Babas Welt
Montag, 21. Dezember 2009
Kapitel 21

Kapitel 21

Im Jahr 399 nach der Landung, am 11. und 12. Tag des 1. Monds in Yls Jahrviertel

Als wir das Ende der Schlucht erreichten und sich das kleine Tal an der Rückseite von Yls Wall vor uns öffnete, dämmerte es bereits. Die Sonne war schon vor einiger Zeit hinter den Bergen verschwunden und der Wind blies kalt aus dem Tal. Einmal mehr war ich den Sommerhoflern zutiefst dankbar für ihre Karte, denn auf ihr war nicht weit von dem Ausgang der Schlucht eine Ruine eingezeichnet, in der wir übernachten konnten. Sie lag am anderen Ende des Tals, gerade so weit, dass wir sie von dem Ausgang der Schlucht sehen und noch bei Tageslicht erreichen konnten. Das Tal lag still und friedlich im Abendlicht da, auf den Wiesen beim Bach saßen Kaninchen, die vor uns wegflitzten, als wir ihnen zu nahe kamen und hie und da sang eine Amsel von einem Baumwipfel oder einem Felsvorsprung. Außer dem notdürftig ausgebessertem Pfad, der dem Verlauf des Baches folgte, und der Ruine konnte ich keine Spuren von menschlicher Anwesenheit entdecken.
Die Ruine musste einmal ein mächtiges Gebäude gewesen sein, ein Gasthof vielleicht oder eine Burg. Jetzt waren die meisten Mauern zerfallen und zu großen Geröllhalden zusammengestürzt. Der äußere Wall war noch größtenteils erhalten, und dahinter befand sich ein großer Hofplatz. Dort war an dem inneren Wall entlang ein Wetterschutz aus Ziegeln und Balken errichtet worden, mit einem Dach aus Holzbalken und mehreren Feuerstellen und Verschlägen für die Tiere – nicht nur Pferde und Packtiere, sondern auch Rinder und Schafe, deren Hinterlassenschaften nach zu schließen. Ich hatte erst kein Feuer entzünden wollen, aber es blieb uns nichts anderes übrig, wir beide waren durch unsere noch von der Klamm feuchten Kleider völlig durchfroren und auch Benkal behagte die Nässe nicht. Glücklicherweise war unser Gepäck gut gegen Feuchtigkeit gesichert und es war alles trocken geblieben. Yonann rieb Benkal mit Stroh ab und füllte seinen Futtersack, während ich mich um das Feuer kümmerte und Wasser vom Bach holte. Soweit ich feststellen konnte, war von dem Feuer außerhalb der Ruine nichts zu sehen und so war ich mir einigermaßen sicher, dass uns in dieser Nacht niemand stören würde.
Als wir mit dem Essen fertig waren und Yonann ihren Zopf löste und auskämmte, stand der dreiviertelvolle Mond im Osten schon weit über den Bergspitzen. Ich konnte es kaum abwarten, bis sie fertig war, obwohl wir beide von der Wanderung durch die Klamm ziemlich erschöpft waren. Ihr Haar roch schwach nach Regen und der heißen Quelle vom See und ihre um die Warzen herum noch kühlen Brüste wurden unter meinen Händen warm. Yonann zog mich über sich und klammerte sich an mich, bevor ich noch ganz aus meinen Kleidern heraus war und dann war es eine gute Weile, bis uns so kalt wurde, dass wir uns zudecken mussten. Ich legte noch Holz auf das Feuer, damit es nicht zu früh ausging und wir legten uns eng beieinander nicht weit von der Feuerstelle entfernt in das Stroh.
„Yenda, ich würde gerne etwas anderes versuchen ...“
„Ja?“ Ich streichelte mit einer Hand über ihren Rücken an ihrer Wirbelsäule entlang. „Gerne, aber gib mir noch ein paar Minuten...“
Sie kicherte. „Ich meinte eigentlich etwas anderes. Ich möchte ausprobieren, ob wir den Traumbruder zusammen finden können. Ich meine, noch bevor wir einschlafen.“
„Wie soll das gehen? Er ist doch in meiner Traumwelt, wir können ihm doch nur begegnen, wenn wir schlafen.“
„Ja, ich weiß. Normalerweise geht das auch nur so, aber ich glaube, er ist stärker geworden. Ich habe ihn schon ein paarmal beim Meditieren gespürt in den letzten Tagen. Das bedeutet, dass er uns auch in der wirklichen Welt näher kommt. Irgendwann kannst du ihn auch alleine wahrnehmen, wenn du wach bist.“
„Ich glaube aber nicht, dass ich das möchte. Beim Schlafen ist es schon schlimm genug.“
„Du kannst ihn nicht von dir fernhalten, Yenda. Und es ist doch besser, wenn du ihn immer und überall wahrnehmen kannst. Dann kann er dich nicht überraschen.“
Ich gab es nur ungern zu, aber sie hatte Recht. Ich hatte mich dagegen gesträubt mit dem Traumbruder in Verbindung zu treten, weil ich mich einfach nicht damit abfinden konnte, dass er in meine Traumwelt eingedrungen war und jetzt ein Teil von ihr – von mir war. Aber er war nun mal da und ihn weiter zu ignorieren bedeutete zuzulassen, dass er immer weiter Besitz von mir ergriff, ohne dass es mir bewusst war.
„Und was muss ich dazu tun?“
Yonann legte eine Hand in meinen Nacken und küsste mich sanft auf den Mund.
