Babas Welt
Freitag, 25. Dezember 2009
Kapitel 25

Kapitel 25

Im Jahr 399 nach der Landung, am Vollmondstag des 1. Monds in Yls Jahrviertel

Meine Schwester hatte sich verändert. In meinen Träumen, im Rotberg bei dem Dämon und bei meiner Traumreise hatte sie noch halbwegs so ausgesehen, wie ich sie in Erinnerung hatte, bevor ich sie verlor. Die Frau, die auf dem Felsen lag, hatte nichts mehr mit dieser Aridys gemein. Sie war entsetzlich abgemagert und ihre Haut war spröde und trocken und über und über mit kleinen Wunden und Rissen bedeckt. Sie trug nur eine graue Kutte und hatte Stofflappen um ihre knochigen Beine und Füße gewickelt. Ihre Hände waren schmutzig und ihre Nägel rissig und viel zu lang. Aber was mich am meisten verstörte, waren ihre Haare, oder besser das Fehlen davon. Nur ein paar schmutzigweiße struppige Büschel auf dem Kopf waren ihr geblieben. Ihr ganzes schönes weißes glattes Haar, das ihr bis zu den Waden gereicht hatte, wenn sie es offen trug, war verschwunden.
Yonann stand neben mir und erst als sie vorsichtig die Hand ausstreckte, sie langsam auf Aridys’ Gesicht niedersinken ließ und sachte an ihre Wange legte, wurde mir bewusst, dass ich es noch nicht über mich gebracht hatte, meine Schwester zu berühren. Vielleicht weil ich insgeheim fürchtete, sie würde zu Staub zerfallen, wie in meinem Alptraum? Ich überwand mich endlich und legte meine Hand auf ihre verschränkten Hände. Sie fühlten sich trocken und schorfig und viel zu kalt an. Yonann sah mich an und ich sah Tränen in ihren Augen. Sie brauchte mir nicht zu sagen, was sie über ihre Clangabe fühlte. Meine Schwester spürte nichts mehr. Nur noch ihr Körper lag hier vor uns, nichts weiter als eine atmende Leiche. Sie hatte kaum noch Leben in sich.
Die Magier ließen sich immer noch nicht stören. Keine sechs Fuß von mir entfernt saß der falsche Hofmagier seiner Gefährtin gegenüber, mit verschränkten Händen und vollkommen auf sie fixiert. Bei seinem Anblick überkam mich eine unbändige Wut, wie bei meiner Traumreise, als ich in einer der beiden Gestalten unseren ehemaligen Hofmagier erkannt hatte. Der ohnmächtige, erbitterte Zorn füllte mich an wie kochendes Öl und als ich nicht mehr an mich halten konnte, spürte ich auch den Traumbruder wieder in mir, als hätte ihn meine Wut wieder zu mir zurückgezogen und mit mir vereinigt. Vielleicht auch, weil er seiner eigenen Wut nur durch mich Ausdruck verleihen konnte.
Yonann trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Ich glaube, dass sie etwas sagte, aber ich konnte es nicht mehr hören. Mit einer Hand riss ich mein Schwert aus der Scheide auf meinem Rücken und umfasste es mit beiden Händen.
„Aufhören!!!“ Ich glaube, ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so laut gebrüllt, selbst in meinem Alptraum nicht. Der Beschwörungsgesang trieb mich zur Raserei. „Beim Drachen – hört auf damit! Jetzt!!!“
Die verschränkten Hände lösten sich voneinander und der Gesang verstummte abrupt. Die Magier wandten sich mir zu. Im ersten Moment waren ihre Augen leer, wie die von Puppen, dann kehrte Leben in die Gesichter unter den Kapuzen zurück. Ich sah nur noch das Gesicht des falschen Berlkor, in dem sich erst völlige Benommenheit, dann leichter Ärger und zuletzt völlige Verwirrung spiegelte, als er mich erkannte. Er stützte sich mit den Händen ab und stieg schwerfällig vom Felsen. Ich ging auf ihn zu, mit dem Schwert vor mir, bis seine Spitze auf seine Brust gerichtet war.
