste im Schloss sein. Sollen wir sie suchen?“
„Ja.“ Langsam wurde mein Kopf klarer. „Sie hat ihre Gemächer im rechten Flügel - unten, glaube ich. Ich brauche sie - und auch den Hofarzt, wenn er hier ist.“
Der Bruder lehnte seinen Besen an die Turmwand und nickte seiner Schwester zu. „Ich hole Meister Nagyn, ja?“ Für einen Moment sah seine Schwester unentschlossen drein, dann nickte sie und er rannte sofort los. Das Mädchen lächelte mir etwas unsicher zu.
„Ich versuche die Hofmagierin zu finden. Macht euch keine Sorgen. Ich beeile mich.“ Sie legte den Besen ab, zögerte noch ein wenig, dann wandte sie sich ab und rannte zur Treppe. Ich lehnte den Kopf an die Turmmauer und schloss die Augen und versuchte die Tränen zu unterdrücken, die mich in der Kehle würgten.

Yenda lag noch genauso da, wie ich ihn zurückgelassen hatte und als ich seinen Kopf in meine Hände nahm, spürte ich immer noch nichts von ihm. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte das fast unkontrollierbare Zittern meiner Hände und Schultern zu unterdrücken. Eine Weile sah ich auf Yenda nieder, das reglose Gesicht zwischen meinen Händen, dann schloss ich die Augen, holte tief Atem und ließ mich fallen, folgte im Geist meiner Clangabe, aus mir heraus und zu Yenda hin, hinein in das Nichts seiner Traumwelt - eine Welt, in der nicht Tag noch Nacht war, nicht hell noch dunkel, nicht warm noch kalt, einfach ein unbestimmtes graues Nichts. Es gab keine Spuren, denen ich folgen, keine Richtung, in die ich gehen konnte. Ich drang einfach vor in das Nichts, ohne darüber nachzudenken, dass ich den Weg nicht mehr zurückfinden würde, ja, ohne überhaupt an irgendetwas zu denken.
Nach einer Weile - ob Stunden oder nur Minuten vermochte ich nicht mehr zu sagen, weil es in dem Nichts auch keine Zeit mehr gab - merkte ich, wie ich auch noch den letzten Halt verlor und hilflos zu treiben begann. Es machte keinen Unterschied mehr, ob ich mich bewegte oder nicht und ich nahm mich auch selbst nicht mehr wahr. Das einzige, was nicht verloren ging, war mein verzweifelter Wunsch Yenda zu finden und ihn zurückzuholen. Aber selbst dieser Wunsch wurde zusehends von dem grauen Nichts erstickt.
Dann umgab mich auf einmal eine starke Präsenz, kühl und unerschütterlich, umhüllte mich wie ein Netz aus starken Tauen, das mich wieder in mir selbst verankerte - und das Nichts verschwand, ich konnte mich wieder bewegen und spürte die Luft in meine Lungen strömen, als ich Atem holte.
*Kommt zurück, Barys*
Ich wehrte mich beinahe instinktiv, aber kam nicht gegen die starken Schilde an.
*Yenda … ich muss Yenda finden ...*
*Wir werden ihn finden. Aber nicht so.*

Ich öffnete abrupt die Augen und kniff sie sofort wieder zusammen, als mir die Sonne direkt ins Gesicht schien. Neliann saß dicht neben mir auf dem Bett und hielt mit beiden Händen meinen Kopf umfasst, so dass die Daumen im Nacken und die Spitzen der Zeigefinger an meinen Schläfen ruhten. Ihre Finger waren kühl und trocken und ich spürte ihre Ruhe und Gelassenheit durch sie auf mich überströmen. Als ich mich aufrichtete, nahm sie ihre Hände weg und auch ihre Präsenz verschwand aus meinen Gedanken.
