Babas Welt
Dienstag, 22. Dezember 2009
Bücherliste 2009: 21.12.2009

Neu gelesen:

Lawrence Block, All the flowers are dying

Der - höchstwahrscheinlich - letzte Matthew Scudder der Serie, danach hab ich 'nur' noch die ersten vier Bände zu lesen. Hier kehrt der Killer vom letzten Band zurück und so wie es bis jetzt aussieht, wird es noch herbe Verluste zu beklagen geben, bis er erledigt ist. Aber mal abwarten.

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Kapitel 22

Kapitel 22

Im Jahr 399 nach der Landung, am 13. Tag des 1. Monds in Yls Jahrviertel

Als ich aufwachte, war es so dunkel, dass ich nicht gleich erkennen konnte wo ich war und wieder einmal mehr gegen die aufsteigende Panik ankämpfen musste. Doch dann hörte ich das stete dumpfe Trommeln des Regens auf den Dachplanen und spürte Yonanns Wärme neben mir. Als ich den Kopf zu ihr drehte, sah ich auch den schwachen Schein des verlöschenden Feuers. Eine Weile lag ich still da und überlegte schläfrig, ob es die Mühe lohnte ein paar Scheite nachzulegen, aber ich konnte mich noch nicht dazu überwinden, aufzustehen. Ich schloss die Augen wieder und vergewisserte mich noch einmal, dass mit dem Traumbruder alles in Ordnung war, damit ich nicht wieder einschlief und einen Alptraum bekam. Ich konnte aber nicht viel von ihm spüren, er verhielt sich ganz still, regungslos im schwarzen Nichts schwebend, als ob er auch schlafen würde oder in Trance verharrte. Vielleicht war er nur erschöpft von seiner endlosen Suche und wollte nun erst einmal abwarten.
Dann hörte ich das Geräusch noch einmal und wusste wieder, was mich geweckt hatte. Es kam vom anderen Ende der Hütte, dort wo der Eingang war, und es hörte sich an wie unsichere Schritte und Tasten in der Dunkelheit. Und nun, wo ich es wieder gehört hatte, wusste ich, dass ich nicht mehr einschlafen können würde, bevor ich nicht nach dem Rechten gesehen hatte.
Die Lampe stand noch bei dem Feuer. Ich legte ein paar Scheite nach und zündete die Lampe an. In ihrem Schein sah ich, dass die alte Frau nicht mehr an ihrem Platz lag. Yonann hatte ihr etwas zu essen und ein wenig Tee gegeben, als sie wieder aufgewacht war und auch versucht sie ein wenig zu waschen – Gesicht und Hände und vor allem die ziemlich mitgenommenen Füße, die aussahen, als wäre sie tagelang barfuss unterwegs gewesen. Dann hatten wir ihr auf der anderen Seite des Feuers ein neues Lager bereitet und sie war ganz friedlich wieder eingeschlafen. Jetzt lagen nur noch die beiden Decken dort.
Ich ging zum Ausgang der Hütte und hielt die Lampe dabei hoch. Die Plane über der Tür wölbte sich nach innen, wenn der Wind sich dagegen stemmte, wir hatten vergessen, sie an der Wand festzumachen. Als ich hinausschaute, wehte mir der kalte Regen ins Gesicht. Aber ich hatte richtig gehört, die alte Frau stand vor der Tür, die Arme fest an den Körper gedrückt, und starrte mit leerem Blick in die Dunkelheit. Sie reagierte weder auf meine Ansprache noch auf das Licht, erst als ich ihr eine Hand auf die Schulter legte, wandte sie sich mir zu und starrte mich an, mit einen angestrengten Ausdruck im Gesicht, als ob sie versuchte etwas zu verstehen. Sie legte eine Hand auf meine und lächelte plötzlich glücklich wie ein Kind.
„Da bist du ja. Sind deine Väter auch hier?“ Und ihr Lächeln erlosch so schnell, wie es gekommen war. Ich zog sie an der Hand zur Tür hin.
„Komm wieder rein, Tara. Es ist zu kalt hier, du holst dir den Tod.“
Zuerst folgte sie mir willig genug, doch dann blieb sie wieder stehen und sah ängstlich drein.
„Aber .. der Tee.. ich muss Tee bringen. Harim braucht Tee.“
Sie wandte sich wieder entschlossen dem Ausgang zu und ich konnte sie gerade noch festhalten. Als ich ihr einen Arm um die Schultern legte, hielt sie wieder wie lauschend inne.
„Harim braucht keinen Tee. Yonann hat ihm welchen gegeben. Komm jetzt schlafen, komm.“ Und als sie weiterhin regungslos dastand, fiel mir noch etwas ein.
„Dunuyee?“ fragte ich. Sie sah mich leer an. „Dunuyee? Das ist doch dein Name, oder?“
Sie wandte den Kopf ab. „Ich bin müde.“ Es klang fast wie bei einem quengeligem Kind. Ich schob sie sanft vor mir her und jetzt wehrte sie sich nicht mehr, sondern ging zurück zum Feuer, das jetzt hell flackerte, und legte sich wieder auf ihren Platz. Yonann war aufgewacht und half mir schweigend Dunuyee zuzudecken. Doch anstatt sich wieder hinzulegen, nahm sie die Lampe und ging zum Abort. Ich schürte das Feuer noch etwas nach und wickelte mich wieder in meine Decke. Yonann kam zurück, beugte sich kurz über die alte Frau, die schon wieder leise schnarchte und legte sich dann wieder zu mir. Wir rückten zusammen und schmiegten uns aneinander. Ich fühlte mich gar nicht mehr schläfrig, aber sie sah sehr müde aus. Als ich meine Arme um sie legte, zog sie meine Hand etwas tiefer und legte sie auf ihren Bauch, zwischen Bauchnabel und Scham und ich verstand.
„Deine Mondzeit?“
„Mmmm. Kannst du mich ein bisschen... ja so.“
Ich massierte ihr vorsichtig den Bauch, so wie ich es bei Aridys gelernt hatte.
„Das wurde ja auch Zeit. Du warst schon überfällig, oder?“
Yonann schloss die Augen. „Ein paar Tage, ja. Wahrscheinlich durch die Zeit im Rotberg.. Ich dachte, es würde noch etwas dauern.“
„Das ist doch egal. Du solltest jetzt schlafen.“
„Mmmm.“ Yonann drehte den Kopf zur Seite und eine Weile lagen wir still beieinander.