„Yenda??“ Der falsche Berlkor starrte auf die Schwertspitze und dann auf mich. „Tarlon… wie kommt Ihr .. woher…“
„Was hast du meiner Schwester angetan?“ Ich erkannte meine eigene Stimme kaum wieder. Der Traumbruder in mir war nur noch eine schwarze, zuckende Masse. Die Schwerspitze zitterte und der Magier trat einen Schritt zurück, die Hände abwehrend erhoben.
„Nimm das Schwert herunter!“ befahl die Magierin da hinter mir. Ihre Stimme klang hart und schneidend, wie gebrochenes Glas und sie stieß beim sprechen mit der Zunge unangenehm schnalzend gegen die Zähne. Ich wandte den Kopf und sah, dass sie auch von dem Felsen herunter gestiegen war. Sie stand auf der anderen Seite und hielt Aridys ein Messer an die Kehle. Ich stand da wie zu Eis erstarrt.
„Runter mit dem Schwert, wird’s bald? Leg es auf den Boden und geh zur Seite!“ Sie fasste das Messer fester und ich tat, wie sie befohlen hatte, langsam und wie gebannt. Sie lächelte tückisch. Abgesehen von den langen weißen Haaren und den tiefschwarzen Augen sah sie ihrem Gefährten nicht sehr ähnlich. Sie war zwar auch recht hochgewachsen, aber kleiner als er und rundlich, und ihr Gesicht war schwammig, sie hatte ein Doppelkinn und tiefe Falten an den Mundwinkeln. Aber etwas in der Art, wie sie ihren Körper hielt und wie sie und der Magier sich immer nur durch kurze Blicke und kaum merkliche Zeichen zu verständigen schienen, sagte mir, dass sie sehr wohl seine Zwillingsschwester sein konnte.
„Kleiner Bastard, was bildest du dir ein? Deine Schwester, so? Das ist nicht deine Schwester. Du hast nie eine Schwester gehabt.“ Sie ließ mich nicht aus den Augen, mit einem gierigen Ausdruck im Gesicht, während sie sprach, als lauerte sie auf jede Gefühlsregung von mir, jede Schwäche, die ich zeigte. Ich trat noch einen Schritt zurück, um auch ihren Bruder im Auge zu behalten, der nervös am Felsen lehnte und offenbar versuchte seine Fassung wiederzugewinnen.
„Meine Ylma-farehn. Meine Erwählte Schwester. Was habt ihr meiner Schwester getan?“
Die Magierin lachte verächtlich.
„Erwählt? Geschenkt wurde sie dir! Geschenkt von uns! Ohne sie wärst du tot. Sie hat dir das Leben gerettet, und was hast du für sie getan?! Nichts, überhaupt nichts! Und du wagst es uns unter die Augen zu kommen? Das ist nicht deine Schwester. Sie ist nie deine Schwester gewesen!“
„Wie konntest du sie überhaupt finden?“ fragte der Magier jetzt. Er klang immer noch verwirrt. „Wer hat dir verraten, wo wir sind? Und wer ist das?“ Er blickte auf Yonann, die etwas zurückgetreten war, die Hand an ihrem Messer, und aussah, als würde sie sich am liebsten unsichtbar machen.
„Ich fand sie, weil sie meine Ylma ist“ sagte ich. Meine Stimme war heiser und klang mir selbst fremd in den Ohren. „Ich wusste immer, wo sie ist.“
„Das glaube ich dir nicht.“ Die Magierin bleckte die Zähne. „Wenn das so ist, warum kommst du dann erst jetzt? Irgendjemand hat es dir verraten. Draußen wartet bestimmt schon der Rest von deiner sauberen Familie. Aber da können sie lange warten. Wir sind auf unserem Weg und wir kehren nicht mehr um. Und sie kommt mit uns.“ Während sie immer noch mit einer Hand das Messer über Aridys’ Kehle hielt, strich sie ihr mit der anderen zärtlich durch die struppigen Haarreste und es lief mir kalt den Rücken hinunter.