„Tarlil? Hört ihr mich?“ Die tiefe, etwas schroffe Stimme gehörte einem älteren massigen Mann mit weißem Kinnbart, der dicht vor mir auf einem Stuhl saß und sich nun vorbeugte und mich an den Schultern nahm. Eine Flut von reichlich gemischten und teilweise widersprüchlichen Gefühlen ging von ihm auf mich über, bevor ich sie abblocken konnte, so dass ich unwillkürlich etwas zurückzuckte. Ich erkannte Ärger, Besorgnis, Verwirrung, Neugier und einen gut Teil Misstrauen - gegen Neliann gerichtet - und konnte nur stumm nicken, bevor es mir gelang meine Orientierung wieder zu gewinnen. Dem offenbar hastig übergezogenem graublauen ärmellosen Obergewand nach zu schließen musste das Meister Nagyn sein, der Mann, der seit der Krönung der Königszwillinge das Amt des Hofarztes inne hatte und der Yenda die Überreste seines Zwillings aus dem Leib geschnitten hatte. Ich erinnerte mich vage daran, dass er mir auf dem Ball vorgestellt worden war. Er runzelte nun die Stirn und kniff seine dunkelblauen Augen zusammen, während er mich forschend fixierte. Mein junger Bote hatte ihn offenbar aus dem Bett geholt, er war noch unrasiert und seine hellgrauen glatten Haare waren im Nacken flüchtig zu einem unordentlichen Zopf zusammengefasst.
„Sie steht noch unter Schock, Meister Nagyn“ sagte Neliann ruhig.
„Das sehe ich auch. Aber wenn es noch was anderes ist? He?“
Ich sah ihm in die leicht vorstehenden blauen Augen unter den buschigen Augenbrauen und versuchte zu lächeln.
„Es geht mir gut, Meister Nagyn.“
„Freut mich zu hören“ knurrte er barsch. „Das war sehr leichtsinnig von euch. Wenn Mayg Neliann nicht hier gewesen wäre ... Ich halte nichts von diesem Traummagiezeugs … hätte euch nicht zurückbringen können ... Und auch kein anderer hier ... Was ist eigentlich passiert? Erzählt schon mal, ich sehe mir jetzt den Jungen mal an.“
Er zog seinen Stuhl näher an das Bett, während ich etwas zur Seite rückte und beugte sich über Yenda. An dem hatte sich nichts verändert, er lag nach wie vor regungslos da und sein Atem war kaum wahrzunehmen. Seine Augen hatten sich einen kleinen Spalt breit geöffnet, doch durch die Schlitze zwischen den Wimpern war nur das Weiße der Augäpfel zu sehen. Ich spürte, wie es mich wieder in der Kehle würgte. Neliann neben mir legte mir sachte ihre Hand auf den Rücken.
„Ich weiß es wirklich nicht ...“ brachte ich schließlich heraus. „Gestern - letzte Nacht - war er noch ... völlig normal ... und als ich aufwachte, war er so wie jetzt.“
Nagyn brummte etwas in sich hinein, während er behutsam Yendas Puls mit den Fingerspitzen am Hals fühlte, die Augenlider sachte hochschob und mit dem Kopf dicht über Yendas Nase seinen Atem prüfte. Schließlich schlug er die Decke ganz zurück und knöpfte Yendas Schlafhemd auf, nicht ohne einen mahnenden Seitenblick auf Neliann, die gelassen den Blick abwandte, und hörte mit seiner kleinen tönernen Hörglocke seine Brust und dann seinen Leib ab. Zuletzt schob er das Hemd noch ein wenig weiter zur Seite und sah sich die Narbe über seiner Hüfte an, tastete mit den Fingerspitzen prüfend darüber und drückte leicht darauf. Mir erschien sie nicht verändert. Einen Moment lang sah er abwesend und ein wenig bedrückt auf Yenda nieder, dann seufzte er und schüttelte den Kopf.
„Körperlich fehlt ihm wohl nichts. Viel zu dünn, wie immer .. Hab aber gestern selbst gesehen, wie gut es ihm ging ... und letzte Nacht noch voll bei Kräften, he?“ Er grinste mir beinahe verschwörerisch zu. „Ich hörte, ihr habt Erfahrung in Heilkunde? Da erzähle ich euch wohl nichts Neues?“
Ich schüttelte nur den Kopf und Nagyn seufzte wieder.