„Leg deine Hand hierhin, an meinen Kopf, unter die Haare, ja so. Sieh mich an und versuche deine Augen aufzuhalten. Und konzentriere dich auf den Traumbruder, versuche an nichts anderes zu denken.“
Ich sah ihr Gesicht dicht an meinem. Das Weiße in ihren Augen glänzte und in den Pupillen schimmerte schwach der Schein von dem Feuer hinter uns. Es kostete mich einige Überwindung mir den Traumbruder zu vergegenwärtigen, seine unheimliche bizarre Gestalt und den Strudel von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung um ihn herum, aber nach einer Weile spürte ich, wie er sich uns näherte, wie ein Schatten, der auf uns zukroch. Einen kurzen Moment drohte die alte Panik mich zu überwältigen, aber Yonann drückte ihre Hand stärker an meinen Nacken und ihre Nähe beruhigte mich wieder. Dann vermochte ich nicht mehr zu sagen, ob ich wach war oder schlief, ja noch nicht einmal, ob meine Augen sich geschlossen hatten oder noch offen waren. Ich sah weiterhin Yonanns Gesicht vor mir, die Haarsträhne, die ihr über Wange und Kinn hing, und fühlte ihren warmen Atem auf meiner Wange. Der Traumbruder kam näher, war bei uns, neben uns, es war schwer zu sagen und spielte keine Rolle. Noch näher kam er und dann war es, als ob er sich über uns legte und uns einhüllte, wie eine kalte dunkle Wolke aus Sehnsucht und Verzweiflung, still und stumm und doch wie in ohrenbetäubender Qual. Yonann keuchte, als wollte sie schreien und ich verstand um wie viel schwerer zu ertragen es für sie sein musste, diesen Strudel von Seelenqual von sich abzuhalten. Die wilde Verzweiflung griff auf mich über und durchdrang meine Schilde, als wären sie aus Sand. Da fiel mir ein, was Yonann mir geraten hatte und ich rief mir die Erinnerung an Aridys ins Gedächtnis, die ich mir nach unserer Pause in der Klamm als eine der schönsten überlegt hatte. Wir waren in unserem zwölften Lebensjahr gewesen und durften auf dem Drachenfest zum ersten Mal mit unseren Brüdern und Schwestern und anderen Verwandten den Königsdrachen tanzen. Als wir am Schluss als letztes Paar auf den Schultern der Vordertänzer standen, applaudierte uns die ganze Halle, weil uns kein Fehler unterlaufen war. Wir beugten gleichzeitig die Knie und verneigten uns und als wir wieder herabgestiegen waren, umarmten wir uns und drehten uns übermütig im Kreis. Meine Schwester lachte über das ganze Gesicht, ihre silberweiße Haarflut wehte hinter ihr her und sie leuchtete förmlich von dem Glück, das sie ausstrahlte. Bei der Erinnerung kam mir jedes Detail wieder, ich spürte den Schweiß unter meinem Festgewand herabrinnen, roch das Wachs von den Tausenden von Kerzen in den Kandelabern hoch über uns, vermischt mit dem Geruch von Schweiß und Duftwässern und von den Speisen auf den Tischen am Rand der Halle, hörte das Stimmengewirr und die verhaltene Musik von der Musikerempore. Für einen unendlichen Moment war ich dort, in dem hell erleuchtetem Festsaal des Drachenschlosses und verlor mich in der Erinnerung, so dass ich nichts anderes mehr wahrnahm – bis etwas Seltsames und Unerwartetes mich herausriss, so dass ich mich benommen neben Yonann wieder fand, die mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Der Traumbruder war noch bei uns, aber er bedrängte uns nicht mehr, sondern verhielt nur regungslos bei uns, und als ich mich ihm vorsichtig öffnete, merkte ich, was es war, das mich so verblüfft hatte. Er weinte.

Yonann fasste sich zuerst. Vermutlich ertrug sie die lautlose, qualvolle Trauer des Traumbruders noch weniger als ich und mir schnitt das stille hoffnungslose Weinen schon förmlich ins Herz. Sie streckte eine Hand nach ihm aus und diesmal ließ der Traumbruder sie herankommen und wich ihr nicht aus. Mir schien als ob er sie ignorierte, ja, gar nicht wahrnahm, so tief war er in seiner bitteren Trauer versunken. Yonann legte einen Arm um ihn und als er sich nicht regte, bedeutete sie mir, das gleiche zu tun. Es war ein höchst seltsames Gefühl, als ob ich einen kalten Schatten berühren würde, ohne Substanz und doch deutlich spürbar.
*Was hat er? Was ist geschehen?*
*Ich weiß es nicht genau. Deine Erinnerung – vielleicht war sie zu stark. Jetzt ist ihm alles noch einmal neu zu Bewusstsein gekommen.*
*Was alles?*
*Dass Aridys fort ist. Dass er allein ist.*
*Aber wir sind doch da. Kann er uns nicht wahrnehmen?*
*Er kennt das doch überhaupt nicht. Er hat immer nur Aridys gekannt, er weiß gar nicht wie andere Menschen sind... Er kann nur deine Erinnerungen sehen, alles andere sieht er, aber versteht es nicht.*

Der Traumbruder stöhnte dumpf vor sich hin und ballte sich zusammen, bis nur noch die wirren, zotteligen weißen Haare von ihm sichtbar waren.
*Oh Yl. Und jetzt?*
*Wir müssen bei ihm bleiben. Solange es geht jedenfalls. Vielleicht können wir ihn beruhigen. Ich will es auf jeden Fall versuchen.*

Yonann rückte noch wenig näher an den Traumbruder heran, legte ihre Arme um ihn und versuchte ihn beruhigend zu wiegen, ganz sachte und langsam. Nach einer Weile bewegte sich der Traumbruder mit ihr, aber ließ sich sonst nichts anmerken, dass er ihre Gegenwart spürte, oder dass sie versuchte ihre Ruhe und Wärme auf ihn zu übertragen. Schließlich überwand ich mich und legte auch meine Arme um ihn, so dass er sich zwischen uns befand, gehalten von unseren Armen, und öffnete mich ihm erneut. Eine Weile geschah gar nichts, ich fühlte nur seine Trauer wie einen steten schwarzen sanften Regen niedergehen. Dann merkte ich, wie sich etwas von ihm zu mir vortastete, suchend, aber dabei zögernd und scheu. Erst dachte ich, dass er nach mir suchte, aber dann verstand ich, dass er noch einmal an der Erinnerung an Aridys teilhaben wollte, obwohl es ihn offensichtlich schmerzte. Ich musste mich überwinden, aber als ich erst einmal angefangen hatte, fiel es mir zusehends leichter. Ich rief mir wieder vor Augen, wie ich mit Aridys oft in einer versteckten Ecke des Schlossparks gespielt hatte, als wir klein waren, sie in einem hellen Sommerkittel, einen Kranz aus Gänseblümchen in ihrem Haar, den ich ihr gemacht hatte. Ein paar Mal geschah es, dass unsere Zwillingsväter ganz unverhofft dazu kamen, wenn sie sich mal von der Regierungsarbeit freimachen konnten, und dann veranstalteten wir ein Wettrennen, bei dem jeder von ihnen einen von uns auf die Schultern nahm. Und dann, als wir schon älter waren, übte ich wie ein Besessener das Lautespielen und wollte ihr ständig etwas vorspielen. Sie hörte mir immer geduldig zu, egal was oder wie gut ich spielte, oft mit geschlossenen Augen, wie in tiefer Meditation. Und so ging es weiter, Aridys in jeder Phase ihres Lebens mit mir, mal schlafend, mal wachend, mal sanft lächelnd oder laut lachend, mal zärtlich besorgt und mal übermütig verschmitzt. Und obwohl die Erinnerungen auch zunehmend in mir eine bittere Trauer und Wehmut hervorriefen, merkte ich doch, wie sie den Traumbruder zu beruhigen schienen, wie ein Schlaflied, dass ihn immer mehr einlullte. Irgendwann muss ich auch eingeschlafen sein, ohne dass einer von uns es merkte.

