Babas Welt
Freitag, 18. Dezember 2009
Kapitel 18

Oh Wyr, von Zeit und Schicksal, sag du mir:
Wo ist meine Schwester? Siehst du ihr Leben?
Oh Bal, von Denken und Fühlen, sag du mir:
Wo ist meine Schwester? Spürst du ihren Atem?
Oh Ann, von Leben und Tod, so sag mir doch:
Wo ist meine Schwester? Hörst du ihr Herz?
Und oh Yl, von Traum und Wirklichkeit, sprich du zu mir:
Wo ist sie, dein Kind, mein Zwilling? Träumst du ihren Traum?

(Tarlon Karvanyn-gel Yenda von Ylkan, Auszug aus: Karyan, ca. 173 - 177 nach der Landung)

Doch im Land ohne Namen
jenseits der Berge
an der Felsenküste
regiert nur der Tod.

(aus „Das Lied der Sechzehn“, nohkresisches Kinderlied von Anonym)

Kapitel 18

Im Jahr 399 nach der Landung, am 8. Tag des 1. Monds in Yls Jahrviertel

In der Nacht des fünften Tages unserer Reise träumte ich zum ersten Mal seit dem Drachenfest wieder von dem Traumbruder. Bis dahin war es mir gelungen mich von ihm fernzuhalten.
Obwohl ich es kaum zugeben mochte, hatte ich panische Angst vor ihm. Ich war mir sicher, ich könnte seinen Anblick, ja seine bloße Nähe nicht ertragen, ohne den Verstand zu verlieren. Diese unendlich tiefen schwarzen Augen in dem bleichen Totenschädel, wie das Abbild meines eigenen Todes, dieser Strudel aus wilder Angst und Wahnsinn um ihn herum - wie könnte ich mich diesem Grauen freiwillig aussetzen? Seit der Traumbruder Zugang zu meiner Traumwelt gefunden hatte, erfüllte mich der bloße Gedanke daran, ihm dort zu begegnen, mit Panik. Ich wusste, dass er dort auf mich wartete, er, dem Zeit und Raum nichts bedeuteten, der nur eines kannte - die verzweifelte Suche nach unserer gemeinsamen Schwester, die uns beide verband. Sobald ich zu träumen begann, würde er da sein, und mich finden.
Also hielt ich mich in den ersten Tagen unserer Reise solange wach wie ich nur konnte und versuchte darüber hinaus mich körperlich so zu ermüden, dass durch die Erschöpfung die Traumphasen meines Schlafes kürzer würden. Yonann half mir noch zusätzlich, ich merkte sehr bald, dass meine Alpträume viel von ihrem Schrecken verloren, wenn ich sie im Schlaf noch berührte. Denn dann spürte ich ihre Gegenwart auch in meinen Träumen, so als würde sie immer neben mir gehen, ihre Hand in meiner, und alle Gefahren, die uns drohen könnten, schon von weitem nahen fühlen und mich warnen. Bald war es soweit, dass ich erst einschlafen konnte, wenn ich, nachdem wir uns geliebt hatten, dicht an sie geschmiegt lag, mit einem Arm unter ihrem Kopf und den anderen um ihren Leib geschlungen, Gesicht und Brust in ihren Haaren vergraben. Diese Haare - bei unserer ersten Begegnung, oder eigentlich schon vorher, als ich zum ersten Mal ihr Bild sah, waren mir diese ungebärdigen wirrlockigen Haarmassen so seltsam, ja irgendwie absurd erschienen, wie ein braunglänzendes, scheinbar unkontrollierbares Gestrüpp um sie herum, das immer wirkte, als wäre es viel zu schwer für ihren Kopf. Dann aber sah ich immer wieder, wie mühelos sie diese Haarmassen bändigte, als würden sich die langen krausen Flechten stets ihren unhörbaren Befehlen beugen, und verliebte mich immer mehr darin. Seit wir Ylkyr verlassen hatten, trug Yonann ihr Haar tagsüber in einem dicken festverflochtenen Zopf unter ihrem Mantel, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich konnte es kaum abwarten, bis sie es abends vor dem Schlafen gehen wieder auflöste und ausschüttelte und ich Gesicht