„Könnten versuchen ihn zu bewegen ... oder mit Lärm aufzuwecken ... oder kaltes Wasser? Nein? Seht mich nicht so an, ich weiß schon selbst, dass es nichts helfen kann.“ Das letzte galt Neliann, die mit keiner Wimper zuckte. „Dann sind es diese verdammten Alpträume. Er hatte sie in einem durch, bevor er uns verließ - sie kamen mir damals schon nicht geheuer vor ... Ich konnte ihm schon damals nicht helfen, ist nun mal nicht mein Gebiet … und nicht nur mir ging es so.“ Das letzte sagte er wieder mit einem lauernden Blick auf Neliann, die den Blick kühl erwiderte.
„Ihr meint Mayg Berlkor?“ sagte sie mit einem Anflug von Müdigkeit. Ich spürte, dass die beiden Nelianns Vorgänger nicht zum ersten Mal diskutierten. Nagyn zog finster die Augenbrauen zusammen.
„War nicht das erste Mal, dass er nichts unternahm“ knurrte er. „Der Mann war ein Scharlatan. Hat nie einen Finger gerührt ... Hätte er Aridys geholfen, wäre das alles nicht passiert. Und dann hatte er die Stirn mich einen Quacksalber zu schimpfen ... mich, der einzige, der sich um Aridys kümmerte ...“
„Er muss seine Gründe dafür gehabt haben“ sagte Neliann fest. „Ich will ihn nicht in Schutz nehmen ...“
„Oho? Euren Traummagiegenossen??“
„Ich habe ihn nie gekannt, er wurde nach Ylkan berufen, bevor ich auf die Universität in Nakuren kam. Und er war seitdem nie wieder in Nakuren. Ich habe Erkundigungen über ihn eingezogen, bevor ich herkam, und jeder der ihn kannte, fand das äußerst merkwürdig.“
Nagyn schnaubte durch die Nase. „Für mich sah es aus, als wollte er nicht mehr zurück. Hatte keine Freunde mehr - kein Ansehen. Warum sollte er zurückkehren?“
Neliann presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Meister Nagyn, ich widerspreche euch nur ungern, aber er hatte viele Freunde, die sich noch gut an ihn erinnerten. Einige haben mir Botschaften für ihn mitgegeben. Sie hatten lange versucht, ihm Botschaften zu schicken, aber er hat nie geantwortet. Nicht nur darum fand ich es so bedauerlich, dass er das Schloss schon verlassen hatte, als ich hierher kam.“
„Vor euch geflohen ist, meint ihr.“
„Vor mir? Ich wurde erst berufen, als er sich schon einige Monate lang zurückgezogen hatte.“
„Vor dem neuen Magier aus Nakuren. Der hätte ihn enttarnt. Als das was er war, ein Scharlatan.“
Neliann hatte Mühe sich zu beherrschen. „Das halte ich für unwahrscheinlich. Ich habe ihn in den Chroniken nachgesehen, er hatte die besten Referenzen ...“
„Referenzen? Tchä ...“ Nagyn ballte seine Hände zu Fäusten und knüllte dabei Yendas Schlafhemd zusammen. Ich legte eine Hand auf seine und er murmelte eine Entschuldigung und rückte ein wenig vom Bett weg, während ich Yendas Hemd wieder zuknöpfte und ihn zudeckte. Nagyn stand schnaufend auf und ging zum Kamin, um neues Holz aufzulegen und das Feuer neu zu entzünden. Neliann schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Und dann sprachen sie und Nagyn gleichzeitig und brachen verwirrt ab.
„Aber das spielt jetzt keine Rolle ...“
„Was machen wir nun mit Yenda...?“
Nagyn und Neliann sahen sich an, er halb aggressiv und halb besorgt, während sie sich bemühte, ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Die Hofmagierin wandte zuerst den Blick ab.