Gegen Mittag des nächsten Tages gerieten wir in die Schafherde. Den halben Vormittag waren wir quer durch einen Wald gegangen, nachdem der Weg, der an der Ruine vorbei in das nächste Tal führte, am Waldrand in einen anderen Weg mündete, der in eine für uns falsche Richtung führte. Der Wald aus Buchen, Eichen und Ahornbäumen in ihrem leuchtendem Herbstlaub war leicht zu durchqueren gewesen, die Bäume standen nicht allzu dicht beieinander und es gab immer wieder schmale Pfade, die vermutlich von Kaninchen oder Dachsen stammten, denen wir folgen konnten. Der Boden war von einer dicken Schicht Laub bedeckt, das sich schon seit Jahrhunderten angesammelt und unberührt liegen geblieben zu sein schien, bis es im Erdboden versank und eins mit ihm wurde. Auf der Karte sah es aus, als könnte der Wald in einigen Stunden durchquert werden und ich vertraute darauf, dass wir uns mithilfe der Sonne und meinem inneren Suchdrang, der mich stetig nach Südwesten zog, orientieren konnten ohne uns zu verlaufen. Ich machte mir mehr Sorgen, dass wir einem einzelgängerischen und aggressiven Keiler oder von der Brunft verrückten Hirsch begegnen könnten, deren heiseres Röhren wir mehrfach im Laufe der letzten Nacht gehört hatten. Doch außer Vögeln und Eichhörnchen und einmal einem Hasen, der uns misstrauisch beäugte, sahen wir nichts in dem Wald. Und dann, als ich schon begann mir Gedanken zu machen, ob wir nicht doch im Kreis gelaufen waren, endete der Wald ganz unvermittelt, so schnell, dass wir mitten in der Schafherde standen, ohne dass wir sie vorher gesehen hatten. Die Herde hatte es sich zur Mittagszeit auf der immer noch saftig grünen Wiese bequem gemacht, die meisten Tiere hatten sich hingelegt um gemächlich wiederzukäuen, als unser Erscheinen sie aufstörte. Überall um uns herum rappelten sich Schafe auf und drängten auf uns zu, glotzten uns groß aus gelben Augen an und blökten was das Zeug hielt. Es wurden immer mehr, von allen Seiten kamen sie gelaufen. Wenn wir sie früher gesehen hätten, wären wir im Wald geblieben und an einer anderen Stelle herausgegangen, doch nun war es zu spät um umzukehren, die Schafe wären uns nur in den Wald gefolgt. Es blieb uns nur übrig uns langsam einen Weg durch die Herde zu bahnen, so gut es ging. Aber schon kam das nächste Problem wütend bellend auf uns zugefegt, drei Hütehunde, zottig und geifernd, jeder von ihnen so groß wie ein ausgewachsenes Schaf, mit weißblitzenden Fangzähnen. Yonann und ich nahmen Benkal zwischen uns, der nervös den Kopf warf, und blieben still stehen, während die Hütehunde knurrend und zähnefletschend einige Meter vor uns hin und her schlichen. Ich wünschte, ich hätte einen Wanderstock oder dicken Knüttel dabei und überlegte, ob ich vorsichtshalber meine Armbrust klarmachen sollte, die in einer Ledertasche an Benkals Schulter hing. Mit Hütehunden ist schon in Ylkan nicht zu spaßen, sie sind darauf abgerichtet die Herde gegen alle Gefahren zu verteidigen, seien es Wölfe, Lämmergeier oder gar Schafdiebe. Aggressives Benehmen reizt sie noch mehr, aber noch gefährlicher ist es Angst zu zeigen. Ich legte eine Hand auf Yonanns Schultern über Benkals Hals hinweg. Sie war blass geworden und bemühte sich vergeblich, sich nichts anmerken zu lassen.
„Was machen wir nun?“ fragte sie halblaut. Beim Klang ihrer Stimme knurrten die Hunde noch lauter. Einer von ihnen schnappte nach einem Schaf, das sich zu weit vorgewagt hatte und als es blökend auswich, drängte die übrige Herde auch weiter zurück.