und Hände darin vergraben konnte. Sie fand meine Faszination eher belustigend und warf mir oft scherzhaft vor, ich würde sie nur wegen ihrer Haare lieben. Das war natürlich vollkommener Unsinn, denn ich liebte alles an ihr - wie ihren weichen rundlichen Leib, der dennoch immer so grazil wirkte wie selbst der einer trächtigen Katze, ihre schmalen geschickten Hände, deren Berührung mich immer zugleich beruhigte und erregte, und oh Bal, ihre weichen schweren Brüste … und natürlich ihr Gesicht, das mich mit den flachen Wangenknochen und den grünbraunen Augen auch immer an das einer Katze erinnerte. Yonann mag den Vergleich nicht - Katzen wären meist selbstsüchtige Einzelgänger, die ihre Gefühle stets zu verbergen wissen - doch ich fand noch mehr Eigenschaften von Katzen an ihr. Die Art, wie sie es verstand ihren Willen durchzusetzen, ohne es zu einem Streit kommen zu lassen, wie sie stundenlang in Meditation versunken verharren konnte ohne zu ermüden und nicht zuletzt in fast jeder Situation den Anschein von Würde bewahrte, egal wie es gerade um sie bestellt war. Ich mache mir auch nicht besonders viel aus Katzen, aber Aridys hatte sie abgöttisch geliebt und immer etliche um sich herumgehabt, mit denen ich mich notgedrungen auf guten Fuß stellen musste, um nicht endlos zerkratzt zu werden.
Bis zu diesem Halbmondstag war es mir so tatsächlich gelungen, dem Traumbruder aus dem Weg zu gehen. Doch es zeigte sich bereits, dass es nicht mehr lange gut gehen würde. Ich habe von Natur aus einen leichten Schlaf und bald war es soweit, dass ich beim geringsten Anzeichen eines Alptraums aus dem Schlaf schreckte, oft so heftig, dass ich dabei um mich schlug und mitunter sogar aus dem Bett sprang. Tagsüber war ich gereizt und unkonzentriert und oft sogar zu müde für meine Lautenübungen. Das Schlimmste war, dass Yonann zusehends darunter litt. Sie hatte keine Probleme mit dem Einschlafen und auch niemals Angst vor Alpträumen, aber je öfter sie von mir aus dem Schlaf gerissen wurde und mich wieder beruhigen musste, desto angespannter und unruhiger wurde auch ihr Schlaf, bis sie fast so schlecht dran war wie ich. Und als selbst ich einsah, dass es so nicht weitergehen konnte, war sie es - natürlich - die das Problem auf den Punkt brachte.
„Du musst dich ihm stellen, Yenda. Nicht weiter darauf warten, dass er in deine Träume kommt, sondern selbst zu ihm gehen, ihn suchen.“
Wir lagen auf einer grob zusammen gezimmerten Pritsche in der engen niedrigen Dachkammer eines Gasthofes einige Meilen hinter Mertyn. Durch den endlosen Strom der Tausenden von Festbesuchern, die mit ihren hochbeladenen Karren und Viehherden zu ihren Dörfern und Städten zurückkehrten, waren alle Gaststätten und Herbergen überfüllt und wir hatten noch Glück gehabt diese Dachkammer zu bekommen. Die Pritsche war hart und knorrig unter der Strohmatratze und der Regen trommelte auf die Dachschindeln über uns, aber es war um einiges besser als ein Heuschober, zumindest in diesem Wetter. Und Yonanns warme atmende Nähe war um soviel besser als selbst das weichste Bett und die beste Matratze, auch wenn sie mal wieder eiskalte Füße hatte.
Ich drückte mein Gesicht zwischen ihre Schulterblätter und knurrte abwehrend, doch sie ließ nicht locker. Natürlich nicht, Yonann mag auf ersten Blick geduldig und nachgiebig erscheinen, aber tatsächlich steht sie mir in Hartnäckigkeit und Eigensinn um nichts nach.