„Bevor ich versuche, Tarlon Yenda zurückzuholen, muss ich mich vorbereiten“ sagte sie fest. „Eine halbe Stunde oder so wird keinen Unterschied machen.“ Sie wandte sich mir wieder zu. „Hattet ihr schon Zugang zu Yendas Traumwelt, vor heute morgen, meine ich?“
Ich nickte. „Ein wenig, ja. Ich habe ihm einmal geholfen einen Alptraum zu überwinden - und wir haben öfter einfache Traumerkennungsübungen durchgeführt.“
„Gut, dann könnt ihr mir helfen, das verbessert unsere Aussichten.“
„Sie sollte sich aber vorher ausruhen“ warf Nagyn barsch ein. „Vor allem etwas essen.“
Neliann nickte zustimmend. „Ich bringe euch zur Küche, dort sollten sie noch etwas haben.“
„Ich bleibe hier bei Yenda“ sagte ich, bemüht nicht wie ein trotziges Kind zu klingen. Neliann sah von mir zu Yenda, seufzte und zuckte die Achseln.
„Dann lasse ich euch etwas bringen. Aber macht euch bitte nicht zuviel Sorgen. Wir haben noch viel Zeit. Ich bin so bald wie möglich wieder da.“
Damit stand sie auf und wandte sich zum gehen. In der Tür wandte sie sich noch einmal um.
„Meister Nagyn ... was Mayg Berlkor betrifft ...“ sie zögerte, holte tief Atem und fuhr fort „auch mir sind mehrere Unstimmigkeiten aufgefallen, seit ich hierher kam. Ich hatte bisher nur keine Zeit dem nachzugehen. Aber mittlerweile bin ich zu dem Schluss gelangt, dass die Sache untersucht werden sollte.“
Nagyn grunzte überrascht.
„Jetzt ist wohl nicht die richtige Zeit dafür, aber wir sollten so bald wie möglich eine Beratung einberufen, mit den Kerlonel und Kerlil Isan. Könntet ihr das arrangieren?“
Nagyn zuckte die Achseln. „Gerne - aber nichts zu machen jetzt - die Drachenfestsitzung heute mittag ... Nun, wir werden sehen, was Kerlil Isan sagt. Sie müsste bald hier sein.“
„Oh, natürlich. Bis später dann.“ Neliann verließ das Turmzimmer und hastete die Treppe hinunter. Nagyn wandte sich wieder dem Feuer zu. Als es ihm gelungen war, die Flammen wieder anzuschüren, erhob er sich schnaufend und nahm seinen Platz auf dem Stuhl vor dem Bett wieder ein. Eine Weile starrte er grübelnd auf Yenda nieder, dann schüttelte er den Kopf und knurrte etwas Unverständliches.
„Es ist keine Droge, oder?“ fragte er abrupt. „Nichts in seinem Atem zu riechen - hat er letzte Nacht irgendetwas genommen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, da bin ich mir sicher.“
„Was denkt ihr dann?“
Ich konnte nicht gleich antworten, weil es mich wieder im Hals würgte. Nagyn legte seine Hand auf meine Schulter und brummte etwas Beruhigendes. Diesmal spürte ich nur Besorgnis und Anteilnahme von ihm, bevor ich mich abschirmte.
„Ich bin mir nicht sicher… Ich glaube, er hat sich in einem Traum verloren. Oder sein Geist ist irgendwie - ich weiß nicht, entführt worden, von seinem Körper getrennt ...“ Wieder würgten mich die Tränen im Hals und ich ballte meine Hände zu Fäusten. „Wie bei Aridys ...“
Erst als Nagyn mich bestürzt anstarrte, fiel mir ein, dass außer Neliann bisher nur die Könige und Isan wussten, dass Aridys’ Körper vermutlich noch lebte. Nagyn starrte von mir zu Yenda und wollte gerade etwas fragen, als ein Geräusch von Schritten auf der Treppe ihn herumfahren ließ. Die Tür öffnete sich und Isan trat in das Zimmer. Sie war offensichtlich sehr bemüht, sich nicht zuviel anmerken zu lassen, aber ihre Augen blickten angstvoll und ihr Atem ging zu flach. Nagyn, der das zugleich mit mir gesehen hatte, erhob sich abrupt, ging ihr entgegen und nahm ihre Hände in seine.