„Was … was habt ihr vor? Was wollt ihr mit ihr?“
Die Magierin grinste nur und gab keine Antwort. Ihr Bruder sah unverwandt auf Yonann und ging langsam auf sie zu. Als ich mich ihm in den Weg stellen wollte, zischte seine Schwester etwas und machte eine Bewegung mit dem Messer. Ich konnte nicht glauben, dass sie Aridys wirklich töten würde, aber wie konnte ich es darauf ankommen lassen? Yonann sah dem Magier ruhig ins Gesicht und zuckte auch nicht zurück, als er die Hand ausstreckte und eine ihrer langen krausen Haarsträhnen zwischen zwei Finger nahm.
„Sie… sie ist aus Baleh“ sagte er wie zu sich selbst, ohne den Blick von Yonann zu wenden. „Eine Tarlil… Ich kann es sehen. Eine balehsische Tarlil.“ Er berührte die dünne weiße Perlenschnur in ihrem Haar über dem rechten Auge und grinste höhnisch, als Yonann den Kopf zurückriss. Abrupt wandte er sich zu mir um und dann war mir, als würde er mit seinen schwarzen Augen bis auf den Grund meiner Seele sehen. Ich erinnerte mich plötzlich, wie sehr Aridys und ich ihn gehasst und gefürchtet hatten als Kinder. Wir hatten uns immer bemüht, ihm aus dem Weg zu gehen und bei den wenigen Gelegenheiten, wo er in unsere Nähe kam, hatten wir krampfhaft vermieden ihm in diese schwarzen grausamen Augen zu blicken. Als wir älter wurden, hatte ich es geschafft, diese kindische Angst zu verdrängen und der Hofmagier war mir zuletzt völlig gleichgültig geworden. Und natürlich hatte ich gedacht, dass es Aridys genauso ging und es war mir nie in den Kopf gekommen sie zu fragen, wie sie über den Magier dachte.
„So. Aber warum hast du sie mitgebracht? Wozu brauchst du eine balehsische Tarlil? Wie kann sie dir helfen?“
Ich blieb still, obwohl es mich fast gewaltsam danach drängte, ihm alles ins Gesicht zu schreien – wie wir seine Pläne vereitelt hatten, ohne dass er es wusste, und was wir über ihn und seine Schwester erfahren hatten, was sie getan hatten … Ich spürte wieder, wie der Traumbruder sich in mir wand und dann wieder in Stille erstarrte, kalt und wie gelähmt. Meine Wut hatte sich wieder etwas gelegt und ich begann mir mehr und mehr Vorwürfe zu machen. Warum nur hatte ich geglaubt, ich könnte die Magier einfach so stellen und sie so einschüchtern, dass sie sich mir ergaben? Warum war ich einfach vorgestürmt, ohne jeden Plan? Wenn ich meine Schwestern nicht zurückgelassen hätte, dann wäre das Magierpaar jetzt längst in sicherem Gewahrsam und ich könnte ungestört bei Aridys sein. Jetzt war nicht nur ich, sondern auch Yonann in Gefahr.
„Ich bin Heilerin“ sagte Yonann. Ich konnte an ihrer Stimme hören, wie sehr sie gegen ihre eigene Angst ankämpfte und hoffte inständig, dass es dem Magier nicht auffiel. „Yenda bat mich ihm zu helfen, er wusste, dass seine Schwester dem Tode nahe ist.“
Die Magierin lachte verächtlich. „Das glaube ich nicht. Was soll das Geschwindel? Nun mach schon, Tsir-agli, schau sie dir an. Dann wissen wir es genau.“
Tsir-agli? War es ein Name oder ein Wort für Bruder? Die Silben erschienen mir so fremd, dass es mir schwer fiel, ihn zu behalten oder gar ihm eine Schreibweise zuzuordnen.