„Ich weiß es auch nicht. Ich hoffe, dass der Hirt in der Nähe ist. Wenn er grade irgendwo seinen Mittagsschlaf hält... dann haben wir Pech gehabt.“
Yonann blickte ängstlich auf die Hunde. „Wenn wir ganz langsam weitergehen...?“
„Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben. Hast du dein Messer?“
„Meinst du, das wird uns was nutzen?“
„Besser als nichts.“
Als wir beide langsam einen Schritt vorwärts machten, den widerstrebenden Benkal zwischen uns, fingen die Hunde erneut an wild zu bellen. Wir bewegten uns langsam aufeinander zu, sie, die sich duckten und wieder hochsprangen und dazu aus vollem Hals bellten und knurrten und wir, die wir langsam, Schritt für Schritt vorwärts gingen, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ich spürte wie mir der Schweiß ausbrach. Meine Angst mischte sich mit Ungeduld ob dieses neuen Hindernisses, die sich zur Wut steigerte. Aber seit wir uns auf die Reise begeben hatten, reagierte ich immer ungeduldiger und heftiger auf alles, was mich irgendwie daran hinderte, zu meiner Schwester zu gelangen. So auch hier. Auf einmal war mir, als würde sich mein Gesichtsfeld eintrüben und dunkler werden, trotz der Sonne, die auf uns nieder brannte. Ein Rauschen erfüllte meine Ohren und etwas Dunkles regte sich, hinter mir, aber nicht im körperlichen Sinne. Dann war er da, der Traumbruder, als ob er aus mir herauskäme und mich einhüllen wollte. Seit ich am Morgen aufgewacht war, hatte ich ihn in mir gespürt, tief im Innersten meines Bewusstseins, wie einen kleinen dunklen Fleck, eine fast unsichtbare Präsenz, kaum wahrnehmbar, aber doch unleugbar vorhanden. Yonann meinte, er wäre durch die Erinnerungen angelockt worden und hätte sich nunmehr bei mir eingenistet, so wie er es wohl bei Aridys gemacht hatte. Vielleicht versuchte er sich in seiner Verzweiflung der Illusion hinzugeben, ich wäre eine Art Ersatz-Aridys, oder eine Aridys, die ihn im Moment nicht wahrnehmen und sich mit ihm austauschen könne. Seine Anwesenheit beunruhigte mich zuerst, aber weil er sich unverändert still verhielt, gewöhnte ich mich schließlich daran. Yonann konnte sich nicht klar werden, ob sie dieses neue Verhalten des Traumbruders gutheißen sollte oder nicht, aber es ließ sich so oder so nichts daran ändern. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich es übers Herz bringen könnte, ihn wieder zu vertreiben, selbst wenn ich gewusst hätte, wie ich das anstellen sollte. Auf jeden Fall hatten wir ihn so in gewisser Art unter Kontrolle.
Und nun erfuhr ich aus erster Hand, dass er nicht nur an meinen Erinnerungen, sondern auch an meinen Gefühlen teilhatte. Meine Angst, die ich nicht vor ihm verbergen konnte, erregte bei ihm erst Misstrauen und Ärger und dann rasenden Zorn. Dieses mein Gefühl von bitterer und frustrierter Verzweiflung war ihm wohl nur zu gut vertraut und reizte ihn umso mehr, nachdem er endlich nach so langer Zeit eine Art Frieden gefunden hatte. Das Blöken der Schafe und das geifernde Knurren der Hunde, das sich mehr und mehr mit Jaulen und Winseln mischte, wurde immer undeutlicher in dem Rauschen, das meine Ohren erfüllte. Yonann sagte etwas, aber ich konnte sie nicht hören. Sie wiederholte es lauter, und dann schrie sie schon fast, aber da war ich schon einige Meter von ihr weg.
„Yenda! Yenda, was ..!“
Und dann war da eine andere Stimme, die eines Mannes, heiser und brüchig, die etwas auf ylkanisch schrie.
„Was macht ihr da?! Lasst meine Tiere in Ruhe! Zum Karbellin mit euch! Habt ihr den Verstand verloren?“
Ich blieb stehen und sah mich um. Das Dunkel um mich hatte sich wieder aufgelöst und das Rauschen in meinen Ohren war verstummt. Die Hunde wichen mit eingezogenen Schwänzen vor mir zurück und fletschten nur noch schwach die Zähne. Dann kam Yonann zu mir, atemlos mit aufgerissenen Augen und packte mich an den Armen.
„Yenda! Was war das? Was ist mit dir?“
„Ich weiß es nicht, ich... das war nicht ich...“
„Was wollt ihr hier? Macht, dass ihr wegkommt!“ brüllte es hinter uns. Ich wandte mich um und zog Yonann an mich, die sich unwillkürlich fester an mich geklammert hatte.
Der alte Mann – es musste wohl der Schafhirte sein – bahnte sich fluchend und schimpfend mit seinem langen Hütestock und etlichen Fußtritten einen Weg durch die Schafherde, bis er endlich keuchend und wutzitternd vor uns zum stehen kam. Seine Oberkleidung, Wollzeug und Stiefel waren schon sehr abgetragen und zerlumpt und schienen schon seit langem nicht mehr gewaschen worden zu sein. Dem Geruch nach, der von ihm ausging, hatte auch der Schäfer selbst schon lange kein Bad mehr genommen. Er war sehr mager und die blassblauen Augen in dem runzligen Gesicht waren blutunterlaufen. Unter der schäbigen Wollmütze auf seinem Kopf sahen nur ein paar spärliche graue Haarsträhnen hervor. Als ich ihn nur weiter anstarrte, stampfte er wütend mit dem Hirtenstab auf den Boden. Der Stab zitterte bedenklich in seiner Faust. Mir war, als wäre mir mit einem Mal mein ganzes Ylkanisch entfallen.
„Traykan-Yl – Yls Segen...“ brachte ich schließlich heraus. Der Schäfer starrte uns aus verengten Augen an und stieß noch einmal den Stock auf den Boden. Während ich noch nach Worten suchte, hielt ihm Yonann ihre Hand mit der Handfläche nach oben hin und lächelte ihn sanft an.
„Friedliche Wege, Taro“ sagte sie ruhig. „Wir wollten euren Schafen nichts tun.“
Der Schäfer mahlte mit dem Unterkiefer und zog hörbar die Luft durch die Zähne. Sein Atem rasselte. Als ich zum Reden ansetzte, spuckte er ärgerlich zur Seite aus.
„Von drüben seid ihr, he? Nohkresisches Pack!!“ Sein Nohkrei war erstaunlich gut. Er umklammerte weiter den Stab, als wollte er Kraft sammeln um uns damit eins über den Kopf zu geben, doch als ich unwillkürlich eine abwehrende Bewegung machte, hielt Yonann mich zurück. Der Schäfer grinste und sah lauernd zwischen uns hin und her.
„Besser ihr fortkommt“ stieß er unwirsch hervor.
Yonann sah mich an und zuckte die Schultern. Benkal war einige Meter hinter uns stehen geblieben und wartete geduldig mit hängendem Zügel. Wir nahmen ihn zwischen uns und bahnten uns einen Weg durch die Herde, ohne uns noch einmal nach dem Schäfer umzusehen. Einer der Hunde wollte knurrend hinter uns her, doch ein gefluchter Befehl und ein Stockstampfen des Schäfers ließ ihn wieder umkehren. Aber nach ein paar Schritten rief er wieder hinter uns her.