„Wenn du ihn aufsuchst, brauchst du nicht zu fürchten, dass er dich überrascht. Er kann dir nichts anhaben, wenn du auf ihn vorbereitet bist.“
Meine Traumexpertin. Natürlich hatte sie recht. Sie hatte soviel mehr Erfahrung als ich mit Alpträumen und wie man mit ihnen fertig wird. Als sie in ihrer Kindheit von Alpträumen geplagt wurde, hatte sie auch alle Hilfe bekommen, die sie brauchte. Eine ganze Reihe von Traummagiern und Traumheilern hatten sie liebevoll und geduldig bei der Überwindung ihrer Alpträume unterstützt und beraten, bis sie kaum mehr als schlechte Erinnerungen waren, die sie resolut aus ihren Gedanken verdrängte. Wenn Aridys dieselbe Hilfe und Unterstützung gehabt hätte, wäre unser beider Leben vermutlich ganz anders verlaufen, ja vielleicht wäre nichts von alledem passiert, das uns auseinander gerissen und unser Leben zerstört hatte. Wie immer bei diesem Gedanken wünschte ich mir nichts sehnlicher als unseren ehemaligen Hofmagier langsam und genüsslich zu würgen. Oder ihn über einem großem Feuer zu rösten. Oder ihn in Stücke zu reißen. Bei lebendigem Leib zu häuten. Und am besten - ihn all dies träumen zu lassen, wieder und immer wieder und ihm obendrein den Traumbruder auf den Leib zu hetzen.
„Ich werde bei dir sein.“ Yonann ließ nicht locker. „Du brauchst ihn nicht anzusprechen. Wenn er zu uns kommt, werde ich mit ihm sprechen. Er müsste mich inzwischen kennen. Aber alleine finde ich ihn nicht, er hält sich in deiner Traumwelt auf und ohne dich komme ich nicht an ihn heran.“
Ich streichelte ihre Brüste und rieb mit den Fingerspitzen über die Warzen, bis sie hart wurden, in der - wie ich wusste vergeblichen - Hoffnung, sie abzulenken, aber es bewirkte nur, dass ich wieder erregt wurde, obwohl ich eigentlich zu müde dafür war. Wir hatten einen anstrengenden Tag hinter uns. Die durch die vielen Reisenden und den Regen schlammigen Reisestraßen waren sowohl zu Pferd als auch zu Fuß schwer zu bewältigen gewesen und wir waren nur langsam vorwärts gekommen. Tatsächlich waren wir noch nicht so weit von Ylkyr entfernt, wie ich gehofft hatte, nämlich erst - bei unserem jetzigen Tempo - etwa zwei Tagereisen vor der südlichen Grenze, die vorläufig unser Ziel zu sein schien. Es war mir selber unbegreiflich, warum es mich ausgerechnet dorthin zog und nicht zur westlichen Grenze hin, wo der geheimnisvolle Stamm von abtrünnigen Kyakadrin vermutet wurde, aus dem unser falscher Hofmagier hervorgegangen sein sollte. Aber nur wenn wir uns in diese südliche Richtung hielten, hatte ich das unmissverständliche Gefühl auf dem rechten Weg zu sein, so wie damals vor einem Jahr, als es mich auf dieselbe Weise zu dem Rotberg in Thyrvann geleitet hatte. Und mit jedem Tag wurde mir klarer, dass unser Ziel irgendwo bei oder jenseits des steilen langgezogenen Bergmassivs lag, das wir „Yls Wall“ nennen und dessen südwestliches Ende die natürliche südliche Grenze von Ylkan bildet. Aus den Berichten der wenigen, die hinter dieses Massiv vorgedrungen waren, war nur bekannt, dass sich dahinter noch mehr Berge erheben, bis hin zur südwestlichen Küste des Nohkran, die anders als die flache nordöstliche Küste, an der Nakur mit den 16 Clans gelandet war, steil und völlig unzugänglich vom Wasser her ist. Ich hoffte, dass wir nicht bis hinter das Massiv vorzudringen brauchten, aber es sah ganz so aus, als bliebe uns nichts anderes übrig. In dem Fall befürchtete ich auch, dass Rynkan und Growyn den vereinbarten Abstand zu uns nicht länger einhalten würden. Zwar hatten sie ihre Befehle von unseren Zwillingsvätern bekommen, nachdem Yonann und ich aufgebrochen waren, aber ich kannte meine Schwestern zu gut - wenn ihnen die Lage zu bedrohlich oder unübersichtlich erschien, würden sie sich über alle Anweisungen hinwegsetzen, um unsere Sicherheit zu gewährleisten, so wie es ihr Gardisteneid verlangte. Ich hatte sie schon einmal auf meinen Fersen gehabt und war ihnen nur knapp entwischt. Nun bereitete es mir echtes Unbehagen, sie so dicht hinter uns zu wissen, denn mittlerweile war selbst für einen Blinden deutlich erkennbar in welche Richtung wir uns hielten und es wäre für sie ein leichtes uns zu überholen und den Weg abzuschneiden. Vielleicht hatten sie es sogar schon getan und warteten im nächsten Ort oder bei der nächsten Wegstation schon auf uns. Allein bei dem Gedanken wurde ich wieder unruhig.