„Aber sie kann es nicht sein. Sie ist Bal geweiht, nicht Yl…“
„Schau trotzdem nach!“ befahl sie und der Magier legte den Kopf etwas schief und runzelte die Stirn. Und dann hielt er auf einmal Yonanns Hand in seiner. Sie hielt immer noch das Messer, aber schien es völlig vergessen zu haben. Er nahm das Messer und ließ es gleichgültig fallen, und dann hielt er Yonanns Handgelenk fest und strich mit den Fingerspitzen über ihre Handfläche, während er ihr unverwandt in die Augen sah. Yonanns Gesicht war bleich und ich konnte ihr ansehen, dass sie sich ihm entziehen wollte, aber es irgendwie nicht fertig brachte. Hatte er die Gabe, andere Menschen durch seinen Blick oder seine Berührung zu bannen? Oder wollte sie einfach nur Aridys’ Leben nicht weiter gefährden?
„Und??“ drängte die Magierin. „Ist sie es? Nun sag schon!“
„Ich kann es sehen“ sagte er langsam. „Diese Aura um sie herum, wie von einer Flamme… Erstaunlich, wirklich erstaunlich. Wie hast du sie gefunden??“ fuhr er mich an. „Wir haben so lange nach ihr gesucht. Die Dämonentöterin. Wenn wir sie gefunden hätten, wäre das mit Aridys nicht nötig gewesen. Aber was blieb uns anderes übrig? Dabei haben wir all die Zeit an der ganz falschen Stelle gesucht...“
Yonann starrte ihn kreideweiß an und trat einen Schritt zurück. Die Magierin kicherte beglückt.
„Es ist noch nicht zu spät! Jetzt wo sie hier ist, haben wir noch eine Chance!“
„Eine Chance für was…?“ fragte ich heiser. Meine Stimme wollte mir nicht gehorchen. Der Magier beachtete mich nicht, er ließ seine Augen nicht von Yonann.
„Bist du es?“ fragte er sanft. „Kannst du uns helfen? Mein Volk rächen, das ausgelöscht wurde von diesem … unsäglichen, unnatürlichen Übel, diesen Teufeln von der anderen Seite? Wir warten schon so lange darauf.“
Yonann wich noch weiter zurück und schüttelte nur heftig den Kopf. Ich kam mir vor wie in einem Alptraum, in dem sich auf einmal alles umgekehrt hatte und keinen Sinn mehr ergab. Yonann sah zu mir herüber und ich besann mich und ging zu ihr. Die Magierin hinter mir fauchte etwas, aber ich achtete nicht darauf. Yonann lehnte sich an mich und ich legte einen Arm um ihre Schultern. Der Magier starrte sie immer noch an. Sein Unterkiefer mahlte und seine Hände bewegten sich nervös.
„Antworte mir!“ verlangte er und wieder stieg die Wut in mir hoch.
„Du hast meiner Schwester die Seele genommen, nur um … um die Dämonen zu töten?? Du hast zugelassen, dass sie ein Ungeheuer wird? Sie hätte uns alle vernichten können!!“
Der Magier starrte mich mit offenem Mund an. „Wieso…?“ stammelte er. „Nein, so sollte es nicht ...“
„Halt den Mund!“ fuhr seine Schwester dazwischen. Sie war hinter dem Felsen hervorgekommen und trat neben ihren Bruder. Ihre Augen verengten sich misstrauisch.
„Was redest du da? Seele genommen? Ungeheuer? Woher weißt du überhaupt, was mit ihr geschehen ist?“
„Ihr wolltet uns zerstören“ sagte Yonann stockend. „Aridys sollte sich mit Hilfe der Dämonen in ein Ungeheuer verwandeln, dass uns alle auslöschen sollte, den ganzen Nohkran, und das Land für euer Volk zurückerlangen. Ist es nicht so?“
Der Magier starrte sie mit flackernden Augen an.