„Warten.. warten noch! Nakall Karbellin! Warten ..!“
Ich wollte ihn erst ignorieren, doch Yonann hielt mich zurück. Der Schäfer kam nahe bei uns zum stehen und atmete rasselnd. Er legte den Kopf schief und starrte mir von der Seite ins Gesicht.
„Was ist denn noch?“ fragte ich ungeduldig. Meine Wut hatte sich immer noch nicht ganz gelegt. Der Schäfer lachte meckernd.
„Zum Windstal? Ihr geht?“
„Windstal? Liegt das in dieser Richtung?“
Der Schäfer nickte heftig und wedelte mit seinem Stab nach Westen.
„Da drüben, Weg zum Windstal. Hinter Wiese. Dann kommt Strasse und bei Strasse kommt Weg. Sehr schmal. Direkt da drüben.“
„Dann wollen wir wohl dahin.“
Der Schäfer stierte mich weiter an und mahlte mit dem Unterkiefer.
„Danke für die Auskunft“ sagte ich und wandte mich wieder ab. Yonann sah mich vorwurfsvoll an.
„Warte doch ... Karbellin .. warum so schnell?? Nur einen Moment!“
Ich drehte mich ihm wieder zu. Der Schäfer starrte mir wieder ins Gesicht.
„Bist du aus Familie? Familie von Ylma-an vom Windstal?“ fragte er endlich.
Ich musste an mich halten, um meine Verblüffung nicht zu zeigen.
„Warum willst du das wissen?“
„Du siehst aus wie Familie. Wie Ylmasohn. Bist du?“
„Und wenn? Was geht es dich an? Was hast du mit ihnen zu schaffen – den Ylma-an?“
Der Schäfer sah zur Seite, dann zurück um zu sehen, was seine Hunde anstellten und stieß wieder seinen Stab auf den Boden. Als ich wieder Anstalten machte zu gehen, hielt Yonann mich zurück.
„Ist denn irgendetwas – geschehen mit den Ylma-an? Etwas, das wir wissen sollten?“ fragte sie sanft. Der Schäfer stierte sie an und saugte an seinen Schneidezähnen.
„Ich weiß nicht? Ich dachte ihr wisst. Ihr geht dahin. Früher waren Leute vom Windstal gut, oft gesehen, helfen viel. Aber jetzt nicht mehr. Etwas stimmt nicht, ich weiß nicht. Ich kann nicht dahin nachsehen. Ich kann Tiere nicht allein lassen, Kühe, Ziegen, auch nicht mit Hunden. Und melken, jeden Tag, und füttern, ganz alleine, niemand da. Ein Jahr schon, ganz allein, niemand da. Junge Ylmun sagen, sie kommen helfen, dann nicht wieder kommen. Vielleicht wollen sie nicht mehr? Ich weiß nicht warum! Was ist passiert?! He! Sagt mir, was ist geschehen?“ Der Hirte redete sich immer mehr in Rage, bis er förmlich am ganzen Leib flog.
„Mal langsam. Seit einem Jahr? Wollten welche vom Windstal für dich arbeiten? Und jetzt nicht mehr?“
„Sag ich doch!“ Der Schäfer umklammerte seinen Stab mit beiden Händen. „Die Jungylmun, die sollen lernen bei mir. Und dann gehen sie zurück ins Windstal. Sagen, sie kommen bald wieder. Aber sie kommen nicht wieder. Und ich kann nicht gehen dahin. Zwei Tage dahin! Ich habe Schafe - und andere Tiere zuhause. Als Mutter Arlan kommt im Sommer zum Scheren, sie sagt, seit Yls letztem Viertel vom Windstal niemand da. Sie sind alle fort!!“
„Wenn wir zum Windstal kommen, sehen wir nach, was passiert ist“ sagte Yonann beruhigend. Der Schäfer schnaufte und spuckte noch einmal aus.
„Das müsst ihr. Es ist nicht recht. Ein Jahr lang allein! Was soll ich machen? Sie haben versprochen ...“
„Ja, es muss sehr schwer für dich sein, und das mit deinem Rückenschmerz“ sagte Yonann beinahe beiläufig. Der Schäfer nickte heftig und rieb sich das Kreuz.
„Rückenschmerz, ja, auch, jeden Tag! .. aber wie ..?“
„Können wir auf dem Weg zum Windstal irgendwo übernachten?“ unterbrach ich ihn. Der Schäfer starrte mich verwirrt an. „Gibt es eine Schutzhütte oder einen Heuschober am Weg?“
Der Schäfer blickte in die Richtung, die er uns zuvor gewiesen hatte, wo der Weg zum Windstal verlaufen sollte, und wiegte den Kopf. Schließlich zuckte er die Achseln.
„War lange nicht da. Mein Hof ist weit weg. Aber.. doch, da ist Heuschober, bei Weide am Weg. Ich weiß nicht wo genau.“
Yonann holte ihren Kräuterkasten aus einer der großen Packtaschen und nahm ein kleines Säckchen heraus, das sie dem Schäfer hinhielt.
„Goldtränentee“ sagte sie knapp. „Mehr habe ich leider nicht mit. Zwei Prisen für zwei Handvoll Wasser, dann kochen und ziehen lassen ...“
„..bis Tee dunkel ist“ fuhr der Schäfer fort, während er wie hypnotisiert auf das Säckchen starrte. „Goldtränentee, bei Yls Atem! Dunuyee bringt mir früher immer, aber jetzt lange nicht mehr...“
Yonann starrte ihn verblüfft an. „Dunuyee..?“
Der Schäfer schien mit einem Mal zu sich zu kommen. Er nahm das Säckchen und roch daran, verbeugte sich stumm vor Yonann und wandte sich ab.
„Grüßt Familie im Windstal, wenn nicht alle tot sind“ sagte er noch über seine Schulter, dann humpelte er eilig fort. Yonann stand wie angewurzelt, eine steile Falte zwischen ihren Augenbrauen.
