Babas Welt
Mittwoch, 16. Dezember 2009
Kapitel 16

16. Kapitel

Jahr 399 nach der Landung, 2. Tag im 1. Mond in Yls Jahrviertel

Sie hatte sich umgezogen und ich merkte ihr an, dass sie meditiert hatte. Nun strahlte sie eine fast undurchdringliche kühle Ruhe und Gelassenheit aus, wie ein Felsen im Schatten. Ihren Anweisungen folgend räumten wir die Kissen und alle Decken bis auf eine von dem Bett und betteten Yenda etwas tiefer, so dass sich Neliann mit gekreuzten Beinen oberhalb seines Kopfes niederlassen konnte. Isan nahm schweigend meinen Platz am Fußende des Bettes ein, während ich mich neben Yenda legte und seine Hand mit beiden Händen umfasste. Neliann legte eine Hand auf Yendas Kopf und die andere auf meinen. Wir sahen uns an und dann spürte ich ihre Anwesenheit in meinen Gedanken.
„Fertig?“ Sie sprach so leise, dass ich nicht sicher war, ob sie laut oder in meinen Gedanken gesprochen hatte. Ich nickte nur und schloss die Augen. Für einige Momente hörte ich noch Meister Nagyns nervöses Atmen und spürte die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Wange, dann erschien wieder das Nichts in Yenda wieder vor mir und ich tauchte ohne zu zögern hinein. Es fühlte sich fast genauso an wie vor einer guten Stunde, als ich es alleine versucht hatte, aber nun spürte ich Neliann bei mir, wie ein Halteseil in meiner Hand, das mir Halt gab, während ich versuchte mich zu orientieren. Und ob es nun nur an ihrer Anwesenheit lag, die mir das Gefühl von Sicherheit vermittelte oder daran, dass wir das Nichts nun aus zwei verschiedenen Standpunkten wahrnahmen, diesmal merkte ich sofort einen Unterschied zu vorher. Da war etwas in dem Nichts, kaum wahrnehmbar, ein Hauch von einem Drang, einer Richtung - wie eine Strömung. Und kaum dass ich sie wahrgenommen hatte, merkte ich auch schon, dass wir von der Strömung erfasst wurden. Es ging mir aber noch zu langsam und ich versuchte selbst in die Richtung der Strömung vorzudringen.
*Nicht so schnell Barys ..*
*Das ist es, davon wurde er weggezogen ..*
*Ich glaube das auch, aber wir sollten vorsichtig sein. Langsam .. Wir dürfen uns nicht verlieren.*

Wir trieben so eine Weile weiter und das Nichts blieb sich gleich, grau und konturlos überall um uns herum, ohne dass irgendetwas darin wahrgenommen werden konnte, außer der gleichmäßigen sanften Strömung. Ich fand es zunehmend schwerer zu ertragen und kämpfte erneut gegen das Gefühl zu ersticken an. Neliann merkte was in mir vorging und ihre Anwesenheit verstärkte sich leicht, beruhigend und stützend zugleich.
*Barys .. ihr wart einmal in einem seiner Träume ...*
*In einem Alptraum, ja*
*Zeigt ihn mir. Wie sah es aus?*

Es dauerte eine gute Weile, bis ich mich genügend konzentrieren konnte um mich in Yendas Alptraum hineinzuversetzen, so wie ich ihn damals wahrgenommen hatte. Die Felswände um mich, die näher rückten und drohten, mich zu ersticken, das schwarze bedrohlich steigende Wasser, und dann der unmenschliche Schrei. Als ich die Erinnerung wieder vollständig in meinem Bewusstsein hatte, fiel es mir schwer, mich nicht von den übermächtigen Angstgefühlen überwältigen zu lassen.
Neliann neben/in mir blieb völlig gelassen. Irgendwie irritierte mich diese Gelassenheit, so als ob sie sich dadurch von mir entfernte, weil sie den übermächtigen Gefühlen nicht so ausgeliefert war wie ich. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf einen bestimmten Punkt und als ich genauer hinsah, merkte ich, dass es das kleine Mädchen aus Magiann war, das Yenda in Nakuren getroffen hatte und von dem er seitdem ab und zu träumte. Sie saß in sich versunken inmitten des Wassers und blickte in die Flamme einer kleinen Öllampe.
Gerade als ich Neliann erklären wollte, wer sie war, spürte ich flüchtig die dunkle Präsenz wieder, die mir damals zum ersten Mal aufgefallen war. Etwas Verborgenes, am Rande meiner Wahrnehmung, wie etwas, dass ich nur kurz im Augenwinkel sah und das verschwunden war, bevor ich es richtig erkennen konnte. Ich hielt den Atem an und versuchte mein Bewusstsein zu klären, nur noch wahrzunehmen und zu ignorieren, was ich kannte. Neliann sagte etwas, doch ich hörte es nicht. Nun spürte ich es deutlicher, den Fremdkörper in dem Nichts, als ob es sich beständig am Rande meiner Wahrnehmung, sozusagen hinter meinem Rücken aufhielt, ganz nah und doch unerreichbar. Etwas - oder jemand - der stockstill verharrte, wie in Trance, oder kurz davor zu fliehen ... Und dann, beinahe noch bevor mich die vertraute Aura von geballter Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit streifte wie ein zarter kalter Hauch, war ich mir sicher, was es war. Oder besser wer.
Und als ich den Traumbruder als solchen erkannt hatte, war er deutlicher für mich zu wahrzunehmen. Ich erinnerte mich daran, wie ähnlich seine Gefühle denen von Yenda gewesen waren, dass es eine Verbindung zwischen ihm und Yenda geben musste, und versuchte impulsiv, ohne weiter darüber nachzudenken und ohne einen Gedanken an Neliann, mich ihm zu nähern. Es ging schneller als ich dachte, und erst als ich mich ihm soweit genähert hatte, dass ich seine Umrisse ausmachen konnte, eine diffuse dunkle Gestalt, deren Ränder im Nebel verschwammen, merkte ich, dass sich Neliann von mir gelöst hatte. Das feste Gerüst ihrer Gedanken, ihrer Präsenz war verschwunden, zurückgeblieben und ich bewegte mich allein im grauen Nichts, in dem außer der vagen Gestalt des Traumbruders nichts wahrzunehmen war.
Nichts außer der Strömung. Gerade als ich wieder in Panik verfallen wollte, merkte ich, dass ich den Zug des Nichts in die eine Richtung immer noch spüren konnte und beruhigte mich wieder. Neliann würde dieser Strömung auch folgen, so dass wir uns an irgendeinem Punkt wieder treffen mussten. Und wie mir außerdem allmählich bewusst wurde, schien auch der Traumbruder dieser Strömung zu folgen. Jedesmal wenn ich ihn fixierte, befand er sich ein Stückchen weiter in ihrem Verlauf und ich konnte die Entfernung zwischen uns nicht zu schnell aufholen wie ich zuerst gedacht hatte.
Nach einer Weile hatte ich den Abstand soweit verringert, dass er sich schräg vor mir befand, mit dem Rücken zu mir - oder so nahm ich ihn wahr. Es war als läge ein Schatten auf der Gestalt oder als wäre er selbst nur ein formloser Schatten ohne Umrisse, die Aufschluss über sein Aussehen geben könnten. Und je näher ich ihm kam, desto deutlicher spürte ich, dass sich zwischen uns eine unsichtbare Barriere befand, wie eine Glaswand. Ich konnte ihn durch diese Wand hindurch sehen und den Strudel von Gefühlen spüren, der aus ihm sprudelte und von ihm ausstrahlte, aber nicht zu ihm selbst durchdringen. Und offenbar nahm er mich selbst nicht wahr, sondern folgte nur wie ich der Strömung in seiner blinden, verzweifelten Suche.
Als ich ihm so nahe gekommen war wie es nur ging mit der Barriere zwischen uns, unternahm ich einen neuerlichen Versuch mit ihm in Verbindung zu treten. Ich hörte wieder das Echo seiner Verzweiflung in mir wie Worte und konzentrierte mich darauf, tastete mich an ihnen zurück zu ihrem Ursprung und schickte meine Botschaft darauf aus - unendlich vorsichtig und so sanft ich nur konnte.
*.. warte ..*
Zunächst zeigte er keine Reaktion, als ob meine Annäherungsversuche in dem Strudel um ihn herum untergingen - oder die Barriere nicht durchdringen konnten, das konnte ich mir aber nicht vorstellen.
*.. warte … komm ... hab keine Angst ... warte ...*
Der Schatten bewegte sich nun etwas anders als vorher. Ich fühlte mich an ein Tier erinnert, dass prüfend den Kopf drehte und mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen die Umgebung nach Gefahranzeichen absuchte, lauschend und witternd - aber blind durch die Dunkelheit oder weil es von Natur aus blind war ..
*.. Schwester .. wo ...*
*.. Wer ist deine Schwester? Warum suchst du sie?*

Der Schatten verharrte unvermittelt. Für einen Moment verhielt er vollkommen regungslos, wie gebannt, dann bewegte er sich auf der Stelle, als ob er sich neu formierte oder - wie mir in jäher Panik klar wurde - mir zuwandte. Und dann befand er sich auf einmal dicht vor mir, so dass nur noch die Barriere uns trennte, und die war, wie ich nun feststellte, nur hauchdünn, nicht so sehr eine Wand als ein Riss, eine Spalte zwischen zwei Welten - zwei Traumwelten natürlich. Der Traumbruder befand sich mir nun genau gegenüber, Angesicht zu Angesicht - wobei ich sein Gesicht immer noch nicht erkennen konnte - und aus dem Strudel von Gefühlen um ihn herum bildeten sich Wellen, die auf mich zurollten und auf mich prallten. Ich konnte nicht erkennen, ob er mich von sich abhalten und vertreiben wollte oder ob dies seine Art war mich wahrzunehmen und herauszufinden, wer ich war und was ich wollte. Die Wellen spülten über mich hinweg und durchdrangen meine Schilde, als wären sie aus Sand. Panik flutete in mir hoch und dann Verzweiflung und Verlorenheit, wie als Echo auf die Gefühlsbrandung des Traumbruders. Gleichzeitig übermannte mich ein kaltes lähmendes Grauen vor dem Wesen vor mir, die Art Grauen, die jedes lebende Wesen empfindet, wenn es mit der kalten Leere der Unendlichkeit, dem Nichts jenseits des Lebens, der anderen Seite konfrontiert wird - mit dem Tod. Denn das Wesen mir gegenüber war tot, daran bestand kein Zweifel, es war Teil all dessen was nicht lebendig war, hatte keinen Atem und keine Wärme in sich. Und nun gaben ihm mein Schrecken und mein Grauen vor ihm auch ein Gesicht, so dass ich ihn auf einmal deutlich vor mir sehen konnte: eine magere knochige Gestalt, fast ein Skelett, in einen Umhang von langen dichten grauweißen Haaren gehüllt, die ihm bis zu den Füssen reichten und um ihn herum waberten und sein Gesicht verdeckten, so dass nur die schwarzen Augenhöhlen zu sehen waren, wie die eines Totenschädels, aus denen er mich aber trotzdem anzusehen schien, wie aus richtigen Augen …
Ich hörte ein Stöhnen und merkte irgendwo am Rande, dass ich es war, die stöhnte, und zurückweichen wollte, nur dass ich es nicht mehr konnte, weil er sich mit einem Mal ungestüm und gierig an mich klammerte.
*..Schwester! Wo??!! Zeig mir ... *
Und die Wellen durchdrangen mich erneut, als wollten sie mein Innerstes nach ihr, nach der es ihn so verzweifelt verlangte, absuchen und durchkämmen. Ich war dem Ansturm nicht gewachsen, es schüttelte mich durch wie einen Baum im Sturm und ich vermochte kaum noch einen klaren Gedanken zu fassen. Die Kälte und die tiefe Schwärze, die von dem Traumbruder ausgingen, lähmten mich. Und dann formte sich aus dem Ansturm der Wellen aus Wut und Verzweiflung ein Bild in meinem Bewusstsein - vielleicht ein Bild, dass der Traumbruder aus meinen Erinnerungen geholt oder das ich selbst heraufbeschworen hatte, weil mich irgendetwas an ihm an den Traumbruder erinnerte. Das lange Haar, wie ein Mantel um die hohe magere Gestalt herum, und die dunklen Augen, wie Löcher in dem bleichen Gesicht. Aridys, so wie ich sie in der Höhle des Dämons gesehen hatte, in dem gleißendem Licht. Aridys, Yendas Schwester. Noch bevor sich diese Erkenntnis in mir bildete, protestierte etwas in mir beinahe gewaltsam in mir. Es konnte nicht sein, dieses tote verlorene Wesen konnte nicht Yenda sein … Ich stemmte mich gegen die Wellen und versuchte dem Gefühlsansturm standzuhalten.
*.. Yenda? Wo ist Yenda ...?*
Zugleich mit der Frage konzentrierte ich mich darauf, ein Bild von Yenda in meinen Gedanken zu formen und es dem von Aridys gegenüberzustellen.
*.. Yenda .. Bruder .. du ..*
Einen atemlosen Moment lang schien der Traumbruder das Bild zu mustern. Doch gerade als ich eine Reaktion von ihm kommen spürte, geschah etwas, dass uns beide voneinander ablenkte. Während wir einander konfrontiert hatten, waren wir in der Strömung weiter getrieben und nun begannen sich auf einmal in dem Nichts um uns herum Konturen abzuzeichnen, feste Umrisse, ja das Nichts selbst gewann plötzlich an Festigkeit. Es wurde immer heller um uns herum, bis ich die Helligkeit beinahe körperlich spüren konnte, als ob sie mich blendete und meinen Augen wehtat. Die gleiche Helligkeit wie in der Höhle des Jenseitigen, als er mir und Yenda endlich erschienen war.
Der Traumbruder riss sich von mir los. Während ich noch versuchte, mich auf die Helligkeit einzustellen, um meine neue Umgebung besser wahrzunehmen, entfernte er sich von mir und ich hörte wie das Echo seines alles beherrschenden Verlangens leiser wurde. Ich wollte ihm erst nicht folgen, aber zwang mich dazu, ich musste herausfinden, ob ihn irgendetwas mit Yenda verband, ob er ein Teil von Yenda war, den ich noch nicht an ihm wahrgenommen hatte.
Wir kamen in eine Höhle, um uns waren Felswände und vor uns ein rechteckiger Stein, wie ein Altar. Eine Gestalt lag darauf, regungslos, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Das lange Haar hüllte sie ein wie ein Mantel und ihre Augen starrten leer und ausdruckslos nach oben. Aridys, es war Aridys - ihr lebloser Körper, ohne Bewusstsein, ohne Geist, so gut wie ohne Leben. Zu ihren Füßen, am anderen Ende des Felsblockes saßen zwei Gestalten im Schneidersitz einander gegenüber, mit verschränkten Armen, verhüllt von langen Umhängen mit Kapuzen. Die Strömung, der unsichtbare Sog, den ich gespürt und der den Traumbruder und mich zu ihnen gezogen hatte, ging von ihnen aus, bündelte sich zwischen ihren Körpern. Zunächst sah ich die beiden nur, ohne wirklich zu begreifen, was dort vor sich ging, und dann fügten immer mehr Details in meinem Kopf zu einer Erkenntnis zusammen. Je näher ich dem Stein mit Aridys darauf kam, desto deutlicher hörte ich den einförmigen dunklen Beschwörungsgesang, der die ganze Atmosphäre in der Höhle in Schwingung zu versetzen schien und so eindringlich wie nervenaufreibend wirkte. Er drang durch alle Poren meines Körpers, vibrierte in meinen Zähnen und steigerte meinen Herzschlag, bis er sich im Einklang mit dem hypnotischen Rhythmus befand, und ich mir nichts sehnlicher wünschte als taub zu sein. Einzig die beiden Magier - um niemand anderes konnte es sich bei den beiden Gestalten handeln - schienen von der Wirkung ihres Beschwörungsgesanges nicht betroffen zu sein, sie verharrten vollkommen regungslos einander fixierend in perfekter Konzentration. Ich konnte nichts von ihnen erkennen, außer das beide selbst im sitzen sehr groß wirkten. Der von mir aus gesehen auf der linken Seite saß, schien mir der Mann zu sein, er war um ein weniges größer als die andere Gestalt und seine Schultern erschienen mir ein wenig kantiger. Am kleinen Finger seiner rechten Hand trug er einen Ring mit einem weißleuchtenden Stein daran. Ob seine Partnerin auch einen hatte, konnte ich nicht erkennen.
Ich näherte mich dem Felsblock von der Seite und bemerkte den Traumbruder erst, als ich nur noch wenige Schritte entfernt war. Er stand regungslos mit dem Rücken zu mir vor dem Stein, nicht mehr als ein schattenhafter Umriss, durch den ich zeitweise die Kanten des Steines und Aridys’ silberweißes Haar sehen konnte. Aber er schien Aridys’ Körper nicht besonders zu beachten, ja ihn überhaupt nicht wahrzunehmen. Und auch für die Magier interessierte er sich nicht weiter, stattdessen richtete sich seine Aufmerksamkeit auf etwas oder jemanden ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Steines. Erst als ich ein wenig zur Seite trat, um an ihm vorbeisehen zu können, sah auch ich, was ihn so in seinem Bann hielt. Es war Yenda.
Er stand auf der anderen Seite des Steines, mit den Händen auf der Kante und starrte den Traumbruder ihm gegenüber an. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos und seine Augen grau und leblos wie Steine. Einen Moment war ich wie gelähmt, dann riss es mich förmlich zur Seite, um den Stein herum und zu ihm. Meine Füße und Beine wollten mir nicht recht gehorchen und die Vibrationen des magischen Gesanges verwirrten meine Gedanken, aber trotzdem erreichte ich Yenda beinahe schneller als erwartet. Noch im laufen streckte ich die Arme nach ihm aus und fasste ihn an den Schultern und Armen, zog mich an ihn heran und umklammerte ihn mit beiden Armen so fest ich konnte. Er regte sich nicht, aber ich konnte deutlich spüren, dass es Yenda war und nicht nur sein Abbild, ich spürte alles was mir von ihm vertraut war in ihm, sein Bewusstsein, seine Gefühle und die Schilde, die ihn abschirmten, die Wärme die von ihm ausging - all das gedämpft und wie durch einen Schleier hindurch, aber deutlich spürbar, völlig anders als die Leere, die ich bis jetzt in ihm vorgefunden hatte. Er schien sich im Tiefschlaf zu befinden, in einem Wachtraum, wie ich ihn selbst nur zu gut kannte, aber er war wieder hier und bei mir. Und als ich noch überlegte, wie ich am besten zu ihm durchdringen und ihn dazu bringen könnte, mit mir zurückzukommen, spürte ich unvermittelt eine vertraute kühle und starke Präsenz um mich.
*Seid vorsichtig, Barys. Sie dürfen euch nicht wahrnehmen.*
Neliann klang, als könnte sie nichts erschüttern und als hätte sie sich auch nicht einen Augenblick lang um mich gesorgt, obwohl wir uns verloren hatten. Doch ich spürte unter ihrer Selbstsicherheit eine Spur von Unbehagen - und Abscheu, der sich gegen die beiden Magier richtete, die immer noch in ihrer undurchdringlichen Trance verharrten.
*Wir müssen hier weg, bevor sie zum Ende kommen.*
*Sollen wir Yenda wecken?*
*Es sollte auch so gehen.*

Neliann wandte sich Yenda zu und versuchte erst sanft und dann nachdrücklicher ihn von dem Felsblock wegzudrängen. Er wehrte sich nicht, aber es war, als hätte er Wurzeln geschlagen, so schwer war es ihn von der Stelle zu bringen. Nach wie vor ließ er den Traumbruder nicht aus den Augen. Ich fragte Neliann, ob sie ihn auch sah, aber sie konnte ihn kaum erkennen, alles was sie wahrnahm, war ein verschwommener Schatten, von dem Kälte ausströmte.
Da ließ der Beschwörungsgesang allmählich nach. Er wurde nicht leiser, aber die Vibrationen schwächten sich ab und die Strömung schien zum erliegen zu kommen. Yenda wandte abrupt den Kopf und sah zu den Magiern hinüber und ich sah, dass der Traumbruder seinen Platz verlassen hatte und dicht an die beiden Gestalten heran getreten war. Yenda starrte den größeren Magier an und langsam kehrte ein Ausdruck in seine Augen zurück. Durch meine Hände auf seinen Schultern spürte ich ganz schwach und weit entfernt ein Gefühl von Überraschung, dass sich immer mehr bis zur Verwirrung, ja beinahe zum Schock steigerte.
Als der Beschwörungsgesang fast verstummt war, kam Bewegung in die Magier. Sie ließen langsam die verschränkten Arme sinken, ohne ihre Hände voneinander zu lösen und streckten kaum merklich ihre Oberkörper. Der größere Magier wandte den Kopf leicht zur Seite und ich konnte ein wenig von seinem Gesicht sehen, als er auf Aridys nieder blickte. Er hatte dunkle, fast schwarze Augen unter dichten weißen Augenbrauen und einen grausamen und zugleich arroganten Zug um den Mund mit den weit geschwungenen Lippen. Falls ihn überraschte, dass Aridys unverändert wie tot dalag, so ließ er sich nichts anmerken. Mit einer fast nachlässig vollführten Bewegung hob er die Hand mit dem weißen Ring daran und streckte sie gegen Aridys aus, ohne dabei die Hand seiner Partnerin loszulassen. Das Leuchten in dem Ring verstärkte sich und der Traumbruder wich zurück, als könnte er das Licht nicht ertragen. Yenda zuckte zusammen und keuchte und ich spürte, wie sich in ihm der Schock mit der steigenden Wut mischte. Er wollte sich losreißen und auf den Magier stürzen, und ich sah schon aus dem Augenwinkel, wie der Magier begann, den Kopf nach uns zu drehen, da war es auf einmal, als würde ein dichtes Netz aus starken Tauen über uns geworfen werden und sich fest um uns schlingen. Für einen atemlosen Moment verharrten wir fest aneinander gepresst, ohne einen Finger rühren zu können, dann riss es uns förmlich fort, als würden wir von einer unsichtbaren Kraft angehoben und fort getragen. Yenda schrie und wand sich in meinen Armen. Die rasend schnelle Reise dauerte nur ein paar Sekunden, dann lösten sich die Seile wieder so schnell, wie sich um uns gelegt hatten. Yenda bäumte sich auf und traf mich mit seinem Ellenbogen an der Brust und der plötzliche Schmerz brachte mich wieder zur Besinnung. Ich hörte erregte Stimmen und spürte die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Wir waren wieder zurück in der Wirklichkeit. Yenda neben mir keuchte immer noch und warf seinen Kopf hin und her - zu mehr war er nicht imstande, weil Meister Nagyn ihn mit seinem ganzen beträchtlichen Gewicht an den Armen und der Brust auf dem Bett niederhielt. Als ich den Kopf hob und die Augen weiter öffnete, sah ich die Königszwillinge am Fußende des Bettes, die jeder eins von Yendas Beinen festhielten. Der Zwilling, der mir am nächsten war, fing meinen Blick auf und grinste mich fröhlich an. Er schien nicht übermäßig besorgt zu sein, anders als Isan, die hinter den beiden stand und ängstlich mit zitternder Unterlippe auf ihren Sohn sah.
Yendas kleines Turmzimmer kam mir auf einmal regelrecht überfüllt vor, weil sich alle Anwesenden um das Bett drängten und sich in ihren Bemühungen Yenda zu beruhigen eher gegenseitig behinderten. Neliann war ein wenig zur Seite gerückt und saß vornüber gebeugt da mit dem Kopf in beiden Händen. Ich befürchtete erst, dass Yenda sie auch getroffen hatte, aber dann sah ich, dass sie nur versuchte sich wieder zu sammeln. Da wurde mir klar, dass sie es gewesen war, die uns drei durch eine gewaltige mentale Anstrengung so abrupt aus der Traumwelt gerissen hatte, gerade noch rechtzeitig, bevor der Magier uns entdecken konnte. Ich hatte von dieser Methode, sich aus der Traumwelt zu befreien, gehört und wusste mit welcher fast übermenschlichen Anstrengung sie verbunden war.
Ich legte Yenda die Hände auf die Brust, um zu versuchen zu ihm vorzudringen und ihn zu beruhigen, aber es war schon nicht mehr nötig, er wehrte sich nicht mehr, sondern lag schwer atmend da, mit offenen Augen, in die langsam das Bewusstsein wiederkehrte. Isan drängte sich zwischen den Zwillingen und Nagyn hindurch, kniete bei ihm nieder und nahm ihn in die Arme.
„Yennie .. Yenschibi .. wach auf ... bitte ...“ Sie drückte seinen Kopf an ihre Brust und Nagyn ließ von Yenda ab und richtete sich schnaufend auf. Yenda hielt einen Moment still, dann legte er seine Arme um Isan und sein Atem beruhigte sich allmählich. Dariv und Rodan ließen Yendas Beine los und traten hinter Nagyn, der schwerfällig auf den Stuhl sank und kopfschüttelnd erst Yenda betrachtete und sich dann Neliann zuwandte.
„Was war das? Was ist passiert? Geht es euch gut?“
Neliann hob den Kopf und lächelte etwas abwesend.
„Aber ja, macht euch keine Sorgen um mich, Meister Nagyn. Fragt lieber Barys ...“
„Mir geht es auch gut“ sagte ich schnell und setzte mich aufrecht hin.
„Und Yenda?“ fragte Dariv. „Wird er richtig aufwachen? Und gesund werden?“
Isan nahm Yendas Kopf in beide Hände und hielt ihn ein wenig von sich ab. Yenda öffnete seine Augen und sah sie an, dann ließ er sie langsam los und wandte den Kopf zur Seite. Als das Sonnenlicht ihn blendete, hielt er sich die Augen zu und stöhnte. Nagyn zuckte zusammen und beugte sich besorgt vor und ich legte Yenda meine Hand auf den Rücken. Was ich von ihm spürte, beruhigte mich wieder etwas, seine Gefühle waren ziemlich durcheinander, aber er schien wieder einigermaßen bei klarem Bewusstsein zu sein.
„Was .. was ist passiert...?“ fragte Yenda heiser, ohne die Hände herunterzunehmen.
„Du warst fort.“ Isan streichelte ihm über die Haare und das Gesicht. „Verloren, verirrt im Traum… aber jetzt ist wieder alles gut. Barys und Neliann haben dich zurückgeholt.“
Nagyn streckte eine Hand aus und berührte Yenda an Hals und Stirn, um seine Temperatur zu prüfen. „Wie fühlst du dich, Junge? Tut dir etwas weh?“
Yenda rieb sich heftig die Augen und verzog das Gesicht. „Nein .. Ja - Kopfweh. Aber es geht.“
„Schwindel? Übelkeit?“
Yenda schüttelte leicht den Kopf und verzog schmerzlich das Gesicht. Nagyn schnalzte mit der Zunge und erhob sich ächzend, während er etwas von einem Kräutertrank murmelte. Ich massierte Yenda sanft zwischen den Schulterblättern und im Nacken und er wandte sich mir zu und rieb seine Wange an meinem Arm. Dann erst bemerkte er seine Zwillingsväter, die Nagyn zwischen sich vorbei ließen, und starrte sie verblüfft an. Die Zwillinge lächelten zurück.
„Willkommen zurück, Sohn“ sagte Dariv - zumindest war ich mir ziemlich sicher, dass es Dariv war. „Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“
Yenda schluckte und atmete tief ein. „Ich weiß nicht ... im Moment nicht ... ich weiß noch nicht einmal, was eigentlich genau passiert ist ...“
„Macht euch keine Sorgen, Tarlon.“ Neliann erhob sich ebenfalls und strich ihre Robe glatt. Yenda zuckte beim Klang ihrer Stimme zusammen und sah sich um, als wollte er sich vergewissern, dass nicht noch jemand im Zimmer war, den er noch nicht bemerkt hatte.
„Wenn ihr euch gar nicht mehr erinnern könnt, kann ich euch helfen - mit Hypnose, wenn es nötig ist. Aber ich denke, eure Erinnerung wird bald wiederkehren, sobald ihr den Schock überwunden habt.“
„Wie lange waren wir eigentlich ... fort, ich meine wie lange hat es gedauert?“ fragte ich. Nagyn und Isan sahen sich an und zuckten die Achseln.
„Nicht lange. Eine halbe Stunde vielleicht.“
„Wir sind gerade erst gekommen“ ergänzte Rodan. „Eigentlich müssten wir auf der Festsitzung sein ...“
„Aber die haben wir verschoben“ sagte Dariv ruhig und wandte sich an Neliann. „Hat sich euer Verdacht bestätigt, Mayg? Stecken die beiden Magier dahinter? Diese Anführer der Schneekrieger?“
Neliann nickte bedächtig. „Ja, Kerlon. Allerdings war es wohl reiner Zufall, dass Tarlon Yenda von ihrem Beschwörungsritual angezogen wurde. Was ich gesehen habe, lässt mich vermuten, dass sie immer noch versuchen, Tarlil Aridys zurück zu holen. Das bedeutet, dass sie noch nicht wissen, was mit ihr geschehen ist. Ich fürchte aber, dass sie es bald herausfinden werden.“
Yenda hatte sich aufgerichtet und auf den Bettrand gesetzt. Jetzt saß er ganz still und starrte Neliann unverwandt an, während sich auf seinem Gesicht blankes Entsetzen mit Zorn mischte. Er öffnete den Mund und brachte dann doch kein Wort heraus. Rodan ließ sich vor ihm auf ein Knie nieder und legte eine Hand an seine Schulter und Dariv tat es ihm nach.
„Yenda? Was hast du?“
„Erinnerst du dich wieder?“
Yenda schluckte mühsam und schloss die Augen. „Der Magier!“ stieß er hervor. „Oh Yl .. ich hab ihn gesehen ...“
„Ganz ruhig, Sohn“ Rodan setzte sich neben Yenda auf das Bett und legte ihm einen Arm um die Schultern. Dariv sah Yenda gespannt in die Augen.
„Weißt du, wer es ist?“ fragte er leise und Yenda nickte stumm, die Hände zu Fäusten geballt. Dariv und Rodan wechselten einen schnellen Blick und ich ahnte plötzlich, dass die beiden schon mehr wussten als wir anderen und Yendas Enthüllung keine große Überraschung mehr für sie war. Yenda holte tief Atem.
„Mayg Berlkor. Er ist einer von ihnen. Ich bin mir ganz sicher.“

Einen langen Moment war es totenstill im Raum. Neliann sah aus wie vor den Kopf geschlagen und Nagyn stand mit offenem Mund da und starrte Yenda ungläubig an. Isan senkte den Kopf und schloss die Augen. Einzig die Königszwillinge schienen mehr erleichtert als überrascht zu sein. Dariv blickte zu Rodan, der ihm fast unmerklich zunickte und fasste Yenda fest an der Schulter.
„Sehr gut, Sohn“ sagte er sanft. „Jetzt haben wir endlich den Beweis - und können handeln.“
Yenda schluckte wieder. „Ihr - habt es schon gewusst.“
„Vermutet“ verbesserte Rodan.
„Aber erst seit kurzem.“ Dariv stand auf. „Es gab einfach zu viele Zufälle für unseren Geschmack.“
Neliann schien endlich ihre Fassung wieder zu finden. „Kerlonel .. ohne Tarlon Yenda zu nahe treten zu wollen - aber ich ...“ Dariv wandte sich ihr zu und unter seinem Blick verstummte sie und schluckte nervös. Die Zwillinge schwiegen abwartend und sie riss sich sichtlich zusammen.
„Ich kann es einfach nicht glauben. Immerhin steht er noch unter Schock ...“ vollendete sie schließlich hilflos.
„Ich bin mir sicher“ wiederholte Yenda mit fester Stimme. Neliann atmete tief ein, bevor sie weitersprach.
„Ich habe Mayg Berlkor niemals persönlich kennengelernt. Aber mehrere Menschen - Traummagier und andere - haben ihn mir beschrieben und ich habe mir seine Referenzen und Schriften angesehen, bevor ich herkam. Er war ausgebildeter Mayg von der Universität in Nakuren und wäre niemals zu so etwas - so einem Verrat - imstande gewesen.“
„Mich wundert es nicht ...“ bemerkte Nagyn, der dabei war am Feuer einen Kräutertee für Yenda zu bereiten, aber keiner beachtete ihn. Dariv blickte Neliann kühl an und wartete, bis sie zum Ende gekommen war.
„All dies wird sich klären, Mayg Neliann. Jetzt brauchen wir einen ausführlichen Bericht über Yendas Rettung, und über alles, was Ihr über Mayg Berlkor wisst. In einer Stunde - nun, sagen wir zur fünften Tagesstunde - halten wir eine Beratung ab. Mit allen die hier sind - ja, du auch Nagyn - und dann sollten noch die Stragyn dabei sein, und die Ratsältesten, wenn sie schon mal hier sind.“
„Und Rynkan und Growyn“ ergänzte Rodan und stand vom Bett auf. „Sind sie im Schloss oder haben sie Dienst?“
„Sie sind beide da“ sagte Isan abwesend. „Sie haben erst heute Abend Dienst.“
„Umso besser. Hel und Erl können auch kommen, wenn sie wollen, und meinetwegen auch die Hofchronistin, wir werden ein Protokoll brauchen.“ Dariv bückte sich zu Yenda herunter, tätschelte seine Schulter und lächelte ihn ein wenig grimmig an. „Ruh dich ein wenig aus bis dahin“ empfahl er ihm. „Versuch dich an so viel wie möglich zu erinnern, aber übertreib es nicht. Es kommt nicht so sehr darauf an. Wir werden sie auch so finden.“
Yenda nickte nur müde und senkte den Kopf. Dariv nickte mir freundlich zu und wandte sich zum gehen. Rodan streichelte Yenda sanft durch die Haare, dann sah er fragend zu Isan hinüber, die mit sich zu ringen schien. Yenda flüsterte ihr etwas ins Ohr und sie drückte ihn kurz an sich, stand auf und folgte den Königszwillingen aus dem Zimmer. Neliann stand immer noch wie verloren vor dem Bett. Erst als Nagyn eine dampfende Schale mit Tee für Yenda brachte, schien sie zu sich zu kommen.
„Tarlon .. vergebt mir, ich wollte euch nicht kränken…“
Yenda winkte ab. „Ich verstehe schon. Ich konnte es selbst nicht glauben. Wir werden das nachher besprechen.“
Neliann sammelte sich wieder. „Nun, wenn ihr meine Hilfe benötigt, lasst es mich wissen. Ansonsten sehen wir uns gleich auf der Beratung. Und .. wie euer Vater sagte, ruht euch aus. Diese außerkörperlichen Erfahrungen sind sehr belastend und es könnte leicht noch Spätfolgen geben, wenn ihr nicht vorsichtig seid.“
„Was für Spätfolgen?“ fragte Nagyn scharf. Neliann zuckte die Achseln.
„Nun, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Depressionen .. in der Art. Ich empfehle vor allem Ruhe, soweit es eben geht.“
Nagyn klopfte Yenda jovial aufs Knie. „So ist es. Ruhe und etwas zu essen, dann wird das schon wieder.“ Yenda lächelte schwach und massierte sich die Schläfen. Neliann nickte mir noch einmal zu und verließ dann das Zimmer. Yenda nahm die Schale mit dem Kräutertee, aber seine Hände zitterten, so dass Nagyn sie festhielt und trinken half.
„Die Kopfschmerzen sollten bald nachlassen“ bemerkte er. „Sonst müssen wir etwas anderes versuchen.“
Yenda verzog das Gesicht, kaum dass er ein paar Schlucke genommen hatte. „Dein Trank schmeckt besser ...“ sagte er zu mir. „Aber ich glaube, es wird schon besser. Kann ich jetzt aufstehen?“
„Jetzt schon?“ Nagyn sah bedenklich drein. Yenda grinste etwas schief.
„Ich fürchte, es muss sein, lange halte ich es jedenfalls nicht mehr aus. Der Waschraum ist ja nicht so weit. Wenn Barys mir hilft?“
Tatsächlich konnte er zuerst kaum stehen und schließlich mussten wir beide ihm die Treppe hinunter helfen. Aber trotz Nagyns Protesten nahm er einige Kleidungsstücke und Schuhe mit, die er im Waschraum anzog. Als er wieder zum Vorschein kam, sah er immer noch blass und abgespannt aus, aber es schien ihm besser zu gehen. Wieder im Zimmer setzte er sich an den Tisch und ließ sich von Nagyn überreden ein Glas Milch zu trinken und etwas zu essen. Der Hofarzt ließ es sich nicht nehmen, ihn noch eine Weile zu umsorgen und gute Ratschläge zu erteilen, aber schließlich ging auch er, um sich auf die Beratung vorzubereiten, und ließ uns allein.
Als er gegangen war, schlang Yenda ungestüm einen Arm um mich und drückte sein Gesicht an meine Schulter. Ich hielt ihn fest und eine Weile saßen wir so und schwiegen.
„Ich bin so froh, dass du da bist …“ murmelte er schließlich undeutlich in meine Haare hinein und ich streichelte über seinen Rücken und Nacken.
„Bitte lass mich nicht allein ...“
„Nein, ich bleibe hier, das verspreche ich dir.“
Yenda löste sich schließlich wieder von mir und sah mir forschend ins Gesicht.
„Yonann, wie fühlst du dich jetzt? War es schlimm für dich?“
„Die Traumreise nicht. Aber davor - du hast mich so erschreckt. Ich dachte - anfangs dachte ich ... du würdest nie mehr zurückkommen ...“
Yenda drückte sich fester an mich. „Für eine Weile dachte ich das auch.“
„Kannst du dich daran erinnern?“ fragte ich überrascht.
„Ein bisschen. Bruchstücke ... es ist alles noch sehr verworren. Aber ich weiß noch, dass ich Angst hatte. Angst mich verirrt zu haben, den Weg nicht wieder zu finden ...“ Yenda brach ab und seine Hand krampfte sich unvermittelt um meine, während er auf die Tischplatte starrte, mit einer steilen Falte über seiner Nasenwurzel.
„Yenda..?“
„Da war noch etwas ... etwas, das mir Angst machte, aber mich auch anzog ...“ Yenda ließ mich abrupt los und stand auf. Einen Moment musste er sich an der Tischkante festhalten, aber dann sammelte er sich und ging zur Wand, wo seine Lauten auf ihren Ständern ruhten. Er betrachtete sie eine Zeitlang nachdenklich und nahm dann die ihm am nächsten stehende auf. Zurück auf seinem Stuhl begann er sie zu stimmen, beinahe mechanisch und fast ohne hinzusehen. Während er wie nebenher Tonfolgen anspielte, starrte er konzentriert vor sich hin, als lauschte er in sich selbst hinein.
„Yonann .. weißt du was es bedeutet oder hast du es schon einmal gehört - dass man seinen eigenen Tod sieht? Oder sich selbst als Geist?“
Ohne hinzusehen, spielte er eine düstere und beklemmende Melodie. Seine Augen waren schiefergrau in dem bleichen Gesicht.
„Was genau hast du gesehen, Yenda? Warum denkst du, dass es dein Tod war?“
„Weil es so aussah. Es .. er .. war kaum mehr als ein Schatten, wie ein Geist. Mit einem Totenkopf als Gesicht.“ Ich zog scharf die Luft ein, aber er achtete nicht darauf. „Und als ich ihn sah - da kam mir alles so hoffnungslos vor, so verloren ...“
„Hatte er lange Haare?“
Yenda starrte mich fassungslos an und nickte schließlich stumm.
„Ja, sehr lang, so wie ...“
„Wie bei Aridys?“ fragte ich sanft. Yenda schluckte.
„Ja. Darum dachte ich, es wäre - mein Geist, mein Todeszwilling. In Ylkan sagt man, wenn einem im Traum sein Zwilling als Toter erscheint, bedeutet es, dass man sterben muss. Selbst Ylkaner, die keinen Zwilling haben, können von einem Todeszwilling träumen.“
„Aber ich habe ihn auch gesehen. Und schon mehr als einmal. Ich glaube nicht, dass es dein Todeszwilling ist. Eher ein Traumbruder, oder ein Geist, oder beides.“
„Traumbruder? Von wem? Von mir?“
„Ich weiß es nicht genau. Ich wollte mit Neliann darüber sprechen - ich weiß selbst nicht allzu viel darüber. Aber ich glaube, dass er - dieser Geist - irgendetwas mit dir und Aridys zu tun hat, aber dass er kein Teil von dir ist.“
„Aber mir kam es so vor. Als ob ich .. mich selbst sehen würde, wie in Anns Spiegel.“ Yenda spielte die seltsame Melodie noch einmal von vorne und kniff die Augen zusammen, wie um sich besser konzentrieren zu können.
„Aber ich habe von ihm geträumt, als du nicht in meiner Nähe warst. In der blinden Nacht, in Aridys’ Zimmer.“
Yenda zuckte hilflos die Schultern und schwieg.
„Was ist das, was du da spielst?“ fragte ich endlich. Yenda lächelte etwas wehmütig.
„Ein Stück, an dem ich schon seit einiger Zeit arbeite, seit Aridys’ Totenfeier. Es ist die Vertonung eines Gedichts von Tarlon Karvanyn-gel Yenda, dem Prinzen, von dem ich dir erzählt habe - der seine Schwester in den Bergen verlor und nach dem ich benannt wurde. Ich hoffe, dass ich es irgendwann einmal zu Ende bringen kann, wenn ich - mehr Abstand habe, mehr Zeit dafür. Jedenfalls habe ich versucht, mithilfe dieser Melodie aus diesem Traum oder was immer es war herauszukommen, so wie du es mir gesagt hattest ... Aber es hat nicht geholfen, ich konnte nicht aufwachen oder zurückkehren. Als mir das klar wurde, hab ich Teile dieses Stückes als Wegmarkierungen benutzt oder Erinnerungshilfen, was auch immer. Im roten Berg hab ich so etwas Ähnliches gemacht, Musik in meinem Kopf gespielt und bestimmten Sachen zugeordnet. Es hat mir auf jeden Fall geholfen, bei Verstand zu bleiben.“
„Wegmarkierungen? Wo warst du denn überall? Ich dachte, es hätte dich direkt zu den beiden Magiern gezogen - so wie Neliann und mich. Und den Traumbruder.“
„Nein, das war erst am Ende. Vorher .. es fing damit an, dass ich noch einmal aus dem Schloss geflohen bin. Diesmal mit dir zusammen .. und wir sind zusammen fortgewandert... über eine Straße ...“
„Durch die Weinfelder? Das habe ich auch geträumt.“
Yenda lächelte schwach. „Ja, eine Zeitlang waren da Weinfelder und die Sonne ging unter. Und dann warst du fort. Und ich ging über eine Strasse, und dann waren da Berge. Erst waren es fremde Berge, aber dann hatte ich das Gefühl, wieder in Ylkan zu sein. Da war ein Tal mit einem hohen Felsen am Ende, der rot in der Sonne leuchtete und ich wusste, dass es der Blutsfelsen war - so nennen ihn die Einwohner des Tales, das Andowyntal heißt, nach dem Fluss, der da durch fließt. Und dann sah ich noch weitere Täler und Berge, im Nachhinein kommt es mir vor, als wäre ich durch ganz Ylkan gewandert. Einige Berge kenne ich nur von Bildern und Erzählungen her, ich selbst war dort noch nie gewesen, aber ich erkannte sie trotzdem sofort. Und die ganze Zeit suchte ich nach meiner Schwester, und konnte sie nicht finden. Immer wieder hatte ich das Gefühl, sie müsste im nächsten Tal sein, und dann war sie es doch nicht. Da war überhaupt niemand, keine Menschenseele, nicht einmal Tiere. Alles war wie ausgestorben, öde und leer.“
Yenda sah mich an und seine Hände krampften sich so fest um die Saiten, dass sie ihm in die Finger schnitten.
„Alles war verlassen. Ylkan - das Land, war ausgelöscht. Tot.“

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