„Nein, das nicht! Sie sollte die Dämonen zerstören. Wie können wir unser Land wieder erlangen, solange es sie noch gibt, diese verderbten Ungeheuer? Solange sie da sind, solange es sie gibt, wird keiner von uns in Frieden leben können!“
„Und ihr habt auch noch einen Pakt mit ihnen geschlossen“ giftete seine Schwester. „Ihr habt unser Land gestohlen, nachdem die Dämonen uns vertrieben haben und euch auch noch mit ihnen gegen uns verbündet. Das hat jetzt ein Ende. Wir werden die Dämonen zerstören und wenn sie nicht mehr da sind, wird unser Volk wieder aus seinem Exil kommen und wieder erlangen, was es verloren hat.“
Es kam mir in den Sinn, dass es vielleicht am besten wäre zu fliehen und meine Schwestern zu Hilfe zu holen. Die beiden Magier waren ganz offensichtlich dem Wahnsinn nahe, und je länger wir uns ihnen entgegenstellten, desto gefährlicher wurde es für uns. Aber ich konnte einfach meine Schwester nicht zurücklassen, nicht jetzt, wo ich sie endlich gefunden hatte. Sie war dem Tode nahe, vielleicht war sie schon gestorben, während wir uns mit den beiden verrückten Magiern stritten.
„Was immer ihr vorhabt, es wird euch nicht gelingen.“ Ich drückte Yonann an mich und versuchte so fest und unerschütterlich zu sprechen wie ich konnte. „Kein Dämon wird mehr hierher kommen und ihr könnt die Höhle nicht mehr verlassen. Draußen warten schon die Gardisten, um euch nach Ylkyr zu bringen und vor Gericht zu stellen.“
Die beiden sahen sich an und der Magier bleckte höhnisch die Zähne.
„Gardisten? Deine Schwestern höchstpersönlich? Lass sie nur kommen, wir fürchten sie nicht. Niemand in Ylkan kann uns ein Haar krümmen. Eure eigenen Gesetze werden uns schützen. Du als Tarlon solltest sie kennen, selbst wenn du deine Zeit nur mit deiner ewigen Klimperei vertrödelt hast. Wir sind unantastbar. Wir gehören zum Königshaus von Ylkan und niemand darf Abkömmlinge eines Königshauses töten. Wenn sich ein Clanabkomme zu erkennen gibt und seine Herkunft beweisen kann, muss er in sein Königshaus aufgenommen werden und ist fortan unantastbar. So lautet das Gesetz!“
„Clanangehörige??! Ihr??“ Ich dachte nur, dass er jetzt vollkommen verrückt geworden war.
Die Magierin grinste mich triumphierend an. „Ja, wir sind Abkömmlinge eures Clans. Und wir können es beweisen! Oh, es ist nur reiner Zufall. Warum sollten wir zu eurem Clan gehören wollen? Zwei Jahrhunderte lang haben wir alles getan, um die letzten Reste eures Blutes loszuwerden. Es ist uns auch fast gelungen! Nur eure verfluchte Clangabe blieb bei uns, das einzige, was uns noch mit euch verbindet. Aber wir haben sie, daran kann es keinen Zweifel geben. Seit über hundert Jahren werden in unserem Stamm nur noch Zwillinge geboren. Du glaubst mir nicht? Gerade du solltest wissen, wie es dazu gekommen ist. Es war die Schwester von deinem Namensvetter, Karvanyn-gel Yenda, die unsere Stammesmutter wurde!“
Ich brachte kein Wort heraus. Wahnsinnig, sie waren vollkommen wahnsinnig, nicht mehr lange und sie würden uns in ihrer Verrücktheit einfach abschlachten...
„Zeig Ihnen die Wappenkette“ sagte der Magier zu seiner Schwester. Sie bleckte höhnisch die Zähne und holte etwas aus der Innentasche ihrer Robe, das in ein Wolltuch gewickelt war. Als sie das Tuch löste, sah ich, dass es eine silberne Halsbandkette und ein Ring war. Das Wappen von Ylkan glänzte darauf im Flammenschein. Es war nicht Aridys’ Kette, die befand sich immer noch an ihrem Hals, das hatte ich gesehen.
„Karyan?“ flüsterte Yonann neben mir. „Sie ist nicht verunglückt? Sie kam zu eurem Stamm?“
Die Magierin hielt den Siegelring ans Licht. Er war aus versilberten Eisen, hie und da schon angelaufen und abgescheuert, wie viele Siegelringe aus der Zeit des 1000-Monde-Krieges, als Edelmetalle rar wurden.