„Dunuyee .. Yenda, hast du das auch gehört?“
„Ja, so hörte es sich an. Was ist daran besonderes? Es ist ein Name, oder?“
„Ein sehr ungewöhnlicher Name. Ich kenne nur eine Dunuyee, und die hat vor fast dreihundert Jahren gelebt. Weißt du das nicht? Die letzte Kerlil von Hylmur?!“
„Oh, die. Ja, ich hab mal ein paar Balladen über sie gehört. Als sie umkam, soll das ganze Königshaus von Hylmur ausgestorben sein. Heute ist es ja ein Priesterstaat.“
„Sie war eine ungewöhnliche Kerlil. Als Kind habe ich sie sehr bewundert. Und ich habe noch nie von jemandem gehört, der nach ihr benannt wurde.“
„Wahrscheinlich haben sich hier ein paar Auswanderer aus Hylmur angesiedelt. So weit ist das Land nicht von hier entfernt. Vielleicht treffen wir diese Dunuyee, falls sie auch im Windstal lebt.“
„Das Windstal. Bist du sicher, dass wir dahin müssen? Ist es auf der Karte eingezeichnet?“
„Nein, es liegt zu weit östlich, die Sommerhofler sind wohl nie bis dahin gekommen. Aber wenn dieser Weg auch weiterhin in diese Richtung führt, dann ja, müssen wir wohl dahin. Vielleicht ist meine Schwester in dem Tal oder in der Nähe.“
Wir fanden die „Strasse“ – kaum mehr als ein mit Steinen markierter und mit Kies und Schotter ausgestreuter breiter Weg – tatsächlich hinter der Wiese. Nach einigen Minuten zweigte dann auch ein sehr schmaler Pfad davon ab. Er wirkte an der unmarkierten Abzweigung eher wie ein Abstellplatz für Karren für eine Pause, wenn die Karrenspuren nicht doch beinahe unmerklich weiter in die Heide hineingeführt hätten, in die für mich richtige Richtung. Nach einigen Metern wurden die Karrenspuren deutlicher. Benkal zog es vor in der Mitte des Pfades zu laufen und wir gingen links und rechts neben ihm her, unsere Hände auf seinem Widerrist verschränkt. Seit ich Yonann kenne, fühle ich mich am wohlsten, wenn ich ihre Hand halten kann, und ihr scheint es ähnlich zu gehen.
„Warum hielt er dich für einen Verwandten? Oder was meinte er mit „Ylmahn“?“
„Ylma-an, das ist der Plural von Ylma. Ich glaube, er meint ich sehe wie ein Verwandter von einem Paar Zwillingsschwestern aus. Und dann gibt es wohl noch ein Paar Zwillingsbrüder, Ylmun – er sagte, junge Ylmun, also vielleicht die Söhne von einer der Schwestern. Wir werden es ja sehen, wenn sie nicht wirklich verschwunden sind.“
„Ylmun – Ylma-an – Ylmu -“ zählte Yonann stirnrunzelnd auf. „Ich hoffe ich kann mir das alles mal merken ... Gibt es noch mehr Wörter, die aus ‚Ylm’ gebildet werden?“
„Ylmen, das ist ein gemischtes Paar. Und Ylminan, das ist das Kind von einem Zwilling, für das der andere Zwilling die Patenschaft übernimmt. Meistens ist das das dritte Kind oder in meiner Familie das dritte Zwillingspaar, bei den ersten beiden sind jeweils Mutter und Vater des königlichen Elternteils die Paten.“
„Oh. Dann bist du Rodans Ylminan? Ach, nennt er dich deswegen immer Sohn?“
„Tut er das? Kann sein …“
Yonann überlegte weiter. „Und das Wort, das der Schäfer benutzt hat, was bedeutet das? Karlle- oder so ..“
Ich grinste. „Karbellin oder besser Karbellyl-ehn. Das solltest du besser nicht lernen. Es ist ein ziemlich übles Schimpfwort. In Ylkan ist es schon fast eine Blasphemie, aber wahrscheinlich sind die Sitten hier etwas rauer.“
„Jetzt machst du mich neugierig.“
„Nun, es heißt ‚Yls … Abort’. Naja, ein wirklich übler Ort, sumpfig, faulig .. Wo man es kaum aushalten kann.“
Yonann sah verblüfft drein. „Aber Yl ist doch ein Gottespaar – wie kann es ...“
„Das ist es eben, darum ist das Wort so verpönt. Am besten merkst du es dir nicht.“
Yonann grinste. „In Baleh gibt es auch wirklich heftige Schimpfwörter. Krongbal zum Beispiel..“
„Ah. Das hab ich schon mal gehört. Bals Eier, richtig?“
Yonann lachte laut. „Und woher weißt du das?“
„Aus einer Chronik aus dem 1000-Monde-Krieg. Da war eine balehsische Königin, die ständig diesen Ausdruck benutzte. In einigen Abschriften war das Wort sogar unkenntlich gemacht.“
Yonann schnaubte verächtlich durch die Nase. „Nicht in den balehsischen Schriften. Aber Bal wird nicht überall so verehrt wie bei uns, als Fruchtbarkeitsgott.“
„Ich weiß. Mir gefällt der balehsische Bal auch besser als die anderen. Vor allem der von Balsuhn, der wirkt immer so unheimlich auf mich.“
„Der alte Mann mit dem Feuermantel und der Eiskrone? Den mochte ich auch nie. Als Kind konnte ich nie begreifen, dass es derselbe Bal sein sollte wie bei uns.“
„Den Balsuhnern kommt euer Bal vermutlich auch seltsam vor.“
Eine Weile gingen wir so einträchtig nebeneinander her und folgten dem Karrenspurenweg. Als wir an eine Stelle kamen, wo ein schmaler Bach den Weg querte, folgten wir dem Wasserlauf durch das Gestrüpp und machten auf einer kleinen Wiese Rast. Benkal soff ausgiebig aus dem Bach und begann auf der Wiese zu weiden, was mir ganz lieb war, weil wir nicht mehr allzu viel Futter für ihn übrig hatten. Wir suchten loses Fallholz und entzündeten ein kleines Feuer, denn es war kühler geworden und die Sonne, die am Morgen noch so hell und warm geschienen hatte, wurde zusehends von dicken grauen Wolken verdeckt, die für den Abend Regen oder vielleicht sogar Schnee ankündigten.
