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(den treuen Stammlesern wie den gelegentlichen Reinguckern) wünsche ich
Frohe Weihnachten!Babas Fotos
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Kapitel 24
Kapitel 24Im Jahr 399 nach der Landung, am Vollmondstag des 1. Monds in Yls Jahrviertel
Eins musste ich meinen Schwestern und ihrer kleinen Gardistentruppe zugestehen, sie waren sehr schnell. Als es hell genug war, dass man den von Karrenrädern und Hufspuren gekennzeichneten Weg von den Wiesen und Feldern unterscheiden konnte, brachen wir auf und als die Sonne über dem Bergrand erschien, war von dem Hof der Ylma-an kaum mehr zu sehen als der Rauch vom Küchenfeuer. Der Regen hatte ganz aufgehört und in der Morgensonne war es beinahe warm, nur im Schatten der Felsen und in den spärlichen Kiefernwäldchen blieb es bitter kalt. Die Pferde waren ausgeruht und der Weg zum anderen Ende des Tals leicht zu finden und immer noch recht bequem, zumindest für die Gardisten, die bei dem Kern der Truppe mit den Packpferden blieben. Aber sechs von ihnen ritten als Kundschafter ständig voraus, zwei davon etwas außer Sichtweite auf dem Weg vor uns und jeweils zwei zu unseren beiden Seiten mitten im Gelände, für den Fall, dass sich von dort jemand uns näherte. Sie waren immer zu zweit weil einer von ihnen zu Fuß voran lief und das Gelände erkundete, während der andere sein Pferd führte. Alle Gardisten, meine Schwestern eingeschlossen, wechselten sich nach einem strengen Zeitplan ab, so dass es im Kern der Truppe ein ständiges Kommen und Gehen gab. Ich merkte sehr bald, dass die Truppe ohne Yonann und mich noch wesentlich schneller vorangekommen wäre, aber das war mir herzlich gleichgültig, solange Yonann überhaupt noch mitkam. Es ging ihr zwar heute viel besser als gestern bei dem Weg zum Tal durch den Regen, aber sie schien immer noch erschöpft und auch niedergeschlagen von ihrem Alptraum zu sein. Und mir selbst ging es überhaupt nicht gut.
Ich mochte es nicht zugeben, vor allen nicht vor meinen Schwestern, aber der innere Drang zu meiner Schwester und die steigende Unruhe des Traumbruders, der sich in mir wand und zuckte, setzten mir mehr und mehr zu, bis ich solche Kopfschmerzen bekam, dass ich das Gefühl hatte, der Schädel würde mir zerspringen. Ich zog mir die Kapuze meines Mantels tief ins Gesicht und wickelte noch einen Schal um den Kopf, aber trotzdem dröhnten die Hufschläge der Pferde in meinen Ohren und der kalte Schweiß lief mir den Rücken herunter. Ich biss die Zähne aufeinander und atmete tief, um die aufsteigende Übelkeit zu überwinden, aber es half nichts.
Ich war so bemüht, nicht vom Pferd zu fallen, dass ich erst merkte, dass wir angehalten hatten, als meine Schwestern mich sanft aus dem Sattel zogen. Es war ihnen natürlich nicht lange entgangen, wie es um mich stand und für diesmal war ich ihnen dankbar für ihr Eingreifen, obwohl ich am liebsten weiter geritten wäre. Aber ich kam kaum vom Pferd herunter und musste mich am Sattel festhalten. Growyn sah mir prüfend ins Gesicht.
„Du hast ganz rote Augen, Yenda“ sagte Growyn besorgt. „Und du hast Fieber... So kannst du nicht weiter reiten.“
„Es geht schon wieder. Es ist nicht so schlimm.“
Yonann kam zu mir und legte ihre Hände an meinen Kopf. Es mochte vielleicht nur Einbildung sein, aber bei ihrer Berührung ließen die Schmerzen deutlich nach und ich konnte auf einmal wieder durchatmen. Falls sie fühlte, was in mir vorging, so ließ sie sich nichts anmerken, aber ich sah, wie sich ihre Augen verengten und spürte wie ihre Hände bebten.