Yonann griff nach meiner Hand und hielt sie fest.
„Er kann dir nichts tun“ wiederholte sie, während ich sie auf Hals und Schultern küsste, auf einmal alles andere als müde. „Er ist nur ein Traum, ein Geist, nicht einmal richtig am Leben. Yenda, hörst du mir zu?“
„Ja, und ich glaube dir auch.“ Ich streichelte kreisend über ihre runde Hüfte und weichen Lenden und tastete mich langsam weiter zu ihrem Schoß vor, während sie seufzte und etwas dichter an mich heranrückte.
„Wir sollten es diese Nacht versuchen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Bitte Yenda, es könnte bald zu spät sein.“ Ihr Atem fing an schwerer zu gehen und sie wand sich unter meiner Hand. Als sie sich mir zuwenden wollte, drückte ich sie zurück bis sie auf dem Bauch lag, und legte mich auf sie. Yonann ächzte und krallte die Hände in die Matratze und bald musste ich an mich halten um nicht zu schnell zum Höhepunkt zu kommen. Wie jedes Mal überraschte es mich von neuem, wie leicht und selbstverständlich wir immer zueinander fanden, selbst wenn sie müde war und schlafen wollte. Sehr oft war auch sie diejenige, die unser Liebesspiel einleitete, wenn ich schon dachte, wir wären beide nicht mehr dazu in der Lage. Genau wie ich hatte Yonann einige Zeit abstinent gelebt, und ich hatte geglaubt, dass es etwas länger dauern würde, bis wir aufeinander eingestimmt waren. Stattdessen hatten wir uns von Anfang an auch körperlich beinahe blind verstanden und mir schien es oft in dieser ersten Zeit, als ob wir beide mit allem Nachdruck das Versäumte nachholen wollten. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie zuvor erlebt, mit keiner anderen Frau, ob Ylkanerin oder nicht, schon gar nicht mit Mendy. Aber dies war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt um an Mendy zu denken. Oder an irgendetwas zu denken.