Yonann wartete bis nach dem Essen, dann hielt sie es nicht mehr aus.
„Yenda.. was genau ist passiert bei der Schafsherde? War es der Traumbruder?“
„Ich weiß es nicht genau. Wie sah es denn aus?“
Sie zuckte die Schultern. „Du bist wie blind auf sie losgegangen und sie bekamen Angst vor dir. Ich dachte, ich hätte den Traumbruder gesehen, neben dir oder an dir, aber ich bin mir nicht sicher.“
„Und jetzt? Kannst du ihn wahrnehmen – an mir?“
Sie starrte mich an und kniff die Augen zusammen.
„N..nein .. ich bin mir nicht sicher.“
Ich nahm ihre Hand in ihre und spürte, wie sie sich mir öffnete, zu mir vortastete. Zuerst blieb ihr Gesicht ausdruckslos, während sie sich konzentrierte, dann zuckte sie zusammen und verzog ihren Mund, als hätte sie auf etwas Bitteres gebissen.
„Er ist in dir drin, ganz tief. Und er verhält sich sehr still. Ich kann ihn nur spüren, weil ich sein – sein Muster kenne. Weil ich weiß wie er sich anfühlt.“
„Nun, ich spüre ihn auch. Und da auf der Wiese – da kam er hervor, weil er meine Wut spürte und dadurch selber wütend wurde.“
Yonann saugte an ihrer Unterlippe. „Yenda .. hast du das Gefühl, er könnte gefährlich werden? Für dich?“
„Gefährlich ja, aber für mich – ich glaube es nicht.“ Das stimmte, irgendwie glaubte ich zu wissen, dass der Traumbruder mir nichts antun würde. Zumindest nicht absichtlich, aber er hatte sich kaum unter Kontrolle.
„Glaubst du denn, du kannst ihn zurückhalten, wenn er – aus dir ausbricht?“
„Ich weiß es nicht. Es wird sich zeigen. Wir können jetzt nichts mehr daran ändern, oder?“ Ich sah die Sorge in ihrem Gesicht und nahm auch ihre andere Hand. „Denk nicht mehr darüber nach. Wir müssen es auf uns zukommen lassen, anders geht es nicht.“
Sie nickte knapp und begann unsere Essensachen wegzuräumen, während ich meine Laute hervorholte und stimmte. Die Hitze des Feuers verbunden mit der kühlen feuchten Luft über der Wiese bekamen ihr natürlich überhaupt nicht, aber ich wollte unbedingt noch üben, solange noch Gelegenheit dazu war. Es half mir Ordnung in meinen Kopf zu bekommen und lenkte mich für einige Zeit von dem inneren Drang ab, der mich weiter hin zu meiner Schwester zog, den Drang, den ich nicht bewusst wahrnehmen und erkennen konnte, aber der dennoch fortwährend spürbar war, wie ein leichter Kopfschmerz, der sich immer wieder verlagerte oder ein Ziehen in einem Gelenk. Und der von Tag zu Tag stärker wurde, je näher ich meiner Schwester kam.

Einige Zeit nachdem wir aufgebrochen waren, wurde der Pfad zusehends steiler und unwegsamer. Schließlich erreichten wir das Ende des Tals und folgten dem Weg durch eine enge Schlucht zwischen zwei Bergen. Benkal bewältigte den Anstieg ohne Mühe und ich fühlte mich auch noch recht frisch, aber Yonann schien das Klettern immer schwerer zu fallen. Die Erschöpfung war ihr deutlich anzusehen, ihre Wangenknochen zeichneten sich scharf unter ihren Augen ab und die kleine steile Falte über ihrer Nasenwurzel blieb immer länger sichtbar. Ich verlangsamte das Tempo etwas und versuchte ihr so gut es ging zu helfen, aber die dichten Wolken über uns ballten sich immer mehr zusammen und es wurde früh dunkel. Ich fürchtete, dass wir in der vorzeitigen Dunkelheit den Unterstand nicht erreichen, geschweige denn überhaupt finden konnten, wenn wir uns nicht beeilten.
Hinter der Schlucht öffnete sich das nächste Tal, das sich aber kaum überblicken ließ, weil zwischen den Bergen das Gelände in sanften Hügeln anstieg und der Pfad hart am Bergrand entlang am Fuß der Hügel weiter nach Süden führte. Als schließlich gegen Abend ein Regenschauer einsetzte, der Vorbote des Sturms, der sich langsam zusammenbraute, bekam ich es fast mit der Angst zu tun. Doch dann erreichten wir die Spitze eines Hügelausläufers und dort, ein Stückchen vom Weg entfernt an den Hang geschmiegt, lag die Schutzhütte.
Sie war grob aus Baumstämmen und Balken zusammengezimmert, fensterlos, und mit mehreren mit Pech bestrichenen Planen gedeckt. Ein schmaler Weg, kaum mehr als ein Kaninchenpfad, führte über die Wiese hinauf. Benkal, dem das nahende Unwetter überhaupt nicht zu behagen schien, strebte sofort auf die Hütte zu und rutschte prompt auf der aufgeweichten Erde der Wiese aus. Schließlich kamen wir bei der Hütte an und fanden den einzigen Eingang auf der dem Wind abgewandten Seite, nicht mehr als eine rechteckige Öffnung, groß genug für Heuballen, die von innen mit einer Plane verschlossen werden konnte. Im Inneren war es stockdunkel, so dass ich erst unsere Öllampe entzünden musste. Dann trat ich ein und hielt die Lampe hoch über meinen Kopf. Benkal drängte ungeduldig an mir vorbei und blieb dann plötzlich stehen, die langen Ohren lauschend nach vorne gerichtet. Er streckte die Nase nach vorne und witterte und rührte sich nicht von der Stelle.
Yonann und ich blickten uns verblüfft an, dann trat sie einen Schritt vor und sah sich suchend um.
„Yenda .. ich glaube, hier ist schon jemand. Ich spüre etwas, aber ganz schwach.“
„Nun, warum nicht? Es ist doch eine Schutzhütte.“
„Ja, aber irgendetwas .. irgendetwas stimmt nicht.“
Benkal blieb weiter stehen, anscheinend war seine Furcht vor dem Unbekannten im Dunkeln größer als das Verlangen nach dem Heu, das in Ballen am anderen Ende der Scheune gestapelt war. Ich trat weiter vor und leuchtete mit der Lampe ins Dunkel.