„Isan .. beruhige dich erstmal - es ist nicht so schlimm - es wird wieder alles gut, aber du musst dich beruhigen. So ist es gut ... tief atmen - so ist es recht. Ah, da ist ja auch das Essen für Tarlil Barys. Das wird ihr gut tun.“
Hinter Isan waren zwei Frauen ins Zimmer getreten, es waren Myrlan und die junge Schlossangestellte, die ich nach Neliann geschickt hatte. Myrlan brachte mir ein paar Kleidungsstücke und Schuhe und die junge Frau trug ein Tablett mit einer Kanne Tee und einem Krug Milch und mehreren Essensachen, das sie auf Yendas Schreibtisch abstellte. Als mir der Duft des warmen Brotes in die Nase stieg, merkte ich erst, wie hungrig ich war.
Isan sah Meister Nagyn bemüht ruhig an, doch ihre Unterlippe zitterte.
„Wie geht es ihm? Was ist passiert?“
„Wir wissen es nicht genau, Isan. Er ist nicht bei Bewusstsein. Neliann wird ihn aufwecken. Ich bin sicher, es gelingt ihr.“
Isan nickte, machte sich von dem Arzt los und ging an ihm vorbei zum Bett. Einen Moment sah sie auf ihren Sohn nieder, dann bückte sie sich, hob seinen Kopf mit beiden Händen leicht an, ließ sich auf das Bett nieder und nahm vorsichtig seinen Kopf auf ihren Schoß. Yenda regte sich nicht, auch nicht als sie ihm zärtlich durch die Haare und über das Gesicht strich.
Nagyn bedeutete Myrlan und dem Mädchen zu gehen und kehrte wieder zu seinem Stuhl zurück.
„Ihr müsst etwas essen“ ermahnte er mich sanft. Isan hob den Kopf und lächelte mich schwach an, ich sah, dass ihre Augen in Tränen schwammen.
„Neliann sagte, du hättest versucht ihn selbst zurückzuholen ... das war sehr mutig.“
„Ich konnte nicht anders…“
„Ich weiß.“ Isan legte mir eine Hand auf den Arm. „Bitte, du musst jetzt etwas essen. Ich hab dir Tee bringen lassen - trink ihn bevor er kalt wird.“
Ich schluckte und stand auf - und kaum stand ich auf den Füssen, verschwamm alles vor meinen Augen. Nagyn packte mich an den Ellenbogen und hielt mich fest, bis der Schwindel verflog und mein Blick sich klärte.
„Esst!“ befahl er nur barsch und ich nickte und ging zum Schreibtisch, wo der Tee in der Kanne dampfte. Ich goss mir welchen ein und umklammerte die Tasse mit beiden Händen, um meine klammen Finger zu wärmen, dann nahm ich einige Schlucke, aber von dem Brot konnte ich kaum mehr als einen Bissen herunterbekommen. Schließlich nahm ich ein paar von meinen Kleidern auf und ging zur Tür. Isan nickte mir nur zu, als ich murmelte, dass ich gleich zurück wäre und Nagyn hob nur die Hand, ohne sich umzudrehen.
Jemand hatte das Feuer im Waschraum unter dem Wasserkessel entzündet, so dass ich warmes Wasser zum waschen hatte. Als ich mich gewaschen und angezogen hatte und auch meine Haare gebürstet waren, fühlte ich mich etwas besser.
Nagyn und Isan saßen immer am Bett und sprachen halblaut miteinander. Ich nahm mir noch eine Tasse Tee und setzte mich wieder zu ihnen, auf den Bettrand bei Yendas Beinen. Nagyn musterte mich kritisch und nickte dann.
„So ist’s besser. Wenigstens seid ihr vernünftiger als Yenda. Dieser Junge - wirklich mein allerschlimmster Patient. Immer in Schwierigkeiten von Geburt an - oh, Ann und Wyr, diese Geburt! Ich dachte, er würde es nicht überleben - und seine Mutter auch nicht.“ Isan senkte ihren Kopf zu Yendas hinunter.
„Gab es Schwierigkeiten?“ fragte ich. Nagyn schnaubte.