„Unsere Vorfahren haben sie bei sich aufgenommen. Sie wollte nicht mehr zurück. Ihr eigener Bruder hatte sie geschwängert – ja, ihr Bruder, der andere Yenda, der ihr so lange hinterher jammerte, genau der! Und sie fürchtete sich so vor ihm und ihrer Familie, dass sie vor ihnen floh. Sie und ihre Kinder lebten in unserem Stamm und mit der Zeit breitete sich ihre Clangabe immer weiter aus, bis der ganze Stamm sie hatte. Wir konnten uns nicht mehr davon befreien. Die anderen Stämme schlossen uns aus und sagten sich von uns los. Doch wenn wir die Dämonen vernichten, wird es keine Rolle mehr spielen. Unser Stamm wird wieder reingewaschen sein und wir kehren zurück zu unserem wahren Volk.“
„Welcher Stamm?“ fragte ich heftig. Das Verlangen, den beiden den Triumph aus den Gesichtern zu reißen wurde immer übermächtiger. „Wie viele sind euch geblieben nach den Hinrichtungen? Und nach alldem, was ihr meiner Schwester und meinem Volk angetan habt, wird es euch nichts nutzen, wenn ihr euch auf die Clanangehörigkeit beruft. Niemand wird es anerkennen wollen. Eher werden sie das Gesetz ändern, als zuzulassen, dass es euch wahnsinnige Mörder beschützt!“
„Bist du dir da so sicher?“ fragte der Magier lauernd. „Die Kerlonel haben es in der Hand, das Gesetz zu ändern – und sie können uns nichts anhaben. Wir wissen zuviel über sie. All die kleinen Sünden ihrer Vergangenheit werden sie jetzt teuer zu stehen kommen. Da draußen die Ylmun sind allein schon Beweis genug und wenn das nicht reicht, dann bleibt immer noch ihr eigener Bastard. Möchtest du wirklich, dass alles über dich bekannt wird? He? Meinst du, sie können dich danach immer noch vor den Drachentreuen schützen? Spätestens wenn deine Väter abdanken müssen, geht es dir an den Kragen, kleiner Bastard. Hast du nicht doch ein bisschen Angst davor?“
Ich sah ihm in die schwarzen Augen, sah, wie er auf irgendeine Gefühlsregung bei mir lauerte – sei es Angst, Verzweiflung, oder Ohnmacht – und fühlte auf einmal nur noch Ekel und Erschöpfung. Es erschien mir nur noch absurd, dass diese beiden Wahnsinnigen unser Leben in der Hand haben sollten und einfach so entscheiden durften, was mit meiner Schwester geschah, und wie sie missbraucht werden konnte. Das war es alles nicht wert. Sie waren es nicht wert, sie hatten verloren ohne es zu wissen und schwelgten im Angesicht ihres vermeintlichen Sieges, während sie doch längst verloren waren. Und meine Schwester war dem Tode nahe…
Ich wandte mich abrupt ab und stolperte zurück zu dem Felsen, auf dem meine Schwester lag. Sie lag immer noch still da, als wäre sie schon tot. Ich nahm sie in meine Arme und drückte sie an mich und versuchte ihr so nahe zu sein wie möglich, so nahe, wie ich ihr seit Jahren nicht mehr gewesen war.
Die Magier standen hinter mir, aber ich ignorierte sie. Ich wiegte meine Schwester in den Armen und merkte, dass mir Tränen über das Gesicht liefen. Die Magierin schnalzte verächtlich.