„Ich brauche heißes Wasser“ sagte Yonann bemüht ruhig. „Für einen Malkorntee, der sollte helfen.“ Die Myrial – was war ihr Name gewesen? Farlyn? brachte schon einen Ölkocher und zündete den Flammenring an, während Rynkan Wasser aufschüttete. Yonann holte ihren Kräuterkasten hervor und bereitete binnen Minuten einen Tee aus einer Mischung von zwei Kräutern. Der Geruch kam mir bekannt vor, es war das gleiche Mittel, was sie mir schon einmal verabreicht hatte, auf unserer Reise zum Rotberg, nur um einiges stärker. Sie gab mir einen Becher davon zu trinken und verwahrte den Rest in einem Lederschlauch. Es dauerte eine Weile, bis ich das viel zu heiße Gebräu herunter bekam und dann stand ich eine mir endlos erscheinende Weile mit geschlossenen Augen an einen Weidenbaum gelehnt, während sich vor meinen Augen rote Kreise drehten und die Gardisten und meine Schwestern taktvoll schweigend um mich herum standen und warteten. Gerade als ich mich fragte, ob ich mich vor ihren Augen übergeben müsste oder es vielleicht doch noch schaffen würde, hinter einen Busch zu wanken, kam Yonann mit einem angefeuchtetem Tuch, das nach irgendeinem Kraut roch, vielleicht Minze, und wischte mir vorsichtig das Gesicht ab. Und plötzlich, wie auf einen Schlag, ging es mir besser. Mein Kopf wurde wieder klar und der Druck in mir ließ nach. Ich spürte die Kopfschmerzen zwar immer noch, aber nur noch wie durch eine dicke Schicht Wolle hindurch. Meine Schwestern und sogar die Myrial, die skeptisch blickend etwas abseits stand, schienen kaum ihren Augen trauen zu wollen, als ich wieder aufstieg und wir weiter reiten konnten.
Yonann blieb neben mir. Ich hatte gesehen, dass sie auch ein wenig von dem Tee getrunken hatte, und griff nach ihrer Hand. Sie lächelte schwach, aber ihre Augen blieben ernst.
„Mach dir keine Sorgen um mich. Ich halt schon durch.“
„Hast du Angst vor heute Abend? Wenn wir die Magier finden?“
Yonann zuckte die Achseln. „Wenn ich nicht weiß, was passieren wird, warum soll ich dann Angst haben? Jetzt haben wir ja auch viel mehr Schutz als vorher. Aber mir bereitet etwas anderes Sorge.“
„Der Traumbruder? Und warum?“
Yonann kniff die Augen zusammen.
„Du wirst, wenn alles gut gehen, heute deine Schwester wieder finden. Das was von ihr geblieben ist. Aber er – ich glaube, er wird sie nie finden können.“
„Warum nicht?“
„Weil er nicht in der wirklichen Welt existiert, sondern nur in der Traumwelt. Deine Schwester hat ihn in ihre Traumwelt aufgenommen, als er getötet wurde. Als die Magier ihren Geist von ihrem Körper trennten, haben sie ihre Traumwelt zerstört und damit auch ihn für immer von ihr getrennt. Das was Aridys für ihn war, ihr Wesen, das was er kannte, das ist für immer verloren.“
„Und wenn sie stirbt – wenn ihr Körper stirbt?“
„Ich fürchte, das wird keinen Unterschied für ihn machen. Er hat mit ihrem Körper nichts zu tun, wahrscheinlich nimmt er ihn gar nicht wahr. Das ist es, was mir Sorgen macht. Er wird immer stärker werden und mit der Zeit immer wahnsinniger in seinem Schmerz. Ich kann jetzt schon spüren, wie stark er ist. Vielleicht kann er irgendwann auch für andere Menschen sichtbar werden und ihnen gefährlich werden.“
Ich dachte unwillkürlich an meinen Traum und mir war, als drückten die kalten Knochenhände des Traumbruders meine Kehle zusammen.
„Und was.. kann vielleicht ein Traummagier etwas ausrichten? Irgendwie muss doch an ihn ranzukommen sein?“
Yonann zuckte hilflos die Schultern. „Ich weiß es nicht. Möglich. Oh Bal, ich wünschte, ich hätte ihn nicht so nah zu uns kommen lassen. Ich wollte ihn nur im Auge behalten. Jetzt ist er mit dir verbunden, und du kannst ihn irgendwann nicht mehr zurückhalten...“
„Du konntest ja nicht wissen, was passiert.“ Tief in mir lehnte sich etwas dagegen auf, wollte ihr die Schuld an allem geben, aber ich unterdrückte das Gefühl mit aller Kraft. „Ich bin auch schuld, ich hab es ja zugelassen – ich hatte vorher solche Angst vor ihm, dass ich dachte, ich könnte es nur so überwinden.“
Yonann schloss die Augen. „Wir müssen ihn beobachten. Wenn ich es rechtzeitig merke, kann ich ihn vielleicht beruhigen, bevor er ausbricht...“
„Wenn ich meine Schwester gefunden habe, kann ich ihn vielleicht besser beherrschen“ sagte ich. „Solange ich sie noch suche – solange diese Suche mich antreibt – kann ich mich nicht auf ihn konzentrieren. Das ist wie – ich hab einmal versucht, gleichzeitig zu reiten und Laute zu spielen, als ich noch klein war. Das hat nicht funktioniert.“
„Warum denn beides gleichzeitig?“
„Weil ich keine Zeit verlieren wollte beim üben. Es war eine ausgesprochen dumme Idee und es ging auch nicht gut aus.“
„Warum, was ist passiert? Bist du vom Pferd gefallen? Hast du dir was gebrochen?“
„Ja, meine Laute, die war danach hin, konnte nicht mehr gerichtet werden. Und ich bekam erst nach einem halben Jahr eine neue.“
Yonann schüttelte den Kopf. „Bist du nicht froh, dass dir nichts passiert ist? Du hättest dich so verletzen können, dass du nie mehr hättest spielen können – das wäre doch viel schlimmer gewesen.“
„Ich weiß. Aber so hab ich damals noch nicht gedacht.“
Meine Schwestern, die vor uns ritten, verhielten nun ihre Pferde etwas, bis wir aufgeschlossen hatten.