Als wir uns voneinander lösten, drehte sie sich auf die Seite und ich legte mich wieder hinter sie. Wir verschränkten unsere Beine und ich war zu müde um mich groß zu wehren, als sie ihre immer noch kalten Füße an meine Schienbeine drückte. Der Schlaf kam so schnell, dass ich noch nicht einmal merkte, ob sie auch schon eingeschlafen war. Ich hörte mich selber Laute spielen, Stücke die ich niemals auf Anhieb fehlerlos und noch dazu auswendig in einem durchspielen konnte, wenn ich wach war. Jemand erklärte mir ernsthaft, dass die bahlesischen Mondlieder den heiligen Tempelgesängen von Sarbaldrann durchaus vergleichbar seien. Gerade als ich unsere ehemalige Hofbardin Terbalyn erkannt hatte, merkte ich, dass es Mayg Nelian war, die eine Laute waagerecht in Augenhöhe von sich weg hielt und kühl bemängelte, dass der Hals sich verzogen hatte. Es war meine Reiselaute und als ich sie wieder in den Händen hielt, gingen die Saiten so schwer, als wären sie am Hals festgeklebt. Nelian redete auf mich ein, aber ich verstand nicht, was sie von mir wollte. Dann hörte ich von fern her, wie ein Echo, das Tosen des schwarzen Wassers aus meinem alten, ständig wiederkehrenden Alptraum, aber bevor die Flut mich erreichen konnte, spürte ich Yonann neben mir, als hätte sie die ganze Zeit bei mir gestanden. Sie nahm nun meine Hände in ihre und zog mich zu sich. Es wurde dunkel um uns, und dann war da nichts mehr außer uns und das Nichts umgab uns wie ein Nebel, undurchdringlich, grau und erstickend. In meinem Traum war es, als hätte ich eine ähnliche Gabe wie Yonann, oder als würde ich genau wie sie fremde Gefühlsströmungen wahrnehmen können und dieser neue Sinn sagte mir, dass der Traumbruder in unserer Nähe war. Ich konnte ihn förmlich spüren, wie einen kalten Lufthauch unter einer warmen Sommerbrise, oder einen kalten Strom inmitten eines warmen Gewässers. Das Gefühl verstärkte sich und die vertraute Panik stieg in mir hoch, schnürte mir die Kehle zu, bis mir der Atem weg blieb. Doch Yonann hielt mich fest in den Armen und ich hörte sie im monotonen Singsang die heiligen Mondnamen aufsagen.
*El, Bel, Kul, Wal, Nol ..*
Ich konzentrierte mich auf ihre Stimme und zwang mich dazu im Kopf verschiedene Tonleitern durchzugehen, wieder und wieder bis meine Panik nachließ.
*Sieh ihn an, Yenda. Es ist nur ein Traum. Es kann nichts passieren. Sieh ihn an.*
Nach zwei weiteren Durchgängen war ich soweit, dass ich mich dem Traumbruder zuwenden konnte. Yonann bewegte sich leicht und dann war sie vor mir, deckte mich mit ihrem Körper. Ich hielt sie von hinten umfasst und sah über ihre Schulter hinweg dem Traumbruder an.
Er war uns sehr nah, fast zum greifen und doch schien es mir, als befände sich eine Barriere zwischen uns, zart und durchsichtig wie Spinnweben. Ich brachte es nicht über mich ihm in die schwarzen Augenhöhlen zu sehen. Er hielt seine Arme, knochig und dünn wie die eines Skeletts, seitwärts ausgebreitet und seine langen, dürren Finger verschmolzen mit dem nebligen Grau um uns, so dass ich nicht sehen konnte, wie weit er sie ausstrecken konnte und ob es ihm vielleicht gelingen könnte, uns zu berühren …
Und Yonann, Yl helfe uns, tat ein Gleiches, streckte ihre Arme aus, als wollte sie sich ihm darbieten, ihm zeigen, dass er nichts zu fürchten hatte von uns. Ich hörte oder besser fühlte wie sie ihn ansprach, zuerst wie ein fernes Echo, dann deutlicher.
*Geh nicht fort .. - .. keine Angst .. - .. sieh mich, sieh uns ...*
Yl sieh uns, dachte ich, betete ich. Oh Drachen steh uns bei.
Ein schwarzer kalter Schatten senkte sich über meine Gedanken.
*.. Schwester, will Schwester ... fort ... suchen, suchen, immer suchen ... wo ist … woowowo ...*
Yonann hielt ihm stand, obwohl ich spürte, dass auch sie das Grauen um den Traumbruder herum kaum noch aushielt.
*.. wer bist du...? * fragte sie, sanft und sehr langsam, fast unhörbar. *.. dein Name.. wie?..*
Ein neuerlicher kalter Schatten, doch diesmal stumm, fast als ob der Traumbruder keine Antwort auf die Frage wüsste. Yonann gab nicht auf.
*.. Bruder ..? Du Bruder .. du .. wer..?*
Ich konnte seine Verwirrung und Verständnislosigkeit fast körperlich spüren, wie schwarze matte Wellen an einem grauen, leeren Strand. Ich drückte mich fester an Yonann und hatte doch das Gefühl als würde sie mir entgleiten, sich auflösen in dem kalten Nebel. Ich versuchte zu sprechen, wollte sie bitten endlich aufzuhören und den Traumbruder sich selbst zu überlassen und brachte keinen Laut hervor, ja, vermochte mich kaum zu bewegen. Der Traumbruder zuckte auf einmal, wie im Krampf.