„Ach, jetzt heult er noch um sie...“
„Lass ihn, Kluriki. Es dauert sowieso nicht mehr lange. Es ist ein Wunder, dass ihr Körper solange durchgehalten hat.“
„Aber wenn sie doch wiederkommt … wenn sie ihn spürt, vielleicht kann er sie herbringen – oder die Dämonentöterin…“
„Vielleicht. Wir müssen Geduld haben. Dann wird es gelingen.“
„Aber wir haben schon so lange gewartet! Was, wenn sie nicht mehr kommt? Vielleicht können keine Dämonen herkommen, weil wir so nahe an der See sind...“
„Sie kommen hierher. Die See macht ihnen nichts aus. Nur die Sonne und die Welt über der Erde.“
„Sie wird aber nicht zurückkommen“ sagte Yonann da auf einmal mit klarer fester Stimme. Sie stand neben mir, mit einem Arm um meine Schultern und sah die Magier unerschrocken an. Es war, als würde ich sie mit einem Mal ganz neu sehen, einen Aspekt von ihr, den sie mir noch nie zuvor gezeigt hatte. Bis dahin war mir noch nie wirklich bewusst geworden, dass sie eine Tarlil war, die Nichte einer Königin noch dazu. Sie wirkte jetzt ganz und gar nicht mehr verängstigt, sondern nur noch empört, vielleicht sogar zornig.
„Ja, ich bin eine Dämonentöterin, und Yenda hat mich gefunden. Er nahm mich mit auf die Suche nach seiner Schwester, und als wir sie fanden, erkannte er, was aus ihr geworden war und wir sorgten dafür, dass sie nie wieder zurückkehren würde. Ihr habt ein Ungeheuer aus ihr gemacht und wenn wir sie nicht aufgehalten hätten, wäre das Land und alle Menschen – euer Volk genauso wie unseres – noch einmal zerstört worden.“
Es war totenstill in der Höhle. So still, dass ich auf einmal andere Geräusche wahrnehmen konnte, wie das weit entfernte Tropfen und Plätschern von Wasser, und ganz undeutlich, dumpf und schwach, ein ständiges immer wiederkehrendes Tosen, das anschwoll und abebbte. Erst viel später wurde mir klar, dass es von der See verursacht wurde, von den Wellen, die unaufhörlich gegen die Klippen tosten. Wir waren tatsächlich ganz nah am Meer, an der südlichen Küste des Nohkran. Ich hatte das Meer noch nie gesehen, weder an dieser noch an der anderen Küste und in diesem Moment erschien es mir nicht sehr wahrscheinlich, dass ich überhaupt noch einmal Gelegenheit dazu bekommen würde.
„Aufgehalten...?“ fragte die Magierin – war ‚Kluriki’ ihr Name? – verwirrt. „Du meinst doch nicht – getötet? Ist sie durch deine Flamme verbrannt?“ Yonann sah sie nur mit steinernem Gesichtsausdruck an und sie wich verwirrt ihrem Blick aus und sah zu mir herüber. „Du? Du hast zugelassen, dass deine Schwester … verbrannte??!“
„Das war nicht meine Schwester.“ Wie oft hatte ich das eigentlich schon gesagt? So oft, dass es mir selbst hohl und unglaubwürdig in den Ohren klang. Die Wahrheit war, dass es eben doch Aridys gewesen war, aber eine vollständig veränderte Aridys, in der nichts mehr von der Frau gewesen war, die ich als meine Schwester angesehen hatte, deren dunkle Seite von ihr Besitz ergriffen und alles zerstört und umgewandelt hatte, was mir von ihr lieb und vertraut war.
Ich drückte Aridys Körper wieder an mich. „Das ist meine Schwester, das was von ihr noch übrig ist. Ihr habt sie getötet und nichts, gar nichts auf dieser Welt wird mich davon abhalten sie zu rächen. Und wenn dafür Gesetze geändert werden müssen und wenn ich mein Land und mein Volk verlassen muss dafür. Oder selbst sterben. Ihr seid Mörder und dafür werdet ihr bestraft werden.“
„Mörder? Sie ist doch nicht tot. Sie ist freiwillig zu uns gekommen und wir wollten sie nicht töten. Niemand kann uns dafür als Mörder anklagen, niemand!“ Die beiden Magier waren enger zusammen gerückt und Kluriki zog scharf die Luft ein, während ihr Bruder unruhig die Hände rang.