„Und ob. Er war zu spät dran - und hatte sich auch nicht richtig gedreht ... Ich hätte ihn gleich herausschneiden sollen - aber ich dachte bis zuletzt es ginge auch so ...“
Isan streichelte über Yendas Stirn. „Er wollte seinen Zwilling nicht verlassen. Den Zwilling, der nicht mehr da war.“
„Es dauerte drei Tage. Und das schlimmste kam noch.“
Isan lächelte bitter. „Ich hab das schon fast vergessen. Als er endlich auf der Welt war, war mir alles egal, aber dann - ich habe mir niemals später wieder solche Sorgen um ihn gemacht wie in diesen Tagen, auch nicht als er so lange fort war jetzt. Damals - ich war nahe daran ihn aufzugeben, ich konnte es nicht mehr ertragen, dass er so litt ...“
Nagyn schnalzte mit der Zunge. „Das waren schlimme Tage. Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit bis er stirbt. Es war ein Wunder, dass er immer weiter lebte.“
„Sterben? Weil er keinen Zwilling hatte?“ fragte ich entsetzt. Nagyn schüttelte den Kopf.
„Auch, aber nicht nur deswegen. Er hörte einfach nicht auf zu schreien. Und er wollte nicht trinken. Das ging vier oder fünf Tage lang.“ Isan schloss die Augen. „Wir versuchten alles. Ich konnte einfach nichts bei ihm finden - er war nicht krank, schrie nur in einem durch. Dieses unaufhörliche Geschrei … es machte das ganze Schloss verrückt, es war unnatürlich. Alle verfügbaren Leute wurden auf die Suche nach einem Waisenkind geschickt. Der Rat hatte zwar Bedenken, ihnen war das ganze unheimlich. Dariv aber sagte ihnen - sehr laut und deutlich - er würde selbst ein Trollkind in den Clan aufnehmen, wenn Yenda damit nur endlich still sein würde. Die Gesichter ... das werde ich nie vergessen.“
Isan lächelte unter Tränen. „Und dann wurde Aridys gebracht. Ich werde es nie vergessen, es war wie ein Wunder. Eine Frau brachte sie und legte sie einfach zu Yenda in die Wiege. Und er hörte auf zu schreien. Einfach so. Und als Aridys anfing zu weinen, weil sie Hunger hatte, säugte ich sie und nahm Yenda mit auf den Schoß und danach trank auch er, als hätte er nie etwas anderes getan. Ich dachte, das alles wäre nur ein Traum und ich würde bald aufwachen und Yenda wäre tot ...“
„Niemand wollte es recht glauben. Alle dachten, es wäre Zauberei im Spiel“ brummte Nagyn. „Die Frau verschwand sofort wieder, nannte ihren Namen nicht, verlangte nicht einmal eine Belohnung …“
„Sie hat Yendas Leben gerettet“ sagte Isan fest. „Das werde ich ihr nie vergessen.“
Ich erinnerte mich plötzlich daran, was Yenda mir bei unserer ersten Begegnung erzählt hatte.
„War Aridys nicht ein Waisenkind aus einem Bergdorf?“
Isan zuckte die Achseln. „Die Frau sagte so etwas und nannte auch den Namen des Dorfes. Wir schickten später ein paar Gardisten hin, um die Dorfbewohner zu belohnen und mehr über Aridys in Erfahrung zu bringen. Als sie zurückkamen, berichteten sie, das Dorf wäre von einer Lawine verschüttet worden und es gäbe keine Überlebenden.“
„Das .. ist doch ein merkwürdiger Zufall, oder?“
„Ja, das sahen viele so. Aber Mayg Berlkor untersuchte die ganze Sache und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Weder an der Lawine noch an Aridys.“
„Wie auch …“ knurrte Nagyn. „Ich bin überzeugt, dass er keine große Mühe aufgewendet hat.“
„Du hast Aridys auch untersucht ...“
„Ja, und mit ihr war auch alles in Ordnung. Das glaube ich immer noch.“
„Sie wurde nur benutzt“ sagte Isan leise mit gesenktem Kopf. „Benutzt und missbraucht. Von diesen .. Wahnsinnigen, die jetzt auch meinen Sohn ..“
Nagyn sah zwischen Isan und mir hin und her und räusperte sich, aber bevor er etwas sagen konnte, hörten wir Schritte auf der Treppe. Neliann kam zurück.

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