*.. Al-lliss ...? ... WO?!*
Alliss. Aridys. Ihr Name, wie ihn ein kleines Kind ausspricht, dem einige Laute noch zu schwer sind. So wie ihn meine Söhne aussprachen, weil sie beide den gleichen anfänglichen Sprachfehler aufwiesen wie ich selbst ihn gehabt hatte, bis ich ihn mit fünf oder sechs Jahren endlich überwand. Yonann schien das beinahe instinktiv zu verstehen.
*Al-liss ist Schwester … du bist Bruder ... wer...?*
Der schwarze Schatten dehnte sich zwischen uns und dann, noch bevor die Antwort von dem Traumbruder kam, wusste ich auf einmal mit blendender, beinahe unerträglicher Klarheit, was nun kam, was kommen musste. Der Schock riss mich aus meiner Lähmung. Ich sprach den Namen zugleich mit dem Traumbruder, als würden wir mit einer Stimme sprechen, als wären wir eins.
* .. Yeed-daa ..*
Mein eigener Name. Yenda.

Als ich wieder zu mir kam, hockte ich schweißgebadet und zähneklappernd auf dem Rand der Pritsche, mit dem Kopf in meinen Händen. Um mich herum war es stockdunkel und es dauerte eine gute Weile bis ich wieder wusste, wo ich mich befand und was geschehen war. Während der Schock langsam abebbte, hörte eine Stimme, die immer wieder und wieder halblaut murmelte ‚das kann nicht sein, das ist nicht wahr’ und dann merkte ich, dass ich selbst diese Worte fortwährend aufsagte, wie ein Gebet. Die Pritsche knarrte, als Yonann sich aufrichtete. Sie schlug eine Flamme mit dem Feuerreiber und entzündete die Kerze neben dem Bett, dann kam sie zu mir und nahm mich in die Arme.
„Schsch, Yenda, schsch, es wird alles gut…“
Ich drückte meinen Kopf an ihre Schulter und schloss die Augen, doch das Bild des Traumbruders - meines anderen Ichs - war wie in meine Gedanken eingebrannt.
„Es war nur ein Traum. Es ist nicht was du denkst.“
Ich verstand nicht wie sie so ruhig sein konnte. Bedeutete es ihr gar nichts, dass sie mein totes Ich - meinen Todeszwilling! - gesehen, ja mit ihm gesprochen hatte? Er sah aus wie meine Schwester, aber war männlich und er trug meinen Namen. Er war mein Abbild in Anns Todesspiegel und ich wusste, ich konnte nicht leben, solange er in meiner Nähe war und mich verfolgte.
„Yenda, warum fürchtest du ihn so? Er kann dir nichts anhaben.“
Ich starrte sie an, versuchte zu sprechen, brachte nur ein Krächzen hervor und musste husten.
„Er ist mein Todes- ...“
„Nein! Nein, Yenda, er ist nicht dein Todeszwilling. Er ist Aridys’ Bruder. Ihr anderer, richtiger Bruder.“
„Aber .. er trägt meinen Namen. Yeedda. So hat Aridys mich immer genannt. Als wir klein waren.“
„Wie soll er auch sonst heißen?“
„Ich .. was meinst du?“
„Was für einen Namen sollte er denn sonst haben? Die einzige, die ihn kannte, die ihm einen Namen geben konnte, war Aridys. Da war sonst niemand für ihn. Er war ihr Traumbruder, so wie du ihr Bruder in der Wirklichkeit warst. Für sie wart ihr ein und dieselbe Person. Solange ihr Kinder wart zumindest und vermutlich auch später.“
Ich wollte ihr so gerne glauben, aber brachte es einfach nicht über mich diese simple Erklärung zu akzeptieren. Die Furcht vor dem Todeszwilling steckte mir zu tief in den Knochen. Yonann drückte mich noch einmal, dann legte sie sich wieder hin. Als ich mich neben sie legte, bettete sie meinen Kopf auf ihren Arm.