„Mayg Berlkor würde dem aber widersprechen“ hielt Yonann dagegen. Der Magier zuckte zurück, als hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen. „Die Gardisten haben seine Leiche in deinem Keller gefunden oder das was von ihm übrig war. Du hättest ihn besser verstecken sollen. Wer kann da noch zweifeln, dass ihr Mörder seid?“
„Berlkor… aber das … das war ein Unfall. Wir wollten ihn nicht töten. Er war… uneinsichtig. Ich wollte ihn leben lassen, ich wollte nicht, dass er…“
„Und was ist mit den vielen Menschen, die die Krieger des Schnees ermordeten? Die Einwohner des Dorfes, aus dem Aridys angeblich stammte? Was ist mit ihren Eltern, waren die auch ‚uneinsichtig’?“
„Was soll das heißen?“ fuhr die Magierin auf. „Aridys ist unser eigenes Vater-Schwester-Enkelkind! Wir wollten sie nicht hergeben, aber es war unsere einzige Chance den Dämon zu täuschen. Wir haben so lange gewartet, und als du ohne Zwilling zur Welt kamst, nur einen Tag nach Aridys, wussten wir, dass die Gelegenheit nie wieder kommen würde. Eine ylkanische Tarlil mit unserem Blut, die den Dämon täuschen würde, das würde es nie wieder geben können.“
Ich wandte mich der Magierin ganz zu, immer noch mit Aridys in den Armen. Sie war so leicht, nicht schwerer als einer meiner Söhne und ganz leblos. Der Traumbruder in mir ballte sich zusammen und streckte sich wieder aus, streckte und dehnte sich, bis er so groß wurde, dass ich ihn nicht mehr in mir behalten konnte. Er kam aus mir heraus und für einen Moment war es, als würde er mich und Aridys umgeben und einhüllen. Dann war er vor mir, zwischen mir und der Magierin. Ich konnte ihn ganz deutlich sehen und die Magierin – die immerhin seine Großkusine war und vielleicht sogar noch enger mit ihm verwandt – schien ihn auch wahrnehmen zu können. Ihre Augen wurden immer größer und ihre Lippen bewegten sich, ohne dass ein Laut zu hören war. Als sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich, breitete sich der Traumbruder noch mehr aus. Wie eine feine eisige Nebelwolke schwebte er zwischen uns.
„Was… was hast du, Kluriki, was ist da?“ fragte ihr Bruder heiser. Ich ließ die Magierin nicht aus den Augen. Sie schluckte und griff sich an die Kehle.
„Keine Mörder? Wirklich? Berlkor ein Unfall und Aridys ein Selbstmord? Und was ist mit ihm? Ihrem eigenen Zwillingsbruder? Ist er auch freiwillig in den Tod gegangen, damit seine Schwester einmal Dämonen töten könnte? Ein neugeborenes Kind, nur wenige Tage alt? Wie grausam muss man sein, um ein Kind zu ermorden, aus dem eigenen Clan?“
Die Magierin wich noch weiter zurück und schüttelte nur noch verstört den Kopf. Ihr Bruder blickte verwirrt zwischen ihr und mir hin und her.
„Ihr Bruder? Was meinst du? Aber er… er ist doch bei der Geburt gestorben… oder nicht? Ich war nicht dabei. Kluriki, sag doch etwas! Du sagtest doch, er wäre schon fast tot auf die Welt gekommen…?!“
Die Magierin hörte nicht auf ihn, sie hatte nur Augen für den Traumbruder. Der schien auch ganz auf sie konzentriert. Jetzt hob er die knochigen Arme über den Kopf, mit geballten Fäusten und dann hörte ich ihn auf einmal schreien, einen hohlen, schauerlichen Schrei, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die Magierin presste ihre Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen. Der Schrei dauerte an und an, erfüllte die ganze Höhle, drang durch die Wände und die Dunkelheit, trieb die Schatten zurück, bis Licht über uns hereinbrach, blendend helles, fast weißes Licht…
Der Schrei brach schlagartig ab und in der Höhle breitete sich atemlose Stille aus. Neben mir der Magier krächzte etwas Unverständliches und stierte auf seine Schwester, als wollte er seinen Augen nicht trauen. Nur dass er nicht auf seine Schwester starrte, sondern auf das, was sich hinter ihr in dem gleißendem Licht manifestiert hatte, angezogen von dem Schrei des Traumbruders.
Es war ein Jenseitiger.

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