„Hallo? Ist das jemand?“
Aus dem Dunkel war kein Laut zu vernehmen, aber dann zog Yonann scharf die Luft zwischen die Zähne und zeigte zur Ecke der Hütte, die uns gegenüberlag. Und dann sah ich es auch, ein dunkles Bündel am Boden, das auf ersten Blick wie ein Haufen Kleider oder Decken aussah. Im Näherkommen sah ich noch an einem Ende des Bündels einen Schopf wirrer, schmutziggrauer Haare und am anderen zwei nackte, verkrümmte und sehr schmutzige Füße.
„Ist sie tot?“
Ich konnte nicht das geringste Anzeichen sehen, an dem Yonann erkannt hatte, dass es eine Frau war, die dort lag, aber sie hat irgendwie einen besonderen Sinn dafür und irrt sich nie.
„Nein, ich glaube, sie schläft nur. Aber ich schau mal nach.“
Ich kniete vorsichtig bei der Gestalt nieder und brachte die Lampe näher an den Kopf. Die Frau lag mit dem Rücken zu uns. Ich konnte keinen Atem hören und so berührte ich sie mit der Hand ganz sachte am Hals, um zu prüfen ob sie noch lebte. Beinahe sofort kam Leben in die Gestalt. Ich spürte wie sich ihr Körper unter meiner Hand abrupt versteifte, dann stützte sich die Frau mit den Händen ab und richtete sich auf, so schnell, dass ich kaum Zeit hatte zurückzuweichen. Yonann keuchte vor Schreck und ich konnte kaum die Lampe stillhalten. Die Frau sah uns aus schmalen, tiefschwarzen Augen an. Ihr Gesicht mit den breiten Wangenknochen und der kleinen Nase war völlig ausdruckslos und bar jeder Überraschung oder gar Furcht. Es kam mir so vor, als würde sie uns gar nicht richtig wahrnehmen.
„Euer Vergeben, Tara“ sagte ich schließlich, auf nohkrei, da ich sah, dass die Frau keine Ylkanerin sein konnte. „Wir wollten euch nicht erschrecken.“
Sie sah mich an, immer noch ausdruckslos, als müsste sie erst gründlich überlegen, was ich ihr sagen wollte und warum. Aber immerhin lächelte sie jetzt leicht. Je länger ich sie ansah, desto mehr verstärkte sich ihr Lächeln, wie bei einem Kleinkind, das nicht recht weiß, wie es auf einen fremden Erwachsenen reagieren soll. Yonann kniete neben mir nieder und wartete, bis die Frau sich ihr zuwandte, dann streckte sie langsam und vorsichtig eine Hand aus und berührte die Frau sachte an der Wange. Sie presste ihre Lippen zusammen und blähte die Nasenflügel, wie immer wenn sie ihre Clangabe bewusst anwendet. Die Frau lächelte auch sie vage an und legte ihre Hand auf Yonanns.
„Ich glaube... oh Yenda, ich fürchte, sie ist krank.“
„Ist sie verwirrt?“
„Nein. Oder ja, aber es ist mehr als das, ich glaube, es ist das Weiße Vergessen. Wenn Menschen immer mehr ihre Erinnerungen verlieren.“
„Oh. Hat sie deshalb keine Angst?“
„Sind deine Zwillingsväter auch hier?“ fragte die Frau wie beiläufig. Ihre Stimme war eigenartig tonlos, bar jeden Gefühls, und sie sprach beinahe akzentfreies nohkrei. Sie sah mich weiter an mit dem freundlichen, zerstreuten Lächeln, als wollte sie mir gerne einen Gefallen tun, aber wüsste nicht genau, wie sie es anstellen sollte. Ich schluckte.
„Nein.. Nein, meine – mein Vater und mein Onkel sind nicht hier.“
Damit schien sie erst einmal zufrieden zu sein. Ich wartete noch ein wenig, aber sie blickte weiter vage lächelnd an mir vorbei und schien sich zusehends in sich selbst zu verlieren. Yonann beugte sich vor und drückte die Frau sanft zurück, bis sie wieder auf dem Stroh lag, dann deckte sie sie wieder zu. Die Frau schloss prompt die Augen, wie ein Kind, doch dann griff sie nach Yonanns Hand und hielt sie fest, umschloss sie mit beiden Händen. Ihr Mund öffnete sich und für eine Weile schien sie mit Worten zu kämpfen, die ihr einfach nicht über die zitternden Lippen kommen wollten. Schließlich sprach sie doch.
„Du .. Bal… Bal befohlen.“
„Ja, das stimmt“ sagte Yonann sanft. „Ich komme aus Baleh und ja, es ist Bal geweiht.“
Die Frau ließ den Kopf weiter zurücksinken und dann lösten sich ihre Hände langsam von Yonanns Hand. Yonann wartete, bis sie sicher war, dass sie eingeschlafen war, dann packte sie sie wieder fürsorglich in die Decke.
„Wir lassen sie besser erst einmal schlafen. Wahrscheinlich wacht sie gleich wieder auf.“
„Was sollen wir mit ihr machen? Meinst du, sie kann uns sagen, wo sie wohnt?“
Yonann zuckte müde die Achseln. „Wahrscheinlich nicht. Aber wir können sie nicht hierlassen.“
„Dann müssen wir sie mitnehmen, zum Windstal. Wenn wir Glück haben, gehört sie dahin.“
„Meinst du sie schafft das noch? Sie scheint sehr erschöpft zu sein.“
„Sie kann auf Benkal reiten. Wir müssen dafür eben ein paar Sachen hierlassen.“
Yonann sah mich zweifelnd an. „Welche? Deine Laute etwa?“
„Wenn es nicht anders geht... Wir können sie ja verstecken.“
Yonann stand auf und nahm die Lampe. „Wir sollten erstmal ein Feuer machen und etwas essen. Und die nassen Sachen ausziehen – meinst du, hier gibt es einen Abort?“
„Kann gut sein. Hinter der Hütte wahrscheinlich. Und die Feuerstelle müsste da drüben sein, ich hab draußen einen Kamin auf dem Dach gesehen.“

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