„Du hast mir einmal erzählt, dass Aridys Alpträume hatte als Kind. Sie träumte, du würdest getötet werden oder wärst schon tot.“
„Ich glaube ja. Ich weiß es nicht mehr genau.“
„Dann hat sie von ihm geträumt, nicht von dir. Er wurde Teil ihrer Traumwelt und weil sie nicht wusste, dass sie vor dir schon einen anderen Bruder gehabt hatte, dachte sie, du wärst es. Und er behielt den Kindernamen, den sie ihm gab.“
Ich schloss meine Augen und versuchte mich zu erinnern. Aridys und ich als Kinder. Mit acht Jahren bekamen wir eigene Zimmer, aber noch lange Zeit später - selbst als wir schon fast erwachsen waren - gingen wir nachts häufiger zueinander ins Bett, wenn einer von uns nicht einschlafen konnte oder durch einen Alptraum wach wurde. Meistens war es Aridys, die zu mir kam, weil sie häufiger Alpträume hatte, aber auch ich verbrachte etliche Nächte in ihrem Bett. Uns beiden erschien dies völlig natürlich und alle Einwände und Bedenken der Familie und Schlossangestellten blieben uns unverständlich und vollkommen bedeutungslos. Sie war meine Zwillingsschwester, praktisch wie ein Teil von mir, wie mein anderes Ich. Wenn einem von uns etwas geschah, war der andere der erste, der es erfuhr. Als sie ihre erste Mondzeit bekam (der Beginn einer allmonatlich wiederkehrenden Qual für sie) wurde ich aus Angst und Ekel vor dem Blut mit ihr zusammen krank, und sie war die einzige, die mich niemals auslachte, als ich in den Stimmbruch kam oder ständig so viele Pickel im Gesicht hatte. Als sie sich einmal die Hand an einem heißen Kessel verbrühte, spürte ich den gleichen Schmerz an meiner eigenen Hand. Wir teilten und erlebten alles zusammen, die Veränderungen unserer Körper und unserer Interessen, unsere Erfolge und Niederlagen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Dabei wäre es mir nie im Traum eingefallen, sie als Frau zu begehren oder auch nur zu sehen, oder sie mich als Mann. Und so wie ich mir nie vorzustellen vermochte einen anderen Zwilling als sie zu haben, so wollte es nicht in meinen Kopf, dass sie jemals einen anderen Bruder als mich gehabt haben könnte, einen Bruder wie mich, der so eng mit ihr verbunden war wie wir beide es gewesen waren. Meine arme verlorene Schwester. Wie sehr ich es auch versuchte, ich konnte ihren Verlust einfach nicht verwinden, ihr Fehlen war mir ständig bewusst, wie eine Lücke, ein tiefe unüberbrückbare Leere in meinem Bewusstsein. Solange ich nicht wusste, was mit ihr geschehen war und wie es um sie stand, würde ich keine Ruhe mehr finden. Diese nicht enden wollende Qual trieb mich immer weiter dazu an sie zu suchen, koste es was es wolle – und wenn es mein eigenes Leben war.
„Aber - wenn es nun nicht so ist. Wenn Aridys doch keinen Bruder hatte, was dann? Könnte der Traumbruder nicht doch zu mir gehören, ein Teil von mir sein? Vielleicht ist er eine Art Traumzwilling, ein Echo von mir, oder der Geist von meinem toten Zwilling ...“
„Aber dann müsste dein Zwilling männlich gewesen sein. Ich dachte, er wäre weiblich gewesen.“
„Nein. Meine Mutter denkt das ... aber ich bin mir nicht so sicher. Ich habe Nagyn gefragt und er meinte, es hätte in der Vergangenheit schon immer Fälle gegeben, wo Zwillinge im Mutterleib miteinander verschmolzen sind. Manchmal kommen sie sogar so auf die Welt, zusammengewachsen am Kopf oder an den Hüften. Aber das entscheidende ist - es waren immer ausnahmslos gleiche Zwillinge. Niemals ungleiche.“
Yonann hielt den Atem an und ich fürchtete schon sie zu sehr schockiert zu haben.