„Yenda? Meinst du wirklich, dass sie Dunuyee ist?“
„Ich glaube schon. Sie sagte gerade, sie müsste jemandem Tee bringen. So viele Menschen wohnen ja nicht hier. Es würde erklären, warum dieser Schäfer keinen Tee mehr bekommen hat. Und warum sie hier ist.“
„Mmm.“ Yonann drehte sich auf ihre Schlafseite, aber hielt meine Hand fest. Ich schmiegte mich an ihren Rücken, das Gesicht in ihren Haaren und versuchte wieder einzuschlafen. Dunuyees Schnarchen hielt mich noch eine Weile wach, aber schließlich gewöhnte ich mich auch daran.

Der folgende Tag erschien mir sehr lang, als wollte er einfach kein Ende nehmen. Und es war obendrein, als ob sich alles gegen uns verschworen hatte, als würde ein Fluch dafür sorgen, dass uns alles misslang und uns Unannehmlichkeiten bereitete.
Es fing mit dem Regen an. Seit Beginn unserer Reise hatte es immer wieder geregnet, aber noch nie so stark wie an diesem Tag, wo es mir vorkam als ob sich ein ganzes Meer aus dem Himmel nach und nach auf uns ergießen würde. Der Weg wurde davon immer schlammiger, so dass selbst Benkal öfter ausrutschte. Unsere Kleider, noch feucht vom Vorabend, waren bald wieder völlig durchnässt. Es gab nur wenig Bäume oder überhängende Felsen, die uns wenigstens zwischendurch ein wenig Schutz geboten hätten. Erst spät am Nachmittag fanden wir eine Art Windschutz, der wohl einer Schafherde als Schutz vor Schneestürmen gedient hatte. Der grob zusammen gezimmerte an einer Seite offene Unterstand war das erste menschliche Bauwerk nach dem Heuschober, das wir zu Gesicht bekamen. Die Karrenspuren, die den Pfad markierten, waren in dem Schlamm kaum noch auszumachen und ich konnte die Sorge nicht abschütteln, dass wir in dem unaufhörlichen Regen vom Weg abkommen und uns verirren könnten. Mein innerer Drang, der mich zu Aridys zog, wurde zwar immer stärker, aber auch, je näher ich ihr kam, immer unklarer. Manchmal erschien es mir sogar, als zöge es mich in drei Richtungen gleichzeitig, so wie sich der Wind ganz unvermutet dreht und mal aus der einen, dann aus der anderen Richtung bläst. Mitunter wurde es so stark, dass ich mit geschlossenen Augen stehen bleiben musste, um mich wieder zu sammeln.
Die anderen litten noch mehr unter dem Regen als ich. Yonann machte ihre Mondzeit zu schaffen, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen mochte und gegen Mittag musste sie immer öfter niesen. Bald bekam sie einen heißen Kopf und schnüffelte unglücklich vor sich hin und ich wusste, dass sie sich ernsthaft erkälten würde, wenn wir nicht bald einen warmen und trockenen Platz fanden. Und Dunuyee und Benkal waren kaum weniger schlecht dran.
Bis nach dem Frühstück waren wir ganz gut mit Dunuyee zurechtgekommen. Die meiste Zeit saß sie nur still da und stierte vor sich hin oder sah uns angestrengt forschend zu, wie wir Tee machten und unsere Sachen neu packten. Einmal ging sie entschlossen zur Tür, blieb aber stehen, noch bevor wir sie einholen konnten und klammerte sich an einem Dachpfosten fest. Yonann behielt sie im Auge, während ich die Sachen aussortierte, die wir nicht unbedingt brauchten. Dazu gehörte auch meine Laute, die ich schweren Herzens in ihrem Kasten hinter einigen Heuballen verbarg. Alles wehrte sich in mir dagegen, sie zurückzulassen, weil mich gerade diese Laute schon auf so vielen Reisen begleitet hatte. Meine anderen Lauten waren viel empfindlicher und vertrugen Temperaturschwankungen und Feuchtigkeit überhaupt nicht, aber diese war von der Lautenbaumeisterin Nev-Alarb in Nakurehn speziell für Barden angefertigt worden, die oft unterwegs sind, und war somit um einiges widerstandsfähiger. Nev-Alarb fertigt ihre Lauten nicht für jedermann und ich fühlte mich geehrt, eine Laute von ihr zu besitzen, dazu schätzte ich ihren klaren, harten und sauberen Klang. Aber hier in dieser Scheune konnte ihr eigentlich nichts passieren und wenn alles gut ging, würde ich sie bald wieder zurückhaben.
Wir probierten dann, ob Benkal Dunuyee und die Packtaschen tragen konnte, ohne dass wir selbst zuviel übernehmen mussten. In der Scheune hatte er auch nichts gegen die zusätzliche Last einzuwenden, nachdem wir Dunuyee mit viel gutem Zureden dazu gebracht hatten aufzusteigen. Aber kaum waren wir draußen und bahnten uns mühsam den Weg den schlammigen Hang hinunter zum Weg, wurde er immer langsamer und blieb mitunter sogar stehen, den Kopf mit den langen Ohren gesenkt, bis er mit den Nüstern fast den Boden streifte. Der Regen und der aufgeweichte Boden behagten ihm überhaupt nicht und wir konnten es ihm nicht verdenken. Ich erwartete halb und halb, dass er sich völlig verweigern würde, aber schließlich schien er sich mit dem Regen halbwegs abzufinden und trottete mit hängendem Kopf teilnahmslos und unglücklich vorwärts. Selbst seinen mittäglichen Haufen lud er eher gleichgültig und achtlos ab. Dunuyee saß anfangs noch still auf seinem Rücken, klammerte sich an den Packgurt und schien immer weiter in sich zu versinken. Aber später wurde sie immer unruhiger, rutschte hin und her, drehte sich um und versuchte mehrfach abzusteigen. Yonann und ich gingen zu beiden Seiten von Benkal her und hielten sie fest – es war mir schon mehrfach aufgefallen, dass es sie zu beruhigen schien, wenn sie eine Berührung spürte. Aber für Yonann wurde es zunehmend anstrengender sich gegen die Eindrücke abzuschirmen, die von der verwirrten Frau zu ihr überströmten und was durch ihre Schilde drang, bedrückte sie und stimmte sie melancholisch. So blieb es immer mehr an mir die alte Frau festzuhalten und dafür zu sorgen, dass sie nicht von Benkals Rücken rutschte. Ich wagte es nicht, zu fest zuzupacken aus Angst ihr wehzutun, denn sie war recht zierlich gebaut, mit dünnen und knochigen Armen und Handgelenken, und Yonann hatte mir immer wieder zu verstehen gegeben, wie weh es tat, wenn ich unbedacht fest zugriff.
So kamen wir nur langsam voran. Der schlammige Pfad führte weiter durch das hügelige Tal, an kleinen Wäldchen vorbei und über Wiesen, auf denen das Gras fast brusthoch stand, an einem Bach entlang, um schließlich immer weiter anzusteigen, ohne dass ein Ende des Berghangs abzusehen war. Der Pfad wand sich spiralförmig an dem Berg entlang und bei jeder Biegung hofften wir auf das Ende der Steigung und wurden doch wieder enttäuscht. Yonann blieb immer öfter stehen um sich zu verschnaufen. Ihr Gesicht unter der Kapuze war bleich und sie hatte dunkle Ringe unter den fiebrig glänzenden Augen. Benkal warf den Kopf und schüttelte sich, wenn es ihm zu nass wurde und Dunuyee drohte jedes Mal von seinem Rücken zu rutschen. Die alte Frau summte und schwatzte beständig vor sich hin, wippte mit den Füßen und ruderte mit den Armen wild durch die Luft, nur um dann wieder zusammenzuschrecken und sich fester als nötig am Packgurt festzuklammern, keuchend vor Angst und durch nichts zu bewegen loszulassen, bis wir ihr gut zugeredet und sie beruhigt hatten. Und dann fing wieder alles von vorne an.
Gegen Mittag machten wir eine kleine Pause bei einem mit Bäumen überwachsenen Steinhaufen. Eine Felsplatte hing ein wenig über, so dass eine kleine überdachte Höhle entstand, viel zu klein für uns, aber groß genug um darin ein Feuer zu entzünden. Yonann hatte die Idee gehabt und mit viel Geduld schafften wir es tatsächlich ein kleines Feuer in Gang zu bringen und die restliche Milch heiß zu machen. Yonann trank sie nur widerwillig und mit viel Himbeersaft, aber die Wärme tat ihr sichtlich gut. Auch Dunuyee schien es danach besser zu gehen. In einem unbeobachteten Moment ließ sie die Decke fallen und marschierte entschlossen in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren, aber als wir es merkten und hinter ihr her liefen, ließ sie sich ohne großen Widerstand wieder zurückbringen. Vielleicht war sie auch zu erschöpft dazu.
Als wir am Nachmittag einen Schafunterstand am Wegrand fanden, ließ auch der Regen endlich etwas nach und hörte ab und zu sogar ganz auf. Die Wolken hingen aber weiter schwer über den Berggipfeln und an den Abhängen und zwischen den Baumwipfeln klebten feuchte, weißgraue Nebelschwaden. Wir blieben mehr als eine Stunde in dem Unterstand, obwohl in mir alles wieder zum Aufbruch drängte, nachdem wir uns aufgewärmt und trockene Kleidung angezogen hatten. Ich spürte auch wie der Traumbruder immer unruhiger wurde, aber Yonann hatte sich hingelegt, mit dem Kopf auf einem Packstück, und ich brachte es nicht über mich, ihr die Ruhe zu nehmen, die sie so bitter nötig hatte. Schließlich ging ich alleine ein Stück weiter auf dem Pfad und stieg auf einen kleinen Hügel, um mir eine Übersicht zu verschaffen. Und dann sah ich das Windstal, oder besser den Eingang zum Tal zwischen zwei massiven Berghängen. Es war nicht mehr sehr weit, vielleicht ein bis zwei Stunden. Natürlich konnte es auch ein anderes Tal sein, aber irgendwie wusste ich, dass es nur das Windstal sein konnte, das wir suchten.
Ich hatte befürchtet, Yonann wecken zu müssen, aber sie setzte sich auf, kaum dass ich den Unterstand erreicht hatte und packte wortlos unsere Sachen wieder zusammen. Dunuyee ließ sich träumerisch lächelnd auf Benkals Rücken helfen und auch dem Packtier schien die Pause gut getan zu haben. Es hatte erst einmal aufgehört zu regnen und wenn auch der Boden sehr weich und schlammig war und uns der Wind immer wieder Wasserstaub ins Gesicht blies, so kamen wir doch besser voran als vorher.
Der Pfad wand sich um den Hügel herum, den ich erstiegen hatte und nicht weit dahinter kamen wir an einer uralten mächtigen Bergkiefer vorbei, die sich zwischen zwei Felsbrocken emporgearbeitet hatte und sie nun überragte. Dunuyee zeigte lachend auf die Kiefer.
„Nicht mehr weit!“ sagte sie fröhlich. „Nicht mehr weit! Bald gibt es Abendbrot!“
„Schön wär’s“ murmelte Yonann. Dunuyee wiegte sich im Sattel hin und her und summte in einem fort „nicht mehr weit, nicht mehr weit“ vor sich hin. So lästig es auch war, irgendwie munterte es auch auf. Es zeigte auch, dass wir auf dem richtigen Weg waren, zu Dunuyees Heim, wo immer es auch sein mochte.
Und tatsächlich war es nicht mehr so weit. Als wir den Eingang des Tales erreichten, stand die Sonne schon hinter den Bergen, aber es war noch hell genug, dass ich sehen konnte, dass der Pfad hinter dem Durchgang zwischen den beiden Berghängen nach rechts abbog und am Abhang entlang führte. Zu unserer Linken lag das Tal, schmal und eng, aber mit einem Bach in der Mitte – er musste wohl irgendwo auf der anderen Talseite entspringen oder aus einer Bergspalte herauskommen – und kleinen Wiesen und Auen. Auch entlang des Pfades gab es Wiesen und dann sahen wir einen Zaun. Eine größere Wiese war mit grob gezimmerten Brettern und Pfählen eingezäunt worden, vermutlich um als Kuhweide zu dienen. Es standen keine Tiere darauf, falls sie so spät im Jahr noch draußen gelassen wurden, waren sie jetzt wohl gerade zum melken reingeholt worden. Wir kamen dann noch an weiteren Weiden vorbei und hie und da waren auch Felder angelegt worden, Rüben und Hafer zumeist für Tierfutter. Hinter den Feldern zum Bach hin standen Obstbäume, kleine Haine von krummen, mit Flechten überzogenen Apfelbäumen und hie und da Aprikosen. Hier oben wo das Klima etwas rauer war, würden die Äpfel wohl noch ein paar Wochen länger brauchen, in den Hainen bei Ylkyr waren sie vermutlich schon bei der Ernte...
„Komm, wir sind gleich da!“ sagte Dunuyee eifrig, und tatsächlich, nicht weit vor uns lag der Hof. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich kaum noch auf den Weg geachtet hatte und der Hof lag so weit im Schatten, dass wir ihn in der Dämmerung kaum hätten ausmachen können, selbst wenn aus einem Fenster Licht gekommen wäre. Aber da war kein Licht zu sehen, es war, als wäre er leer und vollkommen verlassen. Aber Dunuyee schien das nicht zu kümmern, sie trieb Benkal zur Eile an und strebte auf den dunklen Hofeingang zu, so dass ich kaum Schritt halten konnte und Yonann etwas zurückblieb. Und dann schlugen die Hunde an und es zeigte sich, dass der Hof doch nicht so verlassen war, wie er aussah. Die Hunde kamen hinter dem hohen, massiven Tor hervor aus vollem Halse bellend auf uns zugefegt. Benkal blieb schnaubend und kopfwerfend stehend und ich legte einen Arm um seinen Hals und führte ihn langsam weiter. Im Hofeingang stand eine Gestalt, die eine Laterne hielt. Die Hunde, zwei große Tiere mit dichtem, dunkelbraunem Fell und Schlappohren, hatten uns erreicht und umkreisten uns bellend, dabei schien es mir aber, als ob sich ihr Misstrauen hauptsächlich gegen Benkal und Yonann richtete. Sobald sie Dunuyee ansahen, wedelten sie mit den Schwänzen und mich bellten sie zwar an, aber ohne ernstere Drohung. Sie ließen zu, dass wir uns langsam dem Eingang näherten, wobei sie uns unaufhörlich umkreisten und nicht aus den Augen ließen.
Im Eingang standen nun zwei Gestalten. Es waren zwei Frauen, die zweite hielt etwas in der Hand, das verdächtig nach einem schweren Knüttel aussah. Die erste Frau mit der Lampe rief plötzlich etwas und lief auf uns zu, während die andere unschlüssig unter dem Tor stehen blieb. Als die Frau mit der Lampe näher kam, konnte ich auch verstehen, was sie rief.
„Doran?? Was machst du hier? Du darfst doch nicht kommen! Willst du uns umbringen? Ist etwas passiert? Was denkst du dir denn... Oh, heiliger Drachen, Uma!! Es ist Uma! Wo hast du sie gefunden?“ Sie stürzte auf Dunuyee zu und riss sie in die Arme, lachend und weinend zugleich. Sie hatte sich in ein großes Schultertuch gewickelt, aber ich konnte erkennen, dass sie schon älter war, vielleicht ein paar Jahre älter als meine Zwillingsväter. Und sie war eindeutig ylkanisch, auch wenn sie nohkrei sprach, ihre kurzen grauen Haare waren glatt und hart wie Draht und sie hatte die hellblauen Augen und hohen Wangenknochen der Südylkaner.
„Oh Uma, warum bist du denn weggelaufen? Wo warst du nur? Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wir dachten du wärst tot! Komm, ich bringe dich rein, du bist ganz kalt, du musst ins Bett... Wem gehört denn das Packtier hier? Oh.. und – wer ist das?“
Yonann hatte inzwischen aufgeholt und blieb hinter Benkal abwartend stehen. Die Frau starrte sie verwirrt an, dann drehte sie sich abrupt zu mir um und starrte mich entsetzt mit offenem Mund an.
„Du .. du bist nicht... Um Yls willen, wer seid ihr?“
Ich blieb stehen, um sie nicht noch mehr zu verängstigen.
„Das ist Ta- Yonann aus Baleh. Und ich bin Yenda.“
Sie atmete schwer und verkrampfte ihre Hände. „Yenda? Aber.. Yenda und weiter?“
„Dariv e Isan-gel Yenda“ fügte ich hinzu und die Frau ächzte und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Ich hörte wie die andere Frau hinter mir näher kam und drehte mich zu ihr um. Sie sah der ersten Frau zum Verwechseln ähnlich. Das waren also die Ylma-an vom Windstal, von denen der Schäfer gesprochen hatte. Die zweite Frau trat wortlos zu ihrer Schwester und legte beschützend den Arm um sie.
„Kia, sag besser nichts mehr, hörst du?“
„Aber Chan, er sagt, er wäre Darivs -...“ und die Kia schluckte schwer.
„Ich hab es gehört. Sei trotzdem still.“ Chan - ich vermutete, dass es die Abkürzung von Charann war – sah mich kurz an und schnell wieder weg.
„Es muss aber Rodan-gel heißen“ sagte Dunuyee quengelig. Sie saß noch auf Benkal und starrte mich vorwurfsvoll an, die Unterlippe schmollend vorgeschoben. „Rodan-gel, nicht Dariv-gel. So ist es richtig.“
Für einen langen Moment schien es, als wären wir alle zu Salzsäulen erstarrt. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als steckte mein Kopf in einem Schraubstock, und die Luft blieb mir weg. Der Traumbruder ballte sich zusammen und umgab sich mit Schwärze, eine dunkle Wolke, die hinter meinen Augen hochstieg...
Als Yonann das Schweigen brach, merkte ich es erst gar nicht. Sie stand auf einmal neben den beiden Schwestern und redete eindringlich auf sie ein.
„…wir kommen in guter Absicht. Bitte, wir wollen euch nichts Böses. Wir haben Uma – heißt sie Uma? – gestern abend in der Schutzhütte gefunden... Sie sollte sich ausruhen, der Tag war sehr anstrengend.“
Die Schwestern schienen wieder zu sich zu kommen. Chan nahm die alte Frau – Uma ist das ylkanische Wort für Mutter – wortlos in die Arme und trug sie zum Hof, während Dunuyee ihr die Arme um den Hals schlang wie ein Kind. Kia starrte ihr nach, ihre Oberlippe zitterte und sie schluckte schwer, dann räusperte sie sich und sagte schließlich mit schwankender Stimme:
„Bitte .. kommt beide mit. Ja, euer Packtier kann bei uns in den Stall. Wir haben noch Platz, ja. Ihr seid sicher... hungrig, ja, und müde?“ Sie sah wieder scheu zu mir und schnell wieder weg. „Also.. dann gehen wir jetzt rein. Chan wird Dunuyee versorgen... und dann..ja..“ Es war als wollte sie sich durch Reden wieder ihre Fassung zurückgewinnen. Yonann nickte nur und murmelte Zustimmung, während sie Benkal am Zügel nahm und Kia folgte, die so schnell zum Hof hastete, dass wir kaum nachkamen. Yonann nahm meine Hand und sah mir forschend ins Gesicht und ich zwang mir ein Lächeln ab.
„Geht es dir gut?“ fragte sie halblaut.
„Ja, es ist alles in Ordnung.“ Ich merkte, dass ich lauter sprach als beabsichtigt und nicht sehr überzeugend auf Yonann wirkte. „Mach dir keine Sorgen.“
Ich sah ihr ins Gesicht und konnte ihr die Gedanken förmlich vom Gesicht lesen. Sie hatte gesehen, wie meine Zwillingsväter mit meiner Mutter umgingen, als wären sie beide mit ihr verheiratet, und wie sie mich behandelten, als spielte es überhaupt keine Rolle, wer Vater und wer Onkel war. Sie hatte mir erzählt, wie gleich meine Väter für sie aussahen, aber wie unterschiedlich sie sich für sie anfühlten und dass Rodan mir in seinen Gefühlen und Stimmungen viel ähnlicher war als Dariv, und es war, als ob sie alles, vor dem ich mein Leben lang die Augen verschlossen hatte, auf Anhieb erkannt hatte. Mein Magen fühlte sich an wie ein Steinklumpen und im Nacken sammelte sich kalter Schweiß. Yonann sah weg und drückte nur stumm meine Hand.

„Warum seid ihr gekommen?“ fragte Kia. Es hatte lange gedauert, bis sie sich zu dieser direkten Frage überwinden konnte und sie sah mich dabei auch nicht an. Ihre Schwester öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen und klappte ihn wieder zu.
„Ich suche meine Schwester“ sagte ich so ruhig wie möglich, in einem Ton, der alles andere ausschloss, was seit Dunuyees Einspruch förmlich wie Nebel in der Luft gehangen hatte.
Kia hob den Kopf und beide Schwestern starrten mich verblüfft an, mit völlig gleichem Gesichtsausdruck.
„Deine Schwester? Deine Ylma? Du hast sie verloren? Aber wir .. wir kennen deine Schwester nicht. Wer hat gesagt, sie wäre hier?“
„Nicht hier, aber hier in der Nähe. Sie muss hier vorbeigekommen – vorbeigebracht worden sein. Sie sind hier vorbeigekommen, oder nicht? Die beiden alten Magier?“
Die Schwestern starrten uns an und schwiegen. Yonann neben mir bewegte sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Ich hatte gedacht, sie wäre zu erschöpft gewesen, um mit mir aufzubleiben. Die Schwestern hatten uns gut versorgt, Benkal war gut im warmen Stall untergebracht worden, und für uns hatte es sogar außer warmer Kleidung und heißer Suppe mit Brot und Käse sogar ein warmes Bad gegeben. Hinter dem Hauptgebäude des Hofes befand sich ein Badhaus, wo jemand vor längerer Zeit eine heiße Quelle durch ein Rohr abgeleitet hatte, so dass sich das warme Wasser in einem Becken sammelte, bevor es hinter dem Haus abfloss. Die Anlage war primitiv, aber erfüllte ihren Zweck. Yonann hatte sich einen ihrer hochwirksamen Erkältungstees bereitet und schien sich von den Anstrengungen des Tages wieder einigermaßen erholt zu haben.
Wir saßen in der großen Hofsküche, die aussah, als könnte sie den gesamten Gardistentrupp meiner Schwestern aufnehmen und immer noch etlichen Leuten Platz bieten. Im Herd brannte ein gutes Feuer und ich spürte keinen kalten Zug von den Fenstern oder der Tür her, wie sonst so oft bei so großen Küchen, demnach musste das Gebäude gut instand gehalten worden sein. Ich konnte aber andere Spuren des Verfalls sehen, Spinnweben in den Ecken, schadhafte Stellen in den Dielen, Löcher in der Tischdecke und Stapel von schmutzigem Geschirr in der großen Spüle, das sich schon seit einiger Zeit dort angehäuft haben musste. Ähnliche Dinge hatte ich im Stall gesehen, alte Dunghaufen, fauliges Stroh und andere Sachen, die sich ansammeln, wenn zu wenige Leute zu viel Arbeit erledigen müssen. Jetzt, wo ich die Gesichter der beiden Schwestern im Licht der Küchenlampe und des Feuers besser sehen konnte, sah ich ihnen die Spuren dieser Überarbeitung an: graue Ränder unter ihren Augen, die tiefen Falten um die Mundwinkel, die glanzlosen Haare und ihre angestrengte Art zu atmen.
„Was ist hier passiert?“ fragte Yonann weich. „Wir haben diesen alten Schäfer getroffen und er sagte, die Ylmun wären nicht gekommen, obwohl es so abgemacht worden war. Er machte sich Sorgen.“
Kia und Charann sahen sich an.
„Schäfer? Ach so, Harim. Der ist doch verrückt. Gebt nichts auf ihn. Wir haben schon lange nichts mehr mit ihm zu tun.“
„Dunuyee wollte ihm Tee bringen…“ sagte Yonann. Kia schüttelte den Kopf.
„Dunuyee.. Uma – sie ist nicht mehr bei sich. Seit einigen Jahren schon. Deshalb ist sie fortgelaufen – uns entwischt. Yl, was haben wir uns für Sorgen gemacht! Wir dachten wir sehen sie nicht wieder...“
„Warum habt ihr sie nicht gesucht?“ fragte ich.
„Haben wir doch… aber im Tal, nicht auf dem Weg... und wir haben nicht gleich gemerkt, dass sie weg war. Wir mussten sie alleine lassen, eigentlich hätte sie nicht rauskommen können ...“
„Ist sonst keiner da, der sich um sie kümmern kann? Warum seid ihr alleine? Wo sind die Ylmun? Habt ihr nicht noch mehr Kinder?“
Charann stand abrupt auf. „Ihr dürft nicht fragen!“ stieß sie harsch hervor. „Warum fragt ihr so viel? Ihr wisst doch schon alles! Der Tarlonmayg hat euch kommen lassen, oder nicht? Wo sind die Gardisten?“
„Welche Gardisten?“ fragte Yonann und „Tarlonmayg??!“ fragte ich. Der Ausdruck schockierte mich, er bezeichnete einen Traummagier, der gleichzeitig Angehöriger eines Clans ist und bei der Königsfamilie lebt, statt in der Akademie für Traummagie, wie es fast alle Maygs tun. Es gibt nur sehr wenige Traummagier in den Clans und diese Wenigen schließen sich meist einer Akademie an und verzichten auf ihre Clanrechte.
„Er ist kein Tarlonmayg!“ Ich merkte erst, dass ich aufgesprungen war, als der Stuhl hinter mir umfiel. Die Wut drohte mich förmlich zu ersticken. „Er ist ein Mörder! Er hat mir meine Schwester genommen – wenn ich ihn finde, bringe ich ihn um! Also wo ist er? Wo habt ihr ihn versteckt, und wo ist meine Schwester?“
Selbst Yonann zuckte erschrocken vor meinem Gebrüll zusammen. Kia klammerte sich an ihre Schwester und versuchte sie wieder auf ihren Stuhl zu ziehen. Charann starrte mich an und schluckte, ihre Hände zitterten.
„Bitte.. wir haben doch nicht... wir können nicht...“
„Was hat er euch getan, warum habt ihr Angst vor ihm?“ fragte Yonann ruhig. Sie stand auf, ging um den Tisch herum und legte Charann eine Hand auf die Schulter. An Yonanns Gesichtsausdruck konnte ich sehen, dass Charann so erregt war, dass ihre Schilde dem nicht standhalten konnten. Vielleicht spürte sie auch Kias Gefühle über ihre Schwester mit.
„Er hat unsere Kinder und unsere Enkel. Der Ta- der Mayg und seine Schwester, sie haben sie alle mitgenommen... nur uns hat er hier gelassen und Dunuyee. Sie kamen Anfang des Jahres her, im letzten Wyrmond. Sie blieben eine Weile hier und dann zogen sie weiter.“
Ich wollte etwas einwerfen, nachfragen, aber Yonann sah mich warnend an und ich besann mich, stellte den Stuhl wieder hin und setzte mich. Der Traumbruder ballte sich in einer hinteren Ecke meines Bewusstseins zusammen und verhielt sich still.
„Sie haben alles mitgenommen. Nicht nur unsere Familie, auch unsere Vorräte, unsere besten Kühe und Ziegen. Und jeden Viertelmond schicken sie einen der Ylmun oder eine unserer Töchter um Nachschub. Wir haben bald nichts mehr, ich weiß nicht, wie wir uns und Uma durch den Winter bringen sollen.“ Charanns Unterlippe zitterte und ihre Stimme bebte.
„Und Rika ist schwanger und wir können nicht bei ihr sein“ fügte Kia hinzu.
„Rika? Eure Tochter?“
„Dorans Frau. Doran und Rivor, das sind unsere Enkel.“
„Die Jungylmun?“ Yonann lächelte. „Harim hat sie erwähnt. Wie alt sind sie jetzt?“
„Neunzehn im letzten Balviertel.“
„Dann müsst ihr eure Tochter – ihre Mutter – auch sehr früh bekommen haben?“
Charann sah zu Yonann hoch und dann auf mich. Ihr Kiefer mahlte. Yonann wirkte etwas unschlüssig und setzte sich schließlich neben sie. Eine Weile herrschte peinliches Schweigen.
„Sie waren hier“ sagte ich schließlich. „Meine Zwillingsväter – sie waren hier, oder nicht?“
Kia zog hörbar die Luft durch die Zähne. Charann ballte die Fäuste und fixierte mich angriffslustig über den Tisch hinweg.
„Und wenn schon! Es ist so lange her! Und wir wussten es nicht! Wir wussten nicht, dass sie Tarlonel waren, sie haben es uns nicht gesagt! Uma wusste es, ja. Aber sie hat es uns auch nicht gesagt! Erst als sie wieder weg waren. Und wir wussten nichts von dem Gesetz ... dass es verboten ist ...“
„Verboten? Was denn verboten?“ fragte Yonann überrascht.
„Das Gesetz gegen ‚Brianart Ylmen“ – heimliche Kinder von ylkanischen Clanangehörigen.“ Ich zwang mich dazu ruhig zu sprechen. „Dieses Gesetz war in der Regierungszeit der vorherigen Kerlenel noch gültig, sie achteten sogar besonders scharf darauf, dass es eingehalten wurde. Aber meine Zwillingsväter haben es erst gemildert und dann ganz abgeschafft. Es kann heute niemand mehr dafür bestraft werden. Der Magier hat euch belogen.“
Charann schüttelte eigensinnig den Kopf. „Das kann ja sein. Aber wenn bekannt wird, dass unsere Kinder und Enkel Nachkommen von Tar- ... von Euren Zwillingsvätern sind, dann ... dann wird man sie uns fortnehmen. Sie müssen in Ylkan leben, bei dem Clan. So ist das Gesetz, oder nicht? Aber das dürfen sie nicht, wir brauchen sie hier, hier ist ihre Heimat...“
Yonann legte einen Arm um sie. „Keine Angst. Von mir wird es keiner erfahren. Und von Yenda auch nicht. Warum auch? Niemandem wäre damit geholfen. Wenn wir es niemandem sagen, wird es auch niemand sonst erfahren.“
„Aber der Mayg wusste es. Er hat uns damit gedroht. Er wird es jedem erzählen, wenn wir nicht tun, was er sagt.“
„Er wird keine Gelegenheit dazu haben, dafür werde ich sorgen.“ Die kalte Wut war mir bei der bloßen Erwähnung des Mannes hochgekommen und ich hörte, wie sie in meiner Stimme mitschwang. „Bei mir ist das Geheimnis auch sicher und wenn meine Schwestern es irgendwie herausfinden sollten, werden sie auch nichts sagen. Dafür werde ich sorgen.“
„Eure Schwestern??!“ Charann schreckte hoch. „Wen meint ihr? Kommen sie auch her? Ich dachte ihr beide seid allein?“
„Sie sind nicht mehr weit von uns entfernt, wahrscheinlich werden sie morgen oder übermorgen hier eintreffen. Aber ihr braucht sie nicht zu fürchten. Sie sind Gardisten, sicherlich -“ Kia ächzte leise „- aber sie sind auch meine Schwestern. Halbschwestern eurer Ylmen...“
„Töchter…“ verbesserte Kia mechanisch. „Wir hatten vier Kinder, alles Töchter. Ein gleiches und ein ungleiches Paar. Charanns Zwillinge sind gestorben, Veran bei der Geburt von Doran und Rivor, und Kyarin ... danach.“
Yonann drückte Charann fester an sich. Kia schloss müde die Augen.
„Wenn Eure Schwestern hierher kommen, werden sie es herausfinden“ sagte sie. „Wenn sie die Ylmun sehen - sie … sie sehen genauso aus wie ihre Großväter. Noch mehr als Ihr – und Ihr seid ihnen schon so ähnlich. Deshalb habe ich mich so erschrocken, als ich Euch sah, draußen vor dem Tor.“
„Ihr braucht ihnen aber erst einmal nichts zu sagen. Nichts davon, wie euch der Mayg erpresst und nichts von den Vätern eurer Kinder. Der Mayg ist hier vorbeigekommen und hat eure Kinder und euer Vieh mitgenommen. Das reicht schon.“
Kia sah immer noch zweifelnd drein, aber Charann schob grimmig das Kinn vor und nickte. Ich hatte das Gefühl, meine Schwestern würden an ihr eine harte Nuss zu knacken haben.
„Und Ihr, was werdet Ihr tun?“ fragte Kia zögernd. „Eure Ylma – ist sie wirklich bei dem Mayg? Ich hab niemanden gesehen, der sie sein könnte...“
„Sie ist nicht meine Blutsschwester. Hatten die Magier nicht eine junge Frau bei sich? Bewusstlos und vielleicht krank?“
Kia presste die Hände auf den Mund und starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Charann blickte zur Seite und zwinkerte heftig.
„Das... ist Eure Schwester? Eure Ylma?!“
„Meine erwählte Schwester. Ja. Was ist mit ihr? Wie geht es ihr?“
Kia biss sich auf ihren Daumen. Charann löste sich von Yonann, stand auf und ging langsam um den Tisch herum, bis sie vor mir stand.
„Was ist mit deinem richtigen Ylm?“ fragte sie schließlich. Am Rande war ich froh, dass sie endlich zu der formlosen Anrede übergegangen war.
„Ich wurde ohne Ylm geboren. Er ist wahrscheinlich schon gestorben, als meine Mutter mit uns schwanger war.“
Charann starrte mich groß an, mit halboffenem Mund. Sie sank langsam auf den Stuhl neben mir, auf dem Yonann gesessen hatte, und nahm zögernd meine Hand in ihre. Ihre Handflächen waren rau und abgearbeitet.
„Du hast keinen Ylm?? Aber…Das ist so seltsam ... Wir haben davon gehört, dass es im Königshaus einen Tarlon ohne Ylm gibt... Aber wir wussten nicht, dass es einer von Darivs Kindern war. Wir hören so wenig hier... Die letzte Königswahl, da .. wussten wir noch nicht einmal wer gewählt worden war. Lange Zeit wussten wir nicht, dass sie nun Könige waren... dass sie gewählt wurden. Wir konnten ja auch nicht fragen, sonst hätte vielleicht einer etwas gemerkt. Es gibt nur wenig Besucher und wenn sie Nachrichten bringen, dann will es keiner wissen. Ohne Ylm, oh heiliger Drachen … Wie viele Geschwister hast du noch? Nur deine Schwestern?“
„Noch zwei ältere Brüder. Halbbrüder. Oder eigentlich... oh Drachen…“ Ich wollte fortfahren und stockte. Charann wandte den Blick ab und schüttelte müde den Kopf.
„Ich weiß, ich weiß. Es sind immer noch deine Geschwister. Was Dunuyee gesagt hat, macht keinen Unterschied. Es stimmt wahrscheinlich, ja, aber du musst nichts darauf geben. Sie hat diese Gabe… Sie weiß alles von einem Menschen, wenn sie ihn berührt. Wer seine Eltern sind... wie alt er ist ... was er denkt und fühlt... selbst jetzt noch! Sie kennt sich selber nicht mehr, aber sie hat immer noch diese Gabe. Sie kann sie nur nicht mehr richtig deuten. Sie hat sich vollkommen verändert - aber ihre Gabe ist geblieben. Das ist so seltsam, nicht wahr? Aber es stimmt.“
„Das ist oft so bei Menschen, die eine Clangabe haben und an dem Weißen Vergessen erkranken“ warf Yonann ruhig ein.
„Eine Clangabe? Aber Dunuyee gehört zu keinem Clan.“
„Es gibt eine freie Gabe, die nicht clangebunden ist. Man nennt sie auch Nakurs Gabe. Ich bin sicher, dass es bei Dunuyee diese Gabe ist.“
Charann zuckte unsicher die Schultern. „Mag sein. Sie hat sie schon immer gehabt.“
„Und wenn es stimmt, was sie über mich gesagt hat, dann..“
„Dann ist Rodan dein Vater“ mischte Kia sich ein. „Und? Dunuyee sagte es ihm einmal, ich erinnere mich jetzt. Sie sagte, er würde nur ein Kind haben können. Wir haben ihn deswegen bedauert, und er wollte es nicht glauben. Aber nun stimmt es wohl doch.“
„Aber eure Töchter? War nicht ein Paar von ihm?“
Kia und Charann sahen sich an und schwiegen. Yonann gab einen seltsamen Laut von sich, fast wie ein Räuspern – oder sogar ein unterdrücktes Kichern. Als ich sie befremdet ansah, wandte sie den Kopf ab. Charann war meinem Blick gefolgt. Auf einmal merkte ich, dass sie rot geworden war.
„Wir .. wir wissen nicht genau… wer der Vater unserer Kinder ist. Dunuyee sagte immer, alle vier – beide Zwillingspaare wären von Dariv. Und wir glauben ihr.“
Kia lachte auf einmal, kurz und trocken. „Sie waren vier Monde hier. Vier Monde, mehr als ein Jahrviertel...“ sagte sie. „Dunuyee brachte sie her, im zweiten Balmond. Sie hatten Schwierigkeiten gehabt. Jemand hatte ihnen Schlimmes angetan – sie haben nie erzählt was, auch Dunuyee nicht. Sie hatte sie irgendwie gefunden und dann hierher gebracht. Dunuyee wollte, dass wir mit ihnen Kinder haben. Sie ist verrückt nach Kindern, wollte immerzu welche ins Tal bringen. So wie uns… sie hat uns aus einem Waisenhaus geholt, als wir klein waren. Wir dachten, sie wäre verrückt und haben nichts drauf gegeben. Und die beiden – als sie herkamen, waren sie noch so jung, fast noch Kinder. Jünger als ich und Chan. Und sie waren so – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll...“
„Arrogant? Eingebildet? Wild?“ schlug Yonann lächelnd vor. Kia lächelte erst fast wider Willen und dann lachte sie doch richtig.
„Ja, ganz genauso. Zuerst haben wir uns nur gestritten. Aber irgendwann.. haben wir uns doch vertragen. Und dann waren wir die ganze Zeit zusammen. Hier im Tal, einen Sommer lang. Bis sie gehen mussten, am Ende von Anns Jahrviertel. Sie wollten erst nicht, sie sagten, sie dürften nicht mehr zu ihrer Familie zurück. Da wussten wir noch nicht, dass sie Tarlonel waren, sie haben es nicht gesagt, Dunuyee hatte es ihnen verboten. Sie hat sie schließlich überzeugt, dass sie gehen mussten. Sie wusste, dass wir beide schwanger waren. Aber sie sagte es ihnen nicht und verbot uns es ihnen zu sagen. Ich bin sicher, dass sie es beide nicht wussten. Wahrscheinlich wissen sie es auch heute nicht.“
„Vielleicht ahnten sie es“ meinte Yonann. Kia zuckte die Achseln.
„Vielleicht. Aber sie konnten ja nichts tun. Wenn sie Nachforschungen angestellt hätten, wäre alles raus gekommen. Wir dachten immer, sie bewahren unser Geheimnis und wir bewahren ihres.“
Yonann beugte sich etwas vor. „Wie konnte denn der Mayg davon erfahren haben?“
Charann schüttelte den Kopf. „Als sie herkamen, da war es, als ob er schon alles wusste. Schon bevor er uns sah, bevor er die Ylmun sah. Er hat uns Angst gemacht und uns gedroht, und wir taten alles, was er wollte. Dunuyee hätte etwas gegen ihn machen können, früher. Aber nun hatte sie fast am meisten Angst vor ihm, mehr als jeder andere. Die ganze Zeit, wo der Mayg und seine Schwester hier waren, hat sie sich versteckt. Erst als sie wegzogen, hat sie sich beruhigt.“
„Und wo sind sie hingezogen? Und was ist mit meiner Schwester?“
Charann schlug die Augen nieder.
„Deine Schwester.. ja, sie haben sie mit sich, aber oh Yl... es war so schrecklich. Ich konnte es nicht mit ansehen. Sie war so abgemagert. Kaum noch am Leben. Und sie war nicht bei sich.“
„Lebt sie noch?“ Ich brachte die Frage kaum über die Lippen. Der Traumbruder bewegte sich schwach und mir wurde schwindelig. Charann sah mich kummervoll an.
„Als Doran zuletzt hier war, lebte sie noch. Das war vor vier Tagen. Aber.. sie ist sehr, sehr schwach. Der Mayg hat Anyan und Tarnuan – Kias Töchter – mitgenommen, damit sie sie pflegen. Und sie sagen immer, dass sie bald stirbt.“
Ich versuchte zu schlucken, aber mein Hals war wie ausgetrocknet und schmerzte.
„Sie .. sie war wie eine Schlafwandlerin-“
„Kia, nicht.“
„Aber es ist besser, wenn er es von uns erfährt! Oh Yl, ich konnte es kaum mit ansehen. Es war kein Leben in ihr ... Sie atmet noch alleine, das ist alles.“
„Ich weiß…“ sagte ich mühsam. „Die beiden Maygs haben ihr ihre Seele genommen. Sie haben ihr alles genommen, was sie hatte.“
Charanns Gesicht war wie versteinert.
„Ich muss zu ihr, bevor sie stirbt“ fuhr ich fort. „Wie weit sind sie von hier weg?“
Die Schwestern sahen sich hilflos an. „Einen Tag vielleicht? Nicht weit von der Küste ist eine Höhle. Da haben sie sich ein Lager gemacht. Wir waren schon sehr lange nicht mehr da. Die Ylmun brauchen immer sechs oder sieben Stunden für den Weg, wenn sie herkommen. Sie kennen den Weg. Wenn man ihn nicht kennt, ist er sehr schwer zu finden. Die Höhle liegt sehr versteckt.“
„Dann müsst ihr uns den Weg beschreiben. Wir müssen morgen früh aufbrechen. Ich kann nicht noch länger warten.“
„Aber es wäre besser, ihr würdet auf die Ylmun warten!“ protestierte Kia. „Sie kommen übermorgen neue Vorräte holen. Es ist sehr einfach, den Weg zu verlieren in den Bergen bei der Küste.“
Am liebsten wäre ich sofort aufgebrochen, wenn es nicht schon dunkel gewesen wäre und Yonann nicht so müde ausgesehen hätte. Der Gedanke, dass Aridys nur noch einen knappen Tag von mir entfernt war und ich nicht zu ihr konnte, machte mich verrückt. Ich spürte, wie sich der Traumbruder in mir wie vor Schmerzen krümmte und wand, und ahnte, dass ich ihn bald nicht mehr würde im Zaum halten können.
„Ihr müsst euch beide ausruhen“ sagte Charann entschieden. „Schlaft erstmal – und morgen sehen wir weiter. Ihr könnt das Zimmer von den Ylmun haben. Wir wecken euch, bevor es tagt, keine Sorge.“
Yonann gähnte wie aufs Stichwort.

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