„Da vorne ist die Brücke. Wir machen eine Stunde Rast und tränken die Pferde, bevor wir sie überqueren.“ Und bevor ich etwas dagegen sagen konnte, fügte Rynkan hinzu: „Zwei Gardisten reiten voraus und erkunden das Gelände, suchen den besten Weg. So verlieren wir keine Zeit.“
Als die Pferde getränkt und am Flussufer zum grasen angehobbelt waren, und es für alle heißen Milchtee mit Brot und Käse dazu gab, merkte ich, wie gut mir die Pause tat. Am liebsten hätte ich auch noch etwas geübt, aber selbst wenn ich meine Laute bei mir gehabt hätte, wäre es mir unangenehm gewesen, vor der versammelten Truppe und meinen Schwestern zu spielen. So setzte ich mich etwas abseits unter einen Baum und Yonann kam nach einem kurzen Abstecher in das Gebüsch zu mir und legte ihren Kopf in meinen Schoß. Ich war mir nicht sicher, ob sie meditierte oder schlief, aber obwohl ich sonst nicht gerne so lange stillhielt, ließ ich sie diesmal gewähren, weil sie immer noch so erschöpft aussah.
Die meisten anderen Gardisten nutzten die Pause für ein Nickerchen. Meine Schwestern brüteten über ihrer Karte und die Myrial saß alleine etwas abseits und reinigte ihre Armbrust. Sie ignorierte Yonann und mich immer noch geflissentlich und ich konnte nicht erkennen, ob sie uns böse war oder sich für ihr Benehmen schämte. Und es war mir auch egal. Als zwei Kundschafter aus dem Wald hinter dem Fluss auftauchten, stand sie wortlos auf und band ihr Pferd los. Bevor ihr Partner, der mit zwei anderen Gardisten würfelte, seine Sachen zusammen hatte, stand sie schon zum Abmarsch bereit, mit verschlossenem Gesicht. Die beiden ritten über die Brücke und verschwanden im Wald, und die beiden zurückgekehrten Kundschafter ließen sich Milchtee geben und erstatteten meinen Schwestern Bericht. Ihren Gesichtern und Gesten nach zu schließen hatten sie nichts Besonderes vorgefunden.
„Es ist alles sehr ruhig hier“ sagte Rynkan später zu mir, als wir wieder aufgebrochen waren. „Außer den Spuren von den Ylmun und ihrem Karren ist kaum was zu sehen. Sie scheinen nicht viel herum zu kommen. Keine Lagerfeuer, keine Fallen, keine Anstandsposten, nichts. Wenn die Leibwächter der Magier jagen gehen, dann nicht hier.“
„Diese drei Leibwächter, was sind das für Menschen? Ich habe vergessen, die Ylma-an danach zu fragen.“
Rynkan runzelte die Stirn, aber ließ es durchgehen. „Krieger des Schnees, vermutlich Kyakadrin von diesem Stamm der beiden Magier. Eine Frau und zwei Männer. Den Ylma-an erschienen sie sehr gefährlich. Sie meinten auch, die beiden Männer könnten Zwillinge sein. Sie haben noch nie irgendwelche Kyakadrin gesehen und konnten darum nicht sagen, ob sie ylkanisches Blut haben oder nicht.“
„Also fünf Leute und die Familie der Ylma-an und Aridys“ zählte ich auf. Growyn verzog leicht das Gesicht.
„Aridys – die Ylma-an sagten, sie wäre sehr schwach. Dem Tode nahe.“
„Sie lebt noch, das weiß ich.“ Ich versuchte so ruhig wie möglich zu sprechen. „Solange sie noch lebt, wenn ich sie erreiche, ist mir alles andere egal.“
Growyn schwieg nervös. Ich konnte mir in etwa vorstellen, was in ihr vorging. Wir alle in unserer Familie hatten Aridys so über alles geliebt, auch als sie begann sich von uns zu entfernen und abzuschließen. Nicht nur, weil sie mein Leben gerettet hatte und nicht nur, weil sie so schön und liebenswert gewesen war. Meine Brüder hatten sie vergöttert und meine Schwestern hatten ständig versucht auf sie aufzupassen und sie vor allem zu beschützen, wo immer sie konnten, ohne dabei zu erkennen, dass sie sie nicht vor sich selbst bewahren konnten. Für meine Mutter und meine Zwillingsväter war sie ein Schatz gewesen, der ihnen unverhofft geschenkt worden war, und sie war ihnen so kostbar gewesen, dass sie irgendwann nur noch ihre Kostbarkeit sahen und die Augen davor verschlossen, wie es um ihr Inneres bestellt war, welche dunklen Gedanken und Sorgen sie quälten. Sie hatten nie erkannt, wie sehr Aridys sich selbst hasste, und ihr Leben als Lüge und Hohn empfand. Und ich – ich hatte sie immer als selbstverständlich betrachtet, meine eigene Schwester, die mir niemand nehmen konnte und die ich eigentlich schon verloren hatte, bevor der Magier sie mir gewaltsam entriss und es mir dadurch erst bewusst machte. Und da war es zu spät für Reue und Wiedergutmachung. Alles was mir zu tun übrig blieb, war zu verhindern, dass aus meiner Schwester ein Ungeheuer wurde – und bei ihr zu sein, wenn sie im Todeskampf lag und wenn es sein musste, sogar mit ihr zu sterben, so wie es meine Pflicht als ihr Zwilling war. Ich war es ihr schuldig, ob ich es wollte oder nicht.
Am späten Nachmittag, als die Sonne schon nahe der westlichen Bergkette war, hatten wir das Ende des Tales erreicht und folgten einem schmalen gewundenen Weg durch die wie wild verstreuten Felsen, die von Eiben und dichtem Gestrüpp überwuchert waren. Bis auf die voraus laufenden Kundschafter schlossen sich alle Gardisten der Kerntruppe wieder an. Von den Kundschaftern kam in immer kürzer werden Abständen einer zurück, um Bericht zu erstatten. Rynkan schickte schließlich einen zusätzlichen Kundschafter voraus. Der nächste Gardist, der dann zurückkam, winkte uns schon von weitem zu und grinste grimmig.
„Wir haben das Lager gefunden, Myrtarlenel“ sagte er knapp. „Noch ungefähr eine Meile von hier. Nicht mehr viel Deckung für die Pferde.“
„Dann lassen wir die Pferde hier“ entschied Growyn. „Wie viele sind im Lager?“
„Zwei Schneekrieger – die beiden Männer – und die Ylmun und die schwangere Frau. Die anderen konnten wir nicht sehen.“
„Farlyn, Brendan und Orkryn, geht mit ihm und umstellt das Lager. Haltet Ausschau nach der Schneekriegerin, falls sie noch unterwegs ist, damit sie euch nicht überrascht.“
Die drei Gardisten verschwanden beinahe lautlos zwischen den Felsen. Growyn hatte eine geschützte Stelle für die Pferde gefunden. Wir luden die Packpferde ab und stapelten alles unter einen Felsen, dann hobbelten wir die Pferde an und ließen sie zurück – ohne Wachen, da hier kaum mit Pferdedieben oder wilden Tieren, die größer waren als ein Luchs, zu rechnen war. Ich nahm mein Schwert mit, aber entschied mich gegen die Armbrust, sie wäre mir nur hinderlich gewesen. Yonann kramte in ihrem Kräuterkasten und packte mehrere kleine Päckchen in ein Bündel, das sie sich unter das Hemd steckte. Dann brachen wir auf. Meine Schwestern gingen voran, gefolgt von den restlichen Gardisten und Yonann und ich bildeten die Nachhut. Ich sah, dass die Kundschafter hie und da den Weg mit weiß bemalten Lederfetzen auf dem Boden oder an einem Baumstamm markiert hatten, die in der Dämmerung gut zu sehen waren. Rynkan sammelte jeden Fetzen sorgfältig ein. Nachdem die Sonne hinter die Berge gesunken war, wurde es schnell dunkel, nur im Osten leuchteten die Bergspitzen in einem schwachen silbrigen Licht, das immer stärker wurde, bis der Vollmond hinter den Bergen aufstieg. Durch sein Licht schienen die Schatten noch schwärzer zu werden. Es war totenstill um uns, nur von weitem hörte ich hin und wieder einen Eulenruf und das zarte blitzschnelle Flattern von Fledermäusen, die über unsere Köpfe hinweg schossen.
Ein gutes Stück ging es langsam eine Anhöhe hinauf um den Bergfuß herum. Yonann klammerte sich an meine Hand und ich hatte schon Sorge, sie würde nicht mithalten können, aber sie ließ sich sonst nichts anmerken. Dann, als der Pfad vor uns eine scharfe Biegung machte, hielten die Gardisten vor uns an und da merkte ich erst, dass sich einer der Kundschafter, der dort Wache gehalten hatte, wieder zu uns gesellt hatte und sich flüsternd mit meinen Schwestern beriet. Auf einen kurzen leisen Befehl hin hielten sich die Gardisten am Innenrand des Pfades und gingen hintereinander weiter. Yonann ging nun hinter mir, aber hielt weiter meine Hand.
Hinter der Biegung öffnete sich der Pfad und gab den Blick auf eine flache Senke zwischen dem Berghang und den Felsen vor dem gegenüberliegenden Berg frei. In der Mitte der Senke stand ein zweigeteiltes Haus oder besser ein Schuppen, notdürftig aus Brettern und roh zugehauenen Baumstämmen errichtet und einem Dach aus Tierfellen, die über Sparren gespannt und mit Steinen beschwert worden waren. Hinter dem Haus befand sich ein kleiner Pferch für die Ziegen und die beiden Kühe mit einem Unterstand an der Hausrückseite. Am anderen Ende des Zauns stand eine Tränke, die aus einem ausgehöhltem Baumstamm bestand, der als Becken diente, und aus einer primitiv anmutenden, aber zweckmäßigen Rohrleitung gespeist wurde, die das Wasser von einem nahen Bach am anderen Ende der Senke ableitete. Ich konnte all dies erkennen, weil vor dem Haus ein Feuer entzündet war und an der Haustür noch eine zusätzliche große Öllampe hing. An einem Tisch nicht weit von der Feuerstelle saßen die Menschen, die der Kundschafter gesehen hatte, die beiden Ylmun mit Dorans Frau zwischen sich und die beiden Leibwächter des Magierpaares. Die letzteren wirkten auf ersten Blick wie typische Kyakadrin, so wie wir sie kannten nach dem wenigen, was wir von diesem Volk wussten. Sie waren hager und hochgewachsen und ihre sehr dunklen schmalen Augen stachen seltsam gegen das weiße zottelige Haar ab, das unter ihren enganliegenden Lederkappen mit langen Ohrenschützern hervorquoll und ihnen fast bis zu den Oberschenkeln reichte. Gegen die Ylmun, die zwar einfach, aber ordentlich gekleidet waren und deren Haar kurz geschnitten war, so dass es kaum bis unter die Ohren reichte, machten sie einen verwilderten Eindruck. Ihre Kleidung, die fast nur aus Leder gefertigt war – Fellhosen und –Westen mit Waffengürtel und Schnürstiefel – starrte vor Schmutz und sie wollten kaum stillsitzen, sondern rutschten nur unruhig auf ihrer Bank herum, stießen sich an und hieben und trommelten auf den Tisch. Die Ylmun saßen ruhig auf der anderen Seite des Tischs zu beiden Seiten von Dorans Frau, die rundlich und dunkelhaarig war und deren Bauch sich unter ihrem Gewand schon sehr stark vorwölbte. Ein leises Grauen überkam mich, als ich sah, wie sehr die Ylmun tatsächlich meinen Zwillingsvätern ähnelten und ich hoffte inständig, dass es meinen Schwestern nicht auffallen würde. Es war in der Tat, als wäre das Bild von dem Prinzenpaar in unserer Galerie, das ich vor zwei Wochen Yonann gezeigt hatte, lebendig geworden, nur dass den beiden das Lachen wohl gründlich vergangen war, ihrem grimmigen Gesichtsausdruck nach zu schließen. Auf dem Tisch stand schon das Abendessen bereit, aber die fünf schienen noch auf etwas zu warten, vermutlich auf ihre Tanten und die dritte Leibwächterin, vielleicht aber auch auf die Magier und Aridys – wenn diese überhaupt noch in der Lage war, am Abendessen teilzunehmen.
Meine Schwestern, die am Berghang in den Schatten duckten, schienen ähnlich zu denken, denn sie bedeuteten den restlichen Gardisten, die noch bei uns waren, zu den anderen aufzuschließen und das Lager zu umstellen, damit keiner entkommen konnte, wenn sich alle vor dem Haus versammelt hatten. Dann schoben sie sich an den Berghang geschmiegt, langsam im Schatten weiter auf die Senke zu und Yonann und ich folgten ihnen, so gut es ging. Ich versuchte, mir jede kleinste Einzelheit in der Senke anzusehen, um herauszufinden, wo meine Schwester war. Es sah so aus, als müsste sie im Haus sein, aber irgendetwas gefiel mir nicht daran, mein inneres Gefühl, das mich bis hierher geleitet hatte, drängte mich woanders hin, weiter an dem Berg hoch. Ich streckte eine Hand aus, um mich an dem Felsen entlang zu tasten und was ich unter den Fingern fühlte, war kein Felsen sondern Holz. Und da merkte ich, dass das, was ich für einen Felsvorsprung gehalten hatte, Teil einer Art Rampe war, die aus Steinen, Sand und Baumstämmen an der Bergwand errichtet worden war. Wie ein unregelmäßiges Dreieck mit zwei kurzen und einer langen Seite war sie gegen die Felswand gebaut worden, mit einer kurzen Seite am Boden und die zweite steil und senkrecht nach oben ragend, so dass die lange Seite von hoch oben langsam abfallend bis zur Senke führte. Ich sah, dass meine Schwestern die Rampe musterten, die Köpfe in den Nacken gelegt, offenbar konnten sie sich auch keinen Reim drauf machen. Doch als sie sich blitzartig in den Schatten zurück duckten und uns winkten das gleiche zu tun, sah ich, was ihnen zuerst aufgefallen war: ein schwaches Licht, das an der Spitze der Rampe erschienen war, wie von einer Kerze oder Fackel. Dann hörte ich leise Schritte, wie von weit entfernt oder tief aus dem Berg kommend. Etwas bewegte sich an der Spitze der Rampe und drei Gestalten erschienen wie aus dem Nichts und bewegten sich langsam die Rampe herab. Mir wurde klar, dass die Rampe nichts anderes war als eine Treppe um den Zugang zu der Höhle zu erleichtern, deren Eingang sich hoch oben über dem Pfad in der Bergwand befand. Sie war vermutlich von den Ylmun gebaut worden, in langer schwerer Arbeit, aber seit sie hier gefangen waren, hatten sie vermutlich auch viel Zeit und Muße gehabt.
Im Licht der Fackel sah ich, dass die beiden Frauen, die vorneweg gingen, Kias Töchter sein mussten, gleiche Zwillingsschwestern, wie ihre Zwillingsmütter. Die Frau hinter ihnen musste die dritte Leibwächterin sein. Obwohl sie versuchte, sich wie die anderen beiden zu kleiden und zu geben, war ganz offensichtlich, dass sie Ylkanerin war. Ihre Haare waren zu glatt und ihre Augen standen zu weit auseinander in dem flachen Gesicht für eine Kyakadrin. An der Art, wie sie die Schwestern ungeduldig vorwärts drängte und dabei die Schultern anspannte, meinte ich zu erkennen, dass sie sich über irgendetwas ärgerte. Vielleicht aber war sie auch immer so. Mich interessierte das eigentlich nur am Rande und während meine Schwestern die drei Frauen auf ihrem Weg zu dem Haus beobachteten, sah ich zu der Spitze der Rampe hinauf, wo sie aus dem Berg gekommen waren. Dort oben schimmerte immer noch ein schwaches Licht, sie mussten eine Lampe oder eine Fackel im Eingang gelassen haben.
Ich konnte es kaum abwarten, bis die Frauen die Treppe heruntergestiegen waren und zu den anderen gingen. Growyn und Rynkan schoben sich vorsichtig weiter vor, um so nah wie möglich an das Lager zu kommen, damit die anderen Gardisten ihre Zeichen sehen konnten, dabei ließen sie die Gefangenen und ihre Wächter nicht aus den Augen. Ich folgte ihnen bis zum Ende der Treppe, wo sie niedrig genug war, so dass ich seitlich über den Rand steigen konnte, dabei hielt ich Yonanns Hand fest umklammert. Sie protestierte nicht und versuchte auch nicht wie sonst ihre Hand aus meiner zu winden, sondern folgte mir schweigend, zu meiner großen Erleichterung. Ich stieg gebückt auf die rohen, ungeglätteten Holzstufen und half ihr hoch, dann gingen wir vorsichtig die Treppe hoch. Yonann sagte immer noch kein Wort, aber ihr Atem ging keuchend und ihre Hand zitterte in meiner. Vielleicht spürte sie den Aufruhr in mir und die Unruhe des Traumbruders und brachte es nicht über sich, mich alleine gehen zu lassen, so vernünftig es auch gewesen wäre.
Erst als wir schon fast an der Spitze der Rampe waren und ich den Eingang zur Höhle vor mir sah – kaum mehr als eine unregelmäßige, schmale Spalte im Felsen – merkten meine Schwestern, dass wir nicht mehr bei ihnen waren. Ich blickte zurück und sah, dass sie mir versuchten Zeichen zu geben, und dann lief Rynkan geduckt zur Treppe zurück. Da gab ich alle Vorsicht auf und zerrte Yonann hinter mir her zum Eingang. Der Weg durch die Spalte war mit Brettern ausgelegt und dort, wo sich der Gang zu einer Art Vorraum oder breiterem Gang vergrößerte, steckte eine brennende Fackel in einem Steinhaufen. Ich riss sie heraus und hastete mit Yonann den Gang weiter hinunter. So wie es zum Eingang steil bergauf gegangen war, ging es nun bergab, tief in das Innere des Berges hinein. Die Bretter knarrten und ächzten unter unseren Schritten und das Geräusch hallte von den Felswänden wider. Schließlich schien der Weg wieder eben zu werden und dann kamen wir zu einem unterirdischen Fluss oder schmalen langgezogenen See. Der mit Brettern ausgelegte Pfad führte zu einer behelfsmäßigen Brücke aus Balken, Steinen und noch mehr Brettern. Sie wirkte nicht besonders vertrauenerweckend und ich zögerte für einen Moment. Yonann neben mir atmete tief und keuchend.
„Yenda, das da...“ sie schnappte nach Luft, völlig aus der Puste.
„Was? Was ist damit?“
„.. Da ist etwas… eine Grenze. Ein Übergang… Ich kann es fühlen... aber ich weiß nicht... was es ist.“
„Von den Magiern?“
Sie zuckte die Achseln. Dann hörten wir hinter uns Geräusche wie von Schritten auf den knarrenden Brettern, und als ich unwillkürlich zusammenzuckte und die Fackel schwenkte, hörte ich einen schwachen Ruf, hundertfach verzerrt durch das Echo: „Yeeenndaaa …“
Rynkan, oder vielleicht auch beide von meinen Schwestern, die mir gefolgt waren. Mehr brauchte es nicht, ich wandte mich wieder um und betrat entschlossen auf die Brücke. Yonann folgte mir nach ohne zu zögern und ich hätte sie am liebsten abgeküsst dafür, wenn nur Zeit gewesen wäre. Die Brücke war stabiler, als sie aussah, zwar quietschten und knarrten die Bretter hier noch mehr als vorher und federten und schwankten unangenehm unter meinen Füßen, aber sonst geschah nichts. Hinter uns die Schritte kamen näher, es klang als würden meine Schwestern den Pfad herunter gerannt kommen, womöglich auch ohne Licht, falls sie keins bei sich gehabt hatten. Wir erreichten das Ende der Brücke und damit das Ende der Bretter. Der Boden dahinter war reiner, relativ glatter Felsboden, ausgewaschen von unterirdischen Strömen über Millionen von Jahren. Und in dem Moment, als ich von der Brücke herunter den Felsboden betrat, verstummte das Geräusch der Schritte hinter uns und die Stille verschluckte uns. Es war, als würden wir in einen geräuschlosen Raum eintauchen, in dem nichts mehr zu hören war, außer unseren eigenen Geräuschen, die aber dafür um ein vielfaches verstärkt. Ich konnte neben Yonanns Atem auch ihr Herz wummern hören und spürte meinen eigenen Herzschlag beinahe schmerzhaft in meinen Ohren. Von unseren Verfolgern war nichts mehr zu hören oder zu sehen und ich hoffte inständig, dass sie vor der Brücke auf uns warten oder umkehren würden. Yonann ging noch ein paar Schritte mit mir, dann blieb sie stehen, und ich sah, dass sie die Augen fest zusammen gekniffen hatte und ganz weiß im Gesicht geworden war.
„Was hast du, ist dir nicht gut?“
Sie schüttelte nur den Kopf und umklammerte meine Hand. Ich legte den Arm um ihre Schultern und zog sie näher an mich heran.
„Es ist genau wie… wie im Rotberg. Dasselbe Gefühl. Aber das bedeutet doch, dass hier auch Dämonengebiet ist? Gibt es hier auch einen Jenseitigen?“
„Vielleicht haben die Magier einen beschworen. Oder sie versuchen immer noch, einen zu sich zu rufen. Kannst du weitergehen?“
Yonann presste die Lippen zusammen und nickte. Ich behielt meinen Arm um sie und wir gingen langsam weiter. Der Gang sah anders aus als im Rotberg, viel weiter und höher und in den Rinnen und Becken am Boden hatten sich überall merkwürdige Formen aus den Ablagerungen des Tropfwassers gebildet. Auch die Luft war anders, nicht so trocken und kühl wie im Rotberg, sondern klamm und mit einem merkwürdigen dumpfen Geschmack darin wie von…
„Salz? Ist das Salz in der Luft?“
„Wir sind doch hier ganz nah an der Küste, oder? Vielleicht ist hier eine Bucht und das Meerwasser dringt unterirdisch bis hierhin vor.“
Die Höhle war so groß, dass ich keine Wände, geschweige denn die Decke sehen konnte. Aber hie und da hatte jemand Markierungen hinterlassen, denen wir folgten, wie Pfeile, geformt aus losen Steinen und Felsbrocken oder pyramidenförmige Haufen. Bei einem großen Tropfstein fanden wir eine Kiste mit neuen Fackeln und Öllampen, sowie Ölkrüge zum nachfüllen darin. Meine Fackel war kaum zu einem Viertel abgebrannt, aber Yonann nahm sich eine Öllampe mit.
Genau wie im Rotberg ging uns jedes Zeitgefühl allmählich verloren. Nach einer guten Weile und immer neuen Markierungen an den Tropfsteinen und auf dem Boden wusste ich nicht mehr, wie lange wir schon durch die Höhle gewandert waren. Irgendwann merkte ich, dass die im Licht der Fackel tanzenden Schatten um uns immer dichter wurden und alles vor meinen Augen verschwamm. Die Stille in meinen Ohren summte und dröhnte in einem Rhythmus, der mir eigenartig vertraut war… und dann war es Yonann, die mich festhielt anstatt umgekehrt. Die Fackel war mir runtergefallen und qualmte am Boden. Der Rauch stach mir in die Nase und mein Kopf klärte sich wieder etwas. Doch das Summen blieb, und ich sah an Yonanns Gesichtsausdruck, dass sie es auch wiedererkannte.
„Die Magier…“ flüsterte sie. „Der Beschwörungsgesang, wie bei deiner Traumreise.“
Ich bückte mich nach der Fackel.
„Ist dies hier auch eine Traumwelt? Oder kommt es mir nur so vor?“
Yonann sah ratlos drein.
„Vielleicht eine Art Zwischenwelt. Ein Raum zwischen den Welten, ein Grenzland? Anders kann ich es mir nicht erklären. Yenda, was ist mit dem Traumbruder? Ich kann ihn nicht mehr fühlen!“
Ich schloss die Augen und tastete mich in meinem Kopf vor. Der Traumbruder war da, aber sehr still, beinahe wie Nebel in der Morgensonne, als ob er sich jeden Moment auflösen wollte. Ich hatte eher erwartet, dass er sich in dieser Zwischenwelt, wie Yonann es nannte, stärker bemerkbar machen würde. Vielleicht war er uns schon voraus und nur noch ein Rest von ihm verblieb in mir, wie eine schwache Verankerung, während seine eigentliche Substanz von dem Beschwörungsgesang angezogen wurde wie von einer Strömung…
„Wir dürfen ihn nicht verlieren!“ drängte Yonann und wir gingen weiter. Nach einer Weile wurde der Gesang stärker und dann sahen wir weit vor uns ein schwaches Licht flimmern. Die Höhle schien sich hier zu verengen, und als wir an einem großen Felsbrocken vorbeigingen, der uns den Weg versperrte, sahen wir vor uns eine enge Spalte, kaum breit genug, dass wir nebeneinander hindurchgehen konnten. Der Raum dahinter war hell erleuchtet, von mehreren Lampen, die auf Felsvorsprüngen standen oder an den Tropfsteingebilden befestigt waren, und Fackeln, die im Boden steckten. Für einen Moment glaubte ich mich zurück in meine Traumreise versetzt, als ich meine Schwester und die beiden Magier in der Höhle fand. Es war tatsächlich kein Traum gewesen – die Höhle sah genauso aus wie die, in der ich in meiner Traumreise gewesen war. Und wie damals lag Aridys auf einem flachen Felsen, keine zehn Schritte von mir entfernt, reglos auf dem Rücken, mit auf dem Bauch gefalteten Händen. Die beiden Magier in ihren grauen Roben saßen zu ihren Füßen einander gegenüber und hielten sich an den Händen, während sie ihre Beschwörungen sangen. Mir war, als ob mich eine unsichtbare Kraft am ganzen Körper lähmte und die Kehle zuschnürte, bis ich kaum noch Luft bekam. Die Fackel fiel mir aus der Hand und ohne Yonann an meiner Seite wäre ich auch zu Boden gesunken. Sie stützte mich und legte eine kühle Hand in meinen Nacken und die Lähmung wich wieder von mir. Ich sah zu den Magiern hinüber und wollte es kaum glauben, aber sie hatten uns noch nicht bemerkt, obwohl wir uns bereits in ihrem vollen Gesichtsfeld befanden. Und dann wurden mir die Magier auf einmal völlig gleichgültig. Ich sah nur noch meine Schwester und als ich mich wieder bewegen konnte, ballte ich die Fäuste und ging langsam zu ihr hin.
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