„Zusammengewachsene .. Zwillinge?? Das habe ich noch nie gehört.“
„Es kommt sehr selten vor, aber in Ylkan hat es schon einige Fälle gegeben, weil wir so viele Zwillinge haben. Ich glaube, es gab auch im Clan einmal so ein Paar, aber es ist sehr lange her und sie lebten nicht lange.“
„Das kann ich mir denken. Oh Wyr - das muss so schrecklich sein ...“
„Es heißt auch, Ylkabor, der Traumbote von Yl, erscheint uns oft so, als zwei zusammengewachsene Menschen. Ich denke, viele hier würden solch ein Paar als die ideale Verkörperung von Yl sehen. Zwei in einem. Wie der Drache.“
„Mag sein. Ich könnte es nicht ertragen. Nicht für mein ganzes Leben.“
„Ich auch nicht. Und ich denke, die meisten von denen, die sich das so einfach vorstellen, würden es auch nicht aushalten können.“
„Aber um auf den Traumbruder zurückzukommen ... du meinst, nur weil er deinen Namen hat, kann er nicht Aridys’ Bruder sein?“
„Dann müsste er doch anders heißen.“
„Warum? Wenn er kurz nach der Geburt starb, hatte er vermutlich noch keinen Namen. Und wenn doch, woher sollte er seinen Namen kennen? Jemand hat ihm einen Namen gegeben und das kann nur Aridys gewesen sein.“
Eine Weile lagen wir schweigend beieinander, während ich versuchte mich an diesen Gedanke zu gewöhnen. Als ich schon dachte, Yonann wäre wieder eingeschlafen, sprach sie noch einmal.
„Und wenn er wirklich dein Todeszwilling wäre - würde er dann nicht deinen richtigen Namen haben? Warum nur der Kindername? Als Zwilling in Anns Spiegel müsste er deinen Namen tragen, vielleicht sogar rückwärts gelesen. Adney.“
Meine Hand krampfte sich unwillkürlich um ihre und sie ächzte und wand sie aus meinem Griff, während sich in meinem Kopf die unwiderlegbare Logik ihres Arguments mit meinen tiefsten Ängsten kreuzte. Ich konnte nicht dagegen an, es war so unendlich schwer Abstand zu dieser uralten Furcht zu gewinnen, die so tief in mir verwurzelt war. Die Vorstellung, mich selbst im Todesspiegel zu sehen und zu wissen, dass es keine Hoffnung mehr gab, war unerträglich für mich. In dem letzten Kapitel von Karvanyn-gel Yendas Werk über seine verlorene Schwester beschreibt er genau diese Situation; als er die Gestalt seiner Schwester in einem Spiegel sieht, gibt er sich selbst auf um, wenn schon nicht mit ihr vereint, so doch nicht länger von ihr getrennt zu sein. Als ich im roten Berg zum ersten Mal der Gestalt meiner Schwester gegenüber stand, fühlte ich mich ähnlich, bis ich erkannte, dass diese kalte und hasserfüllte Verkörperung ihrer Essenz nicht ihr wahres Selbst sein konnte. Seitdem schreckten mich meine alten Alpträume, in denen wir zusammen in den schwarzen Fluten umkamen, aus denen ich sie nicht retten konnte, nicht mehr so sehr wie früher. Stattdessen sah ich mich nun mit einer neuen Angst konfrontiert, der Angst vor meinem eigenem unwiderruflichem und gnadenlosem Ende, einem Ende, das kam, bevor ich irgendetwas erreicht hatte in meinem Leben, bevor ich meine Schwester endgültig gefunden hatte. Dieselbe Angst, die meinen Namensvetter sein ganzes Leben lang begleitet haben musste.
Bald war ich zu müde, um noch weiter darüber nachzugrübeln. Yonann schien das zu spüren und nach einer Weile merkte ich, dass sie wieder eingeschlafen war. Während ich noch versuchte, an anderes zu denken - wie Musikstücke, die ich gerade einübte, die beste Route, die wir morgen einschlagen sollten, wie ich meinen Schwestern aus dem Weg gehen könnte - glitt auch ich wieder unmerklich in den Schlaf